Jineolojî – die Wissenschaft der Frau

Alle Möglichkeiten sind willkommen!

Zilan Diyar, Mitglied der Jineolojî-Akademie


jin jiyan azadiDas Schwierige zu erreichen ...
… ist die Motivation der kurdischen Freiheitsbewegung. Jeder Moment, in dem wir uns lebendig fühlen, spiegelt diese Motivation wieder. Unser Kampf ist ein stetiger Fluss, der voranschreitet, und sich durch materielle Unmöglichkeiten, ein noch unklares Bewusstsein oder der Brutalität unserer Feinde nicht aufhalten lässt.

Der Ausdruck »sich aus der Asche erschaffen« passt am besten auf das kurdische Volk. Die Schmerzen, die Freuden, die Wut und der Widerstand, die wir im letzten halben Jahrhundert erlebt haben, berichten mir davon. Keine unserer Errungenschaften ist durch einfache und gewöhnliche Anstrengungen zustande gekommen. Unsere Existenz, sowie ihr Wandel und ihre Veränderung, die wir bewirkt haben, erzählen immer wieder von dieser Geschichte. Wenn jemand die Geschichte der kurdischen Freiheitsbewegung analysieren möchte, wird er oder sie diese unbestreitbare Wahrheit sehen. Meine Absicht ist es nicht, diese Geschichte zu erzählen. Meine Absicht ist es, über die Jineolojî zu schreiben.

Die Bedingungen, unter denen die Jineolojî entstanden ist, ähneln und unterscheiden sich zugleich von den Bedingungen, unter denen der kurdische Freiheitskampf seinen Anfang genommen hat. Beginnen wir mit den Gemeinsamkeiten: Als die Kurd:innen ihren Freiheitskampf begannen, waren sie ein Volk, dessen Existenz noch nicht anerkannt war. Als die Jineolojî im Jahr 2008 auf Vorschlag von Abdullah Öcalan entstand, waren die Bedingungen ähnlich. Die Voraussetzungen für die Bildung einer neuen Wissenschaft im Bereich der Sozialwissenschaften waren unter der Hegemonie der eurozentrischen Geisteshaltung so gut wie nicht existent. Selbst die Möglichkeiten für eine Veränderung der Parameter der hegemonialen Wissenschaft waren so gering, dass wir eigentlich gar nicht von der Einführung einer »Wissenschaft der Frau« reden brauchen. Die Wissenschaft wurde nicht im Dienste der Gesellschaft betrieben, sie sollte die Macht und die männliche Vorherrschaft legitimieren. Dies war eine Falle, in die jedes Bestreben im Namen des freien Denkens und des Alternativseins tappte. Sie reproduzierten vorherrschende Wissensstrukturen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Die Jineolojî verfolgt den Anspruch, genau dies zu durchbrechen.

Die verzerrten »Wahrheiten« der Herrschenden korrigieren

Mit ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit stand die Jineolojî zunächst einmal vor der Herausforderung, die verzerrten »Wahrheiten« der Herrschenden zu korrigieren. Sie musste mutig vortragen, weshalb das hegemoniale Wissenschaftsverständnis der Definition von Wissenschaft und ihrer Methoden, den sozialen Kämpfen und vor allem dem Kampf um die Befreiung der Frauen, Schaden zugefügt hatten. Die Realisierung des Vorschlags von Öcalan, einen Bogen vom revolutionären Kampf zur Sozialwissenschaft zu spannen, war kein einfaches Unterfangen. Das wurde uns beim Aufbau der Jineolojî eindeutig klar. Es entstand geradezu ein riskantes Duell, in welchem die Denkstrukturen des revolutionären Kampfes mit der Welt der Sozialwissenschaften aufeinanderstießen. Heute, nach einem knapp 15-jährigen Abenteuer auf diesem Feld, können wir sagen, dass wir diese Hürde genommen haben. Doch wie ist uns das gelungen? In dieser Frage unterscheidet sich die Geschichte der Jineolojî von derjenigen der kurdischen Freiheitsbewegung. Denn sie hatte ein Fundament, auf dem sie aufbauen konnte.

Während Jineolojî die Welt der Sozialwissenschaften herausforderte, war der Freiheitskampf der kurdischen Frauen über ein halbes Jahrhundert hinweg ihre wichtigste Grundlage. Mit anderen Worten, der Boden, auf dem die Jineolojî sich gründete, hatte die Eigenschaft, dass jede Analyse in der Praxis verifiziert und jedes aufgedeckte Wissen im eigenen Handeln erlernt wurde. Ihren wissenschaftlichen Anspruch konnte sie durch den gesellschaftlichen Wandel, den der Frauenfreiheitskampf bewirkt hatte, unter Beweis stellen. Sie stellte gekonnt das Wissenschaftsverständnis, welches das Wissen über Gefühle, Emotionen und Ethik verleugnete, in Frage. Da ich die Jineolojî seit 2013 aus nächster Nähe miterlebt und mitgestaltet habe, ist das, wovon ich berichte, keine Übertreibung. Im Gegenteil, die Jineolojî folgt nicht nur weiterhin ihrem Anspruch und ihrer Perspektive, sie hat auch große Schritte auf diesem Weg hinter sich gelassen.

»Jin, Jiyan, Azadî«

Ein weiterer Faktor, der den wissenschaftlichen Anspruch der Jineolojî untermauert, verbirgt sich in der Feststellung, dass »jede Wissenschaft den Geist der Zeit widerspiegelt«. Die Zeit webt die Bedingungen für die Revolution der Frauen. Nicht nur in Kurdistan, sondern in allen sozialen Kämpfen auf der Welt (Widerstand gegen den Faschismus, Umweltbewegungen, Kämpfe der indigenen Völker usw.) sind die Führung und die Präsenz der Frauen nicht zu verleugnen. Aus diesem Grund hat sich der Slogan »Jin, Jiyan, Azadî« (Frau, Leben, Freiheit), an den sich jede und jeder, die bzw. der Freiheit braucht, wie an eine Zauberformel klammert, in Wellen über die ganze Welt verbreitet.

Das Transformationspotential dieses Slogans und die Inhalte, die er für den Frauenbefreiungskampf bereithält, sind uns kurdischen Frauen seit Jahren bekannt. Die Tatsache jedoch, dass Frauen, die in verschiedenen Regionen der Welt leben, dies verstehen, erhöht unsere Widerstandskraft in unseren gemeinsamen Kämpfen. Wenn ich nämlich an den unermüdlichen Kampf und den Preis denke, der für diese Losung gezahlt wurde, wird mir klar, dass die Bemühungen der systemischen Kräfte, sie ihres Wesens zu berauben, keine Entsprechung haben werden. Es ist notwendig, sich der Verbreitung der Losung nicht zögerlich zu nähern, sondern vielmehr das starke Potenzial zu nutzen, das sie zugunsten der Freiheit enthält. Da die kurdischen Frauen die Schöpferinnen großer Errungenschaften sind, die die Quelle des Freiheitsanspruchs nicht nur eines Volkes, sondern aller Frauen der Welt repräsentieren, ist es notwendig, keine Angst vor diesem Wind zu haben. Im Gegenteil, wir sollten unsere Haare in diesem Wind wehen und unsere Körper mit ihm schwingen lassen. Das bedeutet, wir sollten uns dieses historischen Moments bewusst werden und uns nach seinen Erfordernissen organisieren, Strukturen erschaffen sowie neue Institutionen und Werkzeuge entwickeln. Es widerspricht der Freiheit, Angst vor der Entwicklung zu haben und Barrieren im Fluss zu errichten. Daher ist es notwendig, sowohl die Last als auch den Stolz dieses Slogans, der sich auf der ganzen Welt verbreitet hat, in uns zu vereinen. Jineolojî kann eine wegweisende und bahnbrechende Rolle für die kurdische Frauenbewegung spielen, um diese historische Mission zu erfüllen.

Denn die Studien, welche die Jineolojî seit 2008 verfolgt, und die Ergebnisse, die sie erzielt hat, zeigen, dass ein solches Potenzial vorhanden ist. Ich muss noch einmal betonen, dass fünfzehn Jahre ein sehr kurzer Zeitraum sind. In dieser kurzen Zeit hat die Jineolojî bedeutende Fortschritte erzielt. Sie hat dafür gesorgt, dass die Notwendigkeit nach einer Wissenschaft der Frau in der Gesellschaft ihren Platz gefunden hat. Um dieses Bewusstsein zu erschaffen, haben wir intern Schulungen und Workshops für alle Strukturen, die Teil des Frauenkonföderalismus sind (Rätestrukturen, Fraueninstitutionen, politische Parteien und verschiedene Organisationen der kurdischen Gesellschaft) organisiert und durchgeführt. Nach außen ist es uns zudem gelungen, das Interesse, das sich für die Revolution von Rojava entwickelt hat, über eine oberflächliche Annäherung hinauszuführen. Durch Hunderte von Seminaren, Konferenzen, Schulungen und Camps, die intensiv in Europa, im Nahen Osten, in Abya Yala (wie Lateinamerika vor der Einführung des Kolonialismus genannt wurde) und teilweise in anderen Teilen der Welt organisiert wurden, gelang es uns, die Frage zu beantworten, warum eine Wissenschaft aus der Perspektive der Frau so dringend notwendig ist. So spielte die Jineolojî eine wichtige Rolle für den Aufbau des Frauenkonföderalismus, für die inhaltliche Stärkung dieser alternativen Organisation und für die Überwindung der methodischen Blockaden, mit denen die Frauenbefreiungsbewegung konfrontiert war.

Gleichzeitig ist die Jineolojî ein wichtiger Faktor dafür, dass die von der kurdischen Frauenbewegung geschaffenen Beziehungen über temporäre Allianzen und ­Solidaritätsbekundungen hinausgetragen werden konnten. Die Jineolojî führt dazu, dass die Bewegungen, die in der Welt einen Kampf für die Freiheit führen, über eine wissenschaftliche, philosophische und ideologische Quelle verfügen. Sie kämpft darum, die Blockade in der Mentalität dieser Bewegungen zu überwinden. Ich sage »kämpft«, weil die eurozentrische, hegemoniale und etatistische Denkweise und ihre positivistischen Methoden in die Mentalität der alternativen Bewegungen eingedrungen sind. Dies ist ein Problem, mit dem sich nicht nur alternative Bewegungen, sondern auch die kurdische Frauenbefreiungsbewegung auseinandersetzen muss. Dies erfordert einen langfristigen Kampf gegen eurozentrische und patriarchale Epistemologien.

»Wir wollen etwas Neues schaffen«

Der Kampf um die Mentalitäten ist im Gange – er ist genauso wichtig wie der physische Widerstand der Kurd:innen – die Ergebnisse, zu denen er geführt hat, sind spannend und kündigen bereits die enormen Entwicklungen an, die voll sichtbar werden, wenn dieser Kampf gewonnen ist! Diese Aufregung habe ich in der Praxis, den Diskussionen und Workshops gespürt, die wir mit den kurdischen Organisationen durchgeführt haben. Auch in unseren Begegnungen mit Frauen aus verschiedenen Völkern habe ich die Seite der Jineolojî gesehen, die das Leben der Frauen berührt, ja sogar auf den Kopf stellt, wie sie selbst sagen. Mit anderen Worten, es ist verständlich, dass nach der Begegnung mit der Jineolojî das bisherige Leben der Frauen aus den Fugen gerät. Denn wir akzeptieren diese alte Lebensweise nicht mehr. Wir wollen etwas Neues schaffen. Viele Frauen, die mit dieser Idee in Berührung kommen, setzen sich dann mit ganzem Herzen dafür ein. Ich kenne Dutzende solcher Beispiele und bin stolz darauf.

Und sind wir die Einzigen, die diese Entwicklungen sehen? Das System sieht sie auch und hat Angst. Die Jineolojî hat die Hindernisse, die ihr auf dem Gebiet des Denkens in den Weg gelegt wurden, überwunden, indem sie sich auf die Legitimität ihres Kampfes gestützt hat. Sie hat die ideologischen und intellektuellen Vorurteile gegenüber dem Kampf der kurdischen Frauen, geduldig abgebaut. Sie hat die bewussten Versuche der akademischen Welt, die Arbeiten der Jineolojî ins Leere laufen zu lassen, vereitelt und deren Absichten entlarvt. Das hat sie trotz mangelnder Unterstützung und begrenzter Möglichkeiten geschafft, denn die Jineolojî ist die Vorkämpferin der Wahrheit. Diese Auseinandersetzung hat der Jineolojî geholfen, ihre theoretischen Grundlagen und Methoden weiterzuentwickeln und ihre Forschung zu vertiefen.

Aber es gibt auch den physischen Aspekt dieser Angriffe. Wie zum Beispiel die Ermordung unserer Genossin Nagihan Akarsel am 3. Oktober 2022, die den Beitrag der Jineolojî zur Frauenrevolution erkannte und auf diesem Weg voller Liebe vorangeschritten ist. Die Tatsache, dass der Mordanschlag gegen sie von Ankara aus geplant wurde, zeigt, wie sehr die Systemkräfte diese Entwicklung fürchten. Der Mordanschlag verdeutlichte uns aber auch, dass wir unsere Bemühungen intensivieren und unsere Wissenschaft auf der ganzen Welt verbreiten müssen. In einem fernen Winkel der Welt, einem abgelegenen Ort in Kolumbien, einer Gruppe von Frauen, die nicht die Mittel haben, sich zu wehren, von unseren Erfahrungen zu erzählen und ihre Begeisterung zu erleben – das ist der Wert, für den wir diesen Kampf führen. Mitzuerleben, wie eine Frau sich entwickelt, wie sie mit dem System bricht und wie sie ihren eigenen Weg geht – das ist die Verantwortung der Jineolojî.

Wir sind uns bewusst, dass dieser Weg kein einfacher ist. Wir sehen auch die ruhelosen Blicke der dunklen, feigen, hässlichen und mörderischen Männlichkeit. Wir sehen auch diejenigen, die denken, dass sie uns mit Mordanschlägen von diesem Weg abbringen werden. Diejenigen, die nicht verstehen, dass wir uns vermehren, während wir sterben. Wir sehen die Regungen derer, die nicht wissen, dass Tod und Leben in unserer Philosophie nicht getrennt sind.

Aus unserer Sicht sind alle Möglichkeiten willkommen. Wir fürchten sie nicht. Dies sei mein erstes und letztes Wort an jene Kräfte, welche uns daran hindern wollen, diesen Weg zu gehen.

Unsere Rache wird die Revolution der Frauen sein!


 Kurdistan Report 227 | Mai/Juni 2023