»Was mein Fotoapparat nicht festhalten konnte, hielt mein Herz fest«

Mein Herz schlägt für die Berge

Buchbesprechung von Holger Deilke


Mein Herz schlägt für die BergeHalil, der Unermüdliche, der immer weiter will und dem keine Anstrengung zu groß ist. Schon damals – und auch jetzt, in der Erinnerung – konnte ich es kaum fassen: Wenn wir schon völlig erschöpft von unseren Märschen durch Metîna und Heftanîn endlich eine Pause herbeisehnten, ist er nochmal die ganze Kolonne an uns vorbeigegangen, um mit diesem Licht jetzt noch ein Foto von vorne zu machen. Um sich dann zurückfallen zu lassen, um nochmal von hinten, und dann nochmal weiter vorn, weil der seitliche Blick jetzt …

Dankenswerterweise hat ein Übersetzerinnen- und Lektoratsteam Texte von Halil ausgewählt, ins Deutsche übertragen und so der interessierten Leserschaft zugänglich gemacht. Wir stoßen so auf einen sehr intensiven, nachdenklichen und emotionalen Menschen. Halil hat sich den Namen »Dağ« (Berg) gegeben. Duran Kalkan (Mitbegründer der PKK und aktuell Mitglied des Exekutivkomitees der PKK) schreibt in seinem Vorwort zu dem Buch, dass Halil Dağ »… selbst schmal gebaut war, aber ein Herz groß wie ein Berg hatte«.

Halil stellt sich andauernd Fragen und formuliert Überlegungen, die beim Lesen stutzig machen und innehalten lassen. Gegen Ende des Buches fragt er sich beispielsweise: »Warum schreibe ich all diese Texte? Ich würde sterben, wenn ich nicht schriebe. … indem ich aufschreibe, überwinde ich eigentlich alles«. Es sind so viele prägnante Sätze und Absätze in dem Buch, die intensiv zum Nachdenken und Nachfühlen anregen.

Halil Uysal wurde 1973 als Sohn eines türkischen Vaters und einer kurdischen Mutter in Deutschland geboren und lebte mit seiner Familie in Izmir und Deutschland. Danach zog er wieder nach Deutschland und gehörte zu den Mitbegründer:innen des ersten kurdischen Fernsehsenders MED TV. Während eines als kurzer Besuch geplanten Aufenthalts in Syriens Hauptstadt Damaskus für Dreharbeiten in der Parteischule der PKK im Jahr 1995 beschloss er, sein altes Leben hinter sich zu lassen, dort zu bleiben und sich der Guerilla anzuschließen.

So entwickelte er sich vom Neuling bis zum Erfinder des kurdischen Guerilla-Kinofilms. Er konnte und wollte die Erfahrungen der (auch kurdischen) Filmindustrie nicht zur Grundlage nehmen: Sie muss für den Markt produzieren, Erfolge (und Geld) generieren und kann so niemals die Realität der Kämpfe und die Nähe mit den Menschen erreichen. Er sagt u.a. dazu: »… wenn wir es uns zum Ziel gesetzt haben, als Künstler*innen eines Volks, das einen Guerillakampf führt, Kunst und Kino zu erschaffen, dann müssen wir unser eigenes Leben hinterfragen.« Und dass das Geheimnis des kurdischen Kinos im Märchen verborgen liegt. Und in den Liedern. Und in den Bergen. Und in der Liebe. Und in den Herzen. Der Weg zur Freiheit ist der genossenschaftlich gegangene, eigene Weg.

»Für mich gibt es drei wichtige Dinge, die meinem Leben Bedeutung schenken. Mein ganzes Leben lang habe ich mich darum bemüht, keines dieser drei Dinge für ein anderes zu opfern.« (Kampf – Kunst – Liebe) »Diese drei Dinge haben Halil Dağ erschaffen, indem sie in Widerspruch zueinander getreten sind, miteinander gekämpft und einander genährt haben. Ich habe viel Schmerz erlitten, um alle drei beisammen zu halten. Das hat mich oft mitgenommen, aber ich bin sehr glücklich geworden.«

Halil wollte mit einer Guerillaeinheit zum Berg Ararat, um dort ein weiteres Filmprojekt zu verwirklichen. Er erreichte den Ararat nicht mehr: Am 1. April 2008 kam er in einem Hinterhalt der türkischen Armee in Besta in der Provinz Şirnex ums Leben.

Halil Uysal (Dağ): Ich gehöre zu den Bergen (Ausgewählte Texte); Herausgeber: Weșanen Meyman, 1. Auflage Januar 2023, ISBN: 9789083248691


 Kurdistan Report 227 | Mai/Juni 2023