Hanau und die Kraft des Erinnerns

»Wir vergessen nicht – wir vergeben nicht«

Alberto Colin Huizar


Gedenken an die Opfer des Anschlags in HanauAm 19. Februar versammelten sich Dutzende von antifaschistischen Aktivist:innen, Familienkollektiven und linken Organisationen unter der Friedensbrücke in Frankfurt/Oder, Deutschland, um des dritten Jahrestages des Massakers in Hanau zu gedenken. Auf dieser Brücke befindet sich ein Wandgemälde mit den Gesichtern und Namen der neun getöteten Menschen: Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nessar El Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu und Vili Viorel Păun. Ein Begleitspruch zu diesem Wandbild lautet: Rassismus tötet. Dieses Ereignis, das einen starken Einfluss auf die deutsche Gesellschaft hatte, zeigt die historische Kontinuität der rassistischen Gewalt in diesem Land.

Der Anschlag wurde kaltblütig von einem Schützen verübt, der von der deutschen Regierung als »Neonazi« identifiziert wurde. In zwei Bars in der Stadt Hanau schoss er direkt auf einige Menschen, insbesondere auf solche, die nicht weiß bzw. nicht als weiß klassifiziert waren. Nach den Morden kehrte er in seine Wohnung zurück, wo er seine Mutter tötete und anschließend Selbstmord beging. Die gerichtliche Untersuchung ergab, dass es sich um eine rassistische und fremdenfeindliche Einzeltat handelte, da der Täter in einem Brief seinen Wunsch äußerte, eine bestimmte »ausländische« Bevölkerung im Rahmen eines angeblichen Verschwörungsplans, der eindeutig von rechtsextremen Ideologien inspiriert war, »auszurotten«. Wie in solchen Fällen üblich, pathologisierten die deutschen Behörden die Gewalttaten des Angreifers, um seine Tat zu individualisieren und zu entpolitisieren und um zu verhindern, dass die gesellschaftliche Forderung nach Gerechtigkeit weitergeht. Der Mörder starb und der Fall wurde abgeschlossen. Straflosigkeit war garantiert.

Dieses Ereignis hat jedoch die Debatte über Intoleranz und (strukturellen) Rassismus angeheizt, die die gesamte deutsche Gesellschaft und ihre Institutionen, einschließlich Polizei und Justiz, durchdringen. Die Familien der neun Opfer organisierten sich von Anfang an in einem Kollektiv, der Initiative 19. Februar. Von diesem politischen Raum aus bewerteten sie als Angehörige der Opfer die Reaktion der örtlichen Polizei, die Gutachten und die Ermittlungen selbst. Sie fanden schnell heraus, dass die Notrufzentrale am Tag des Anschlags die Anrufe nach den ersten Schüssen ignorierte und dass die Polizei trotz der Häufigkeit und Dringlichkeit der Anrufe erst lange nach dem Anschlag eintraf.

In ihrer eigenen Untersuchung wiesen sie auch darauf hin, dass die Bars, in denen die Angriffe stattfanden, entgegen den örtlichen Vorschriften, über geschlossene Notausgänge verfügten. Diese Türen müssen für Gefahrensituationen stets geöffnet bleiben. Die Notausgänge waren zum Zeitpunkt des Angriffs blockiert und niemand konnte durch sie entkommen. Dies war kein Zufall. Die Familienmitglieder fanden heraus, dass es eine Art informelle Vereinbarung zwischen der örtlichen Polizei und den Barbesitzer:innen gibt, diese Türen geschlossen zu halten, damit die Menschen bei Polizeirazzien nicht fliehen können. Das trifft insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund, die für die Polizei »verdächtig« sind, nur weil sie eine andere Hautfarbe haben.

Diese Elemente formten ein kritisches Narrativ über die Beteiligung des Staates, die Wahrheit zu verbergen. So versuchten die Behörden beispielsweise, die organisierten faschistischen Gruppen und ihre Zusammenarbeit mit der Polizei und den Richter:innen zu vertuschen, was erst einige Zeit nach der Lobbyarbeit linker Gruppen öffentlich wurde. Die Medien versuchten, die Schwere des Ereignisses herunterzuspielen, was aber nicht gelang. Die Zivilgesellschaft diskutierte eingehend über Fragen von Rassismus und der Intoleranz in einem Land, das seit mehreren Jahrzehnten Menschen aus verschiedenen Völkern des Nahen/Mittleren Ostens und Afrikas aufnimmt. Einige Universitäten förderten ihrerseits neue Forschungsarbeiten über den rassistischen Charakter der Durchsetzung des Rechts und das soziokulturelle Profil der Mitglieder der deutschen Polizei und ihre Beziehungen zu faschistischen Gruppen.

In diesem dritten Jahr des Gedenkens an das Hanauer Massaker waren die Angehörigen der Opfer der Initiative vom 19. Februar sehr deutlich: Rassistische Gewalt ist ein strukturelles Problem, denn »Rassismus steckt im ganzen System, verkleidet als Polizei und Richter«, wie eine Mutter einer Familie in ihrer Rede vor etwas mehr als zweitausend Menschen erklärte, die sich auf dem zentralen Platz von Hanau zu einem Marsch durch die Straßen der Stadt versammelten. Am Tag zuvor fanden in mindestens zehn deutschen Städten Demonstrationen statt, an denen sich in vielen Fällen antifaschistische Jugend- und Student:innenorganisationen sowie verschiedene in Deutschland lebende ethnische Minderheiten beteiligten, darunter türkische und kurdische linke Organisationen. In Frankfurt zum Beispiel fand am Morgen eine Gedenkfeier für die Opfer am Mahnmal statt, gefolgt von einem Marsch durch das Finanzzentrum der Stadt zur Alten Oper.

Für die Aktivist:innen, mit denen ich sprechen konnte, hat die Mobilisierung zur Erinnerung an das Massaker in Hanau zwei Bedeutungen. Erstens finden in der Regel einen Tag vor dem 19. Februar Demonstrationen statt, die durch eine direkte Konfrontation mit dem Staat gekennzeichnet sind, um seine Gewalt aufzuzeigen, Gerechtigkeit zu fordern, Wut und Zorn über die Straffreiheit auszudrücken, die der Staat als Norm etablieren will. So gingen in diesem Jahr Hunderte von Menschen in Frankfurt auf die Straße, riefen Parolen, warfen Farbe auf das Gebäude der Staatsanwaltschaft und stellten sich der Polizei. Am Tag des Gedenkens an das Massaker gehen die Menschen auf die Straße, um zu demonstrieren, aber vor allem, um die Familien zu begleiten, sich zu umarmen und Transparente mit den Gesichtern und Namen der Opfer zu tragen. Es herrscht eine Atmosphäre der Trauer und des Schmerzes. Während des Marsches werden Schweigeminuten zum Gedenken eingelegt.

Sicherlich ist die Zahl der Teilnehmer:innen an dieser Art von Veranstaltung zurückgegangen. Im Jahr 2022 war die Zahl doppelt so hoch, der Platz war überfüllt, und der Marsch war viel größer. Es scheint, dass das Vergessen den Kampf in einem Land gewinnt, in dem mehr über den Krieg zwischen Russland und der Ukraine als über den Völkermord am kurdischen Volk gesprochen wird, in dem Deutschland mit seiner Unterstützung für den türkischen Staat eine wichtige Rolle spielt. Dieser Aspekt ist kein Zufall. Einige der Opfer in Hanau waren Nachkommen kurdischer Einwander:innen, einer der am meisten stigmatisierten Bevölkerungsgruppen in Deutschland. Seit Jahrzehnten ist die kurdische Diaspora in jeder Stadt, in der Familien leben, die sich für die Befreiungsbewegung einsetzen, politisch organisiert. Die Gemeinschaft kurdischer Herkunft gruppiert sich um verschiedene Bürger:innenräte und politische Vereinigungen, die mit der Arbeiter:innenpartei Kurdistans (PKK), einer vom deutschen Staat als terroristisch eingestuften Organisation, verbündet sind. Von diesen Orten aus haben sie versucht, sich der Gewalt und der systematischen Verfolgung zu widersetzen.

In gewisser Weise ist die Tatsache, dass sie zur Zielscheibe wurden, kein Einzelfall, sondern ein Hinweis auf einen historisch gewachsenen antikurdischen Rassismus in der Gesellschaft, eine Art kultivierter Hass auf ihre politischen und kulturellen Formen. Die Missachtung ihres Lebens durch die deutsche Regierung deutet darauf hin, dass nicht alle Leben gleich viel wert sind und daher der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit ungleiche Aufmerksamkeit zuteil wird. Dies ist eine Auswirkung der rassistischen Ideologie, die »den allgegenwärtigen Schatten über dem Denken und der Praxis der westlichen Politik bildet, insbesondere wenn es darum geht, sich die Unmenschlichkeit der Herrschaft über fremde Völker vorzustellen«, so die Analyse von Achille Mbembe. Vielleicht erklärt dies, warum die massive gesellschaftliche Unterstützung für die Opfer nachgelassen hat.

An diesem kalten Nachmittag auf dem Hanauer Platz fand vor dem zentralen Marsch der Familien eine Kundgebung statt, bei der die Mitglieder der Initiative 19. Februar unter Tränen und mit wütenden Erklärungen das Wort ergriffen. Sie prangerten die Kriminalisierung an, der sie durch den deutschen Staat in ihrem Kampf gegen das Vergessen ausgesetzt sind. Sie wiesen darauf hin, dass es sehr kompliziert war, ein Denkmal zu Ehren der Opfer des Massakers zu errichten, da die lokale Regierung die Realisierung einer solchen Aktion verhindert hat. Die Teilnahme von Solidaritätsmusiker:innenn, Protest-Rap und Poesie waren Elemente, die die Worte der Familien untermalten. Der zentrale Slogan, der von der Mutter eines der Opfer vorgetragen wurde, fand bei allen Anwesenden Widerhall und fasst den Kern dieses Kampfes um die Erinnerung zusammen: »Wir vergessen nicht, wir vergeben nicht«.

Während des Marsches durch Hanau habe ich darüber nachgedacht, dass wir als Bewohner:innen eines Landes wie Mexiko, das geprägt ist von einer hohen Rate krimineller Gewalt, einer erschreckenden Zahl von mehr als hunderttausend Verschwundenen, von etwa achtzig Morden pro Tag und fast einem Massaker monatlich, unsere Wahrnehmung dieser Geschehnisse und die Art und Weise, wie wir Erinnerung verstehen, tiefgreifend verändert haben. Dies ist ein unverzichtbares Feld des Kampfes, das wir zu erhalten versuchen, während der Staat zum Vergessen und zur Kriminalisierung der Ermordeten aufruft. Auch wenn es keinen Sinn macht, einen Vergleich mit Mexiko anzustellen, weil der Einsatz von Gewalt in Hanau und im globalen Süden in vielerlei Hinsicht sehr unterschiedlich ist, so unterstreicht er doch die Stärke der Familien in diesem Kampf, vor allem der Mütter, Schwestern, Großmütter, Tanten, Cousins und Cousinen, die uns jeden Tag lehren, den Kampf um die Benennung der Toten und die Liebe vor den Schmerz zu stellen. Und dass die Berufung auf die Erinnerung als politischer Akt ein wesentliches Instrument im Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit ist.


 Kurdistan Report 227 | Mai/Juni 2023