Eine radikaldemokratische Alternative zur kapitalistischen Moderne und zur Staatsgesellschaft

Der demokratische Konföderalismus

Ein Interview mit Xebat Andok, Mitglied des Exekutivrats der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans)
Das Interview führte anf und wurde für die Veröffentlichung im Kurdistan Report bearbeitet.


Was bedeutet demokratischer Konföderalismus?

Der demokratische Konföderalismus ist ein Organisationssystem der demokratischen Gesellschaft. Er ist keine Bewegung oder Partei, sondern ein gesellschaftliches System, das sowohl in Kurdistan als auch in der Türkei, im Irak, im Iran und in Syrien umgesetzt werden kann. Noch weiter gedacht, kann es auch eine Alternative für den Mittleren Osten, Europa, Amerika und Afrika sein.

Die Umsetzung des demokratischen Konföderalismus in Kurdistan ist die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK). Wenn alle Völker, Ethnien, kulturellen Identitäten, religiösen Gemeinschaften, kurz alle Gesellschaften und Völker des Mittleren Ostens ein solches System als Grundlage nehmen, dann kann dieser Konföderalismus z.B. den Namen »Demokratischer Konföderalismus der Völker des Mittleren Ostens« tragen. Weltweit umgesetzt, wäre es der Weltkonföderalismus der demokratischen Völker. Es ist ein System, in dem alle Teile der Gesellschaft, von lokal bis global, von klein bis groß, sich selbst organisieren und selbst verwalten.

Was bedeutet das inhaltlich?

Es ist ein alternatives System zum bestehenden Nationalstaat und zum herrschenden etatistischen System und basiert auf der Organisation und Selbstverteidigung der Bevölkerung und der Gesellschaft als Ganzes. Genauer betrachtet, umfasst der demokratische Konföderalismus zwei grundlegende Konzepte: Die Demokratie und den Konföderalismus. Der Konföderalismus ist ein sehr flexibles Beziehungssystem, das auf Freiwilligkeit beruht. Es gibt keine geschriebene Verfassung. Es gibt keinen Zwang. Gemeinschaft und Trennung sind freiwillige Entscheidungen.

Wer organisiert sich in dieser Weise?

Der Demos – das Volk. Der Konföderalismus kann alle ethnischen Gemeinschaften, religiösen Überzeugungen, kulturellen Strukturen, Männer und Frauen, alle Organisationsformen, die sich zur Lösung eines gesellschaftlichen Problems zusammengeschlossen haben, umfassen. Alle Teile der Gesellschaft, des Demos, des Volkes regieren sich selbst ohne von Regierungen oder ausländischen Kräften beherrscht zu werden.

In diesem System kommen alle Bereiche der Gesellschaft in konföderalen Beziehungen auf der Grundlage der Selbstverwaltung zusammen.

Zwei Voraussetzungen sind unabdingbar: Die Gesellschaft muss sich auf allen Ebenen und mit allen Bestandteilen organisieren und diese organisierten Strukturen müssen sich vernetzen. In diesem Netzwerk, einer konföderalen Dimension, haben Unterdrückung, Gewalt und ideologische Hegemonie keinen Platz. Die Basis ist Gleichheit und Freiheit.

Die andere Voraussetzung ist die organisierte Gesellschaft, in der sich alle Teile auf der Grundlage der kleinsten Einheiten, ihrer Identitäten und Zugehörigkeit autonom organisieren. Dies geschieht auf Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses von lokaler Demokratie und der Bedeutung von Vernetzung zur Stärkung der organisatorischen Einheit.

Der demokratische Konföderalismus ist eine lokale und gleichzeitig eine globale Organisationsform, in dem sich alle sozialen Komponenten der Gesellschaften in Kurdistan, der Region und der Welt selbst organisieren und sich durch ihre Beziehungen untereinander als eine Einheit jenseits der Staaten konstituieren. Dieses System richtet sich an die Völker Kurdistans, der Region und an alle Unterdrückten der Welt.

Wie lässt sich eine demokratisch organisierte Gesellschaft schaffen?

Die klassische Staatsform wird vom Kopf auf die Füße gestellt und der zentralisierte Parlamentarismus spielt keine Rolle. Der demokratische Konföderalismus geht von der kleinsten Einheit aus: dem Dorf, dem Ort, der Straße, dem Stadtviertel, der Fabrik, dem Haus. Er basiert auf der Organisation aller Bereiche, in denen Menschen zusammenkommen.

Die kleinste organisatorische Einheit in der direkten Demokratie ist die Kommune, in der sich die Menschen selbst verwalten. Der kleinste Rat ist die Gemeinde. Im Gesellschaftsvertrag der KCK bzw. in der bestehenden Theorie des demokratischen Konföderalismus entspricht die Kommune daher einer Dorfversammlung, in der Straßen- und Dorforganisationsstrukturen zusammenkommen. Auf der nächsten Ebene treffen sich Vertreter:innen der Kommunen und bilden einen Stadtteil- oder Gemeinderat. Es geht darum, alle Probleme als gemeinschaftliche Probleme zu betrachten, die gemeinschaftlich gelöst werden müssen. Die weiteren Ebenen sind der Provinzialrat, der Regionalrat und als letzte Stufe der Volksrat. Er wäre dann das Entscheidungsgremium einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder eines Volkes. Mehrere Völker zusammen, bilden einen Kongress der Völker. Weltweit gedacht bedeutet das, dass ein Kongress aller Völker der Welt einberufen wird, wenn globale Entscheidungen getroffen werden müssen.

Es handelt sich um ein System direkter und radikaler Demokratie.
Alle regieren und werden regiert

Es handelt sich also um ein Rätesystem und nicht um ein vom Parlament bestimmtes System. Tausende von Räten und Gemeinden diskutieren die Probleme ihrer Orte und versuchen, Lösungen zu finden. Gleichzeitig sind sie untereinander vernetzt. In diesem System herrscht direkte Demokratie, niemand herrscht über andere, sondern alle verwalten sich selbst und die Gemeinschaft. Alle regieren und werden regiert. Es ist ein System, in dem alle, gemäß der Definition des politischen und moralischen Menschen, über die Probleme der Gesellschaft nachdenken, nach Lösungen suchen, reden, diskutieren, Entscheidungen treffen und jemanden beauftragen, diese Entscheidungen in die Tat umzusetzen. Es ist ein System, in dem Autorität und Macht vollständig in den Händen des Volkes liegen und in dem die direkte Demokratie, die radikale Demokratie verwirklicht ist.

Freiheit und Einheit der Vielfalt – Der demokratische Konföderalismus kann daher auch als die gleichberechtigte Einheit der Unterschiede definiert werden

Auch die Bezeichnung ‚kommunale Demokratie‘ ist zutreffend, da es sich um eine kommunale Haltung und ein kommunales Leben handelt. Demokratie wird hier nicht nur als Heben und Senken der Hände oder als Mitbestimmung verstanden. Auch der Geist und das Leben in diesem Modell basieren auf freien und gleichberechtigten Beziehungen. Zusammenfassend ausgedrückt: Es ist ein System, in dem es eine gleichberechtigte Einheit von Unterschieden gibt, denn die Gesellschaft muss in der Frage des Wer und des Was eine Einheit bilden. Alle Identitäten bewahren ihre Unterschiede als gleichwertige Subjekte. Es soll keine Herrschenden und Beherrschten geben, Verschiedenheit und Einzigartigkeit sollen von allen gelebt werden können, Überlegenheit einer Identität über eine andere soll es nicht geben. Der demokratische Konföderalismus kann daher auch als die gleichberechtigte Einheit der Unterschiede definiert werden.

Wie verorten Sie das Modell des demokratischen Konföderalismus im historischen Kontext?

Es war Rêber Apo [Abdullah Öcalan], der den demokratischen Konföderalismus neu formuliert hat. Er ist ein Führer des Volkes. Er ist eine Person, die für die Existenz und die Freiheit des kurdischen Volkes gekämpft hat und kämpft. Wir sind Menschen, die an dieses Projekt glauben und dafür kämpfen. Wir sind davon überzeugt, dass die Frage der Existenz und Freiheit des kurdischen Volkes auf diese Weise gelöst werden kann.

Wir wissen, dass es in der Geschichte immer Menschen wie uns gab, die für Gleichheit, Freiheit, Demokratie und ihre Existenz gekämpft haben. Dieser Kampf wird auf allen Ebenen geführt. Nach unserer Lesart der Geschichte, insbesondere wenn wir die Zeit der Entstehung der Herrschaft nach der Jungsteinzeit mit einbeziehen, gibt es diese Herrschaft seit 7000 Jahren. Die ersten ein- bis zweitausend Jahre dieser Periode sind entscheidend für die Herausbildung der Hauptursache der heute bestehenden sozialen Probleme. Es war die Zeit, in der der Staat noch nicht entstanden war, in der sich aber die patriarchale Mentalität und Ideologie, aus der allmählich Machtstreben und Individualismus hervorgingen, miteinander zu verbinden begannen. Es war auch die Zeit, aus der der spätere Staat und die Klassengesellschaft hervorgingen, in der es aber noch keine Sklaverei im heutigen Sinne gab. Der Staat entstand erst einige Zeit später, vor etwa 5500 Jahren.

Die Geschichte der Herrschaft ist auch eine Geschichte des Kampfes gegen die Herrschaft.
Die heutigen Probleme sind gigantisch, aber mit der heutigen Mentalität nicht zu lösen


Uruk entstand als Staat auf dem Gebiet des heutigen Irak. Dieses staatliche System ist die Quelle aller gesellschaftlichen Probleme, mit denen die Menschen heute zu kämpfen haben und die sie aufgrund ihrer historisch gewachsenen Mentalität nicht ausreichend lösen können. Wir denken dabei zum Beispiel an Probleme wie Machtorientierung, Nationalismus, Widersprüche zwischen Unterdrückten und Unterdrückern und Klassenwidersprüche. Die heutigen Probleme sind gigantisch, aber mit der heutigen Mentalität nicht zu lösen. Wir untersuchen die Geschichte, gehen zurück bis zu dem Tag, an dem diese Probleme entstanden, und arbeiten uns von dort bis in die Gegenwart vor. Die Machthaber haben in ihrem Bestreben, alles unter ihre Kontrolle zu bringen, gegen den Gemeinschaftsgeist gearbeitet. Sie sind Individualisten, die regieren und herrschen wollen und ihre Realität ist der Menschheit, der Gesellschaft und dem Gemeinschaftsleben völlig entfremdet. Aber die Natur des Menschen ist frei und egalitär. Während diejenigen, die den Weg der Menschlichkeit verlassen haben, versuchen, ihre Herrschaftsambitionen zu verwirklichen, hat es immer auch einen Kampf für Gleichheit und Freiheit gegeben. Die Geschichte der Herrschaft ist auch eine Geschichte des Kampfes gegen die Herrschaft. Nach dem Verlust der Freiheit in der natürlichen Gesellschaft, begann der Kampf und Widerstand gegen das System der Herrschaft.

Wir sind Teil dieses historischen Kampfes für Freiheit. Wir sind seine Fortsetzung. Wir sind nicht die Ersten und wir werden nicht die Letzten sein. Solange es Strukturen gibt, die auf Herrschaft, Macht, Sexismus und dem Subjekt-Objekt-Verhältnis basieren und die Gesellschaft spalten, wird es den Kampf für Freiheit gegen sie geben. In diesem Sinne setzen wir uns mit der Geschichte auseinander. In der Vergangenheit bis heute wurde viel für die Freiheit getan, aber die Welt wird immer noch von Ungleichheit und Ungerechtigkeit beherrscht, immer noch gibt es ein Demokratiedefizit. Immer noch geht es um Existenz und Freiheit. Das spüren die Kurd:innen, die Frauen, die Jugend und alle Unterdrückten am stärksten. Viele Völker auf der Welt sind ausgelöscht und vertrieben worden. Das ist die Realität, aber auf der anderen Seite gibt es den Kampf dagegen.

Auch im Kampf gegen das System bleibt man in seinem Denken gefangen. Man betrachtet die Dinge vom Standpunkt des Systems aus, mit der Mentalität des Systems. Die Ziele mit den Mitteln des Herrschaftssystems zu erreichen ist aber nicht möglich

Es ist falsch zu behaupten, dass die Unterdrückten in ihrem Kampf um Freiheit bisher erfolglos geblieben sind, weil sie zu wenig Opfer gebracht hätten. Das kurdische Volk ist seit hundert Jahren einem Völkermord ausgesetzt. Die Armenier:innen wurden vernichtet. Es wurde ein Kampf um die eigene Existenz geführt. Das Problem ist also nicht, dass zu wenig gekämpft wurde und wird, das Problem ist die Mentalität, mit der gekämpft wird. Die Herrschaft lässt heute keine anderen Mentalitäten und Gedanken als die ihren zu. Sie hat alle Lebensbereiche ideologisch, politisch und militärisch monopolisiert und in diesem staatlichen Raum ihre Hegemonie geschaffen. Selbst wenn man gegen das System kämpft, ist es, als ob man mit den Argumenten des Systems kämpft. Man betrachtet die Dinge vom Standpunkt des Systems aus, mit der Mentalität des Systems. Die Ziele mit den Mitteln des Herrschaftssystems zu erreichen, ist aber nicht möglich.

Der Staat ist die am besten organisierte Institution aller machtorientierten Klassen, aller Klassen, die die Macht für sich monopolisieren wollen.
Den Unterdrückern gehört der Staat

In allen Teilen der Welt und zu allen Zeiten der Geschichte forderten und fordern die Unterdrückten Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit und ein menschenwürdiges Leben. Keiner der Herrschenden will das, denn es sind die Herrschenden, die die Probleme schaffen. Unterdrückte und Herrschende denken unterschiedlich und haben deshalb ihre eigenen Träume, Gesellschaftsentwürfe und Utopien. Mit ihren jeweils eigenen Mitteln versuchen sie diese zu verwirklichen.

Aus ihrem individualistischen, egoistischen und egozentrischen Selbstverständnis und Denken heraus haben die Herrschenden, die alles unter ihre Macht zu bringen versuchen, den Staat entwickelt. Der Staat ist die am besten organisierte Institution aller machtorientierten Klassen, aller Klassen, die die Macht für sich monopolisieren wollen. Nun mag es im Laufe der Geschichte Ausnahmen gegeben haben, aber im Grunde genommen haben fast alle, die für Gleichheit, Freiheit, Demokratie, ein menschenwürdiges Leben und Gerechtigkeit gekämpft haben, sich in ähnlicher Weise gegen den Staat unter der Kontrolle der Herrschenden aufgelehnt. Dies wird in den ethnisch begründeten Konflikten, in der Tradition der Propheten und in den nationalen Befreiungskämpfen des 20. Jahrhunderts deutlich. Auch in allen drei Versionen des Marxismus finden wir diese Staatsorientierung. Die Unterdrückten wollen in der Regel Freiheit, Gleichheit und Demokratie, aber der Staat als Mittel passt in keiner Weise zu diesen Forderungen. Der Staat gehört anderen, in der Regel den Unterdrückern. Er ist ein Mittel des egoistischen, individualistischen und machthungrigen Herrschaftsstrebens. Den Staat kann man sich nicht aneignen, denn man nimmt sich damit die Möglichkeit anders zu denken. Die ideologische Hegemonie vereinnahmt die Mentalitäten.

Die Geschichte hat uns zur Genüge gezeigt, dass der Staat auch in den Händen der Besten nicht gut ist. Kein Staat kann Gleichheit schaffen

Mit dem Instrument Staat lässt sich keine Lösung finden, denn es gehört uns nicht. Rêber Apo sagt dazu: »Die Mittel zur Lösung müssen so sauber sein wie das Ziel«. Aber der Staat ist schmutzig, repressiv, ein Vergewaltiger und Unterdrücker. Wenn wir ihn im Zusammenhang mit Herrschaft verstehen, wird klar, dass er die Ursache aller sozialen Probleme ist. Deshalb kann kein Staat Gleichheit schaffen. Viele Staaten auf der Welt behaupten von sich, demokratisch oder freiheitlich zu sein. Aber welcher Staat hat die Probleme, die aus dem Mangel an Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Demokratie entstanden, innerhalb seiner Grenzen gelöst? Keiner von ihnen, denn diese Lösung entspricht nicht seiner Struktur. Die Geschichte hat uns zur Genüge gezeigt, dass der Staat auch in den Händen der Besten nicht gut ist. Der Realsozialismus und die nationalen Befreiungsbewegungen sind Beispiele dafür.

Der demokratische Konföderalismus macht ein selbstorganisiertes und autarkes System außerhalb der Staaten möglich

Die Unterdrückten, alle gesellschaftlichen Gruppen, die für Gleichheit und Freiheit eintraten, waren nicht in der Lage, eine Form der gesellschaftlichen Organisation zu finden, die ihren Wünschen, Träumen und Utopien entsprach. Wir denken, dass der Demokratische Konföderalismus genau das Modell ist, das den Forderungen aller sozialen Schichten und aller Unterdrückten entspricht. Der Demokratische Konföderalismus ist nicht staatlich, er ist das Produkt der Unterdrückten und drückt ihre Wünsche aus. Alle Revolutionen wurden durch den Staat kanalisiert. Die Vorstellung, dass es keine Organisation außerhalb des Staates geben kann, ist so dominant, dass der eigene Staat geradezu herbeigesehnt wird. Um diesem Irrweg zu entkommen, muss man die Herrschaftsmentalität völlig hinter sich lassen und sich eines Werkzeugs bedienen, das dem Streben nach Gleichheit und Freiheit entspricht. Dieses Werkzeug ist das System des Demokratischen Konföderalismus. Er macht ein selbstorganisiertes und autarkes System außerhalb der Staaten möglich. Diese Entwicklung ist von historischer Tragweite.

Der von Rêber Apo vorgeschlagene Rahmen bedeutet, dass alle Opfer, die im Laufe der Geschichte im Kampf für demokratisch-kommunale Werte, für Gleichheit und Freiheit gebracht wurden, nun zum Ziel führen. Es geht um nichts weniger als eine historische Abrechnung. Gegen das siebentausend Jahre alte hierarchisch-etatistische System wird ein System der Völker geschaffen, das sich gegen die Herrschenden richtet.

Wir sind Kurd:innen. Wir kämpfen um unsere Existenz und unsere Freiheit. Unser Volk soll vernichtet werden. Dagegen leisten wir seit mindestens einem Jahrhundert Widerstand. Dieser Kampf lässt sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Das kurdische Volk hat zehntausende von Gefallenen im Kampf um Leben und Freiheit zu beklagen. Vom Organisierungsgrad der Kurd:innen hängt es ab, ob der Genozid erfolgreich sein wird. Der Kolonialismus und die hegemonialen Kräfte der kapitalistischen Moderne haben den Völkermord an uns beschlossen.

Die PKK kämpft als führende Kraft eines in seiner Existenz bedrohten Volkes. Die von ihr geschaffene Gesellschaft hat sehr starke Werte. So wie die PKK nicht will, dass alle Kämpfe vor ihr umsonst waren, will sie auch nicht, dass ihr eigener Kampf scheitert. In der gegenwärtigen Situation konzentriert sich die PKK darauf, wie die kurdische Frage jenseits des Staates gelöst werden kann. Dafür steht der demokratischen Konföderalismus. Die darauf beruhende demokratische Autonomie ermöglicht es den Menschen in allen vier Teilen Kurdistans demokratisch-autonom zu leben und ihre Meinungs- und Organisationsfreiheit wird garantiert. Die Lösung der kurdischen Frage liegt jenseits des Staates.

Die Kurd:innen kämpften und kämpfen für Freiheit und Gerechtigkeit, für die Akzeptanz ihrer Existenz und für die Möglichkeit, als sie selbst zu leben (Xwebûn).

Was wollen wir also anstelle des Staates? Wie gesagt, unsere Alternative basiert auf einem demokratisch-konföderalistischen System, das auf demokratischer Autonomie beruht. Es geht nicht darum, im System aufzugehen. Es geht darum, dass unter den Kurd:innen keine neuen Aghas und Unterdrücker entstehen. Die Kurd:innen kämpften und kämpfen für Freiheit und Gerechtigkeit, für die Akzeptanz ihrer Existenz und für die Möglichkeit, als sie selbst zu leben (Xwebûn). Das sollen auch die Ergebnisse des Kampfes sein.
Nehmen wir das Beispiel Südkurdistan. Auch dort stehen die Kurd:innen vor einer existentiellen Frage. Trotz der vielen Kämpfe wurde ein dynastisches System installiert. Es wird von Wahlen gesprochen, aber es ist bekannt, dass dort eine durch und durch korrupte Familie alle Werte Kurdistans an sich gerissen hat. Es ist bekannt, dass diese Familie versucht, alle Kurd:innen zu Kollaborateuren der kapitalistischen Moderne, des Kolonialismus und des Genozids zu machen. Um zu verhindern, dass weitere solche Krebsgeschwüre entstehen, müssen die Kurd:innen ihren Kampf auf der Grundlage von Freiheit und Gleichheit führen. Es muss darum gehen, eine klassenlose und gerechte Gesellschaft zu schaffen. Alle Menschen müssen aktiv werden, sich selbst verwalten und füreinander Verantwortung übernehmen. Dafür stellt nach unserer Meinung der demokratische Konföderalismus, d.h. das demokratische konföderale Organisations- und Gesellschaftsmodell auf der Grundlage der demokratischen Autonomie, das Lösungsmodell für das kurdische Volk dar.

Der sogenannte »Arabische Frühling« war ein großer Umbruch. Konnten Sie in dieser Zeit den demokratischen Konföderalismus als Alternative zum Etatismus ausreichend vermitteln?

Historisch betrachtet werden solche Momente als Chaos-Intervalle bezeichnet. Der »Arabische Frühling« war ein solches Intervall. Der Widerstand der Gesellschaft gegen das bestehende hegemoniale System im Nahen Osten war sehr stark, weil Autoritarismus und Despotismus hier stark und dominant sind. Die Region ist das historische Zentrum der Sklaverei, der Klassenherrschaft und des Etatismus. Wenn die Menschen eine Chance sehen, sich zu erheben, dann ergreifen sie diese.

Im »Arabischen Frühling« haben wir gesehen, dass die Herrscher sich als Araber präsentieren, aber die arabischen Völker sich überall gegen sie erhoben haben. Bei solchen Aufständen wollen die Menschen Gleichheit und Freiheit. Was ist die Alternative? Was hier das Herrschaftssystem ersetzen muss, ist der demokratische Konföderalismus, damit der Widerstand nicht wieder vom System absorbiert wird. Wir haben diese Alternative vorgeschlagen, aber es ist uns nicht gelungen, sie in der Region ausreichend zu kommunizieren. Wir hatten nicht die Möglichkeit, das zu organisieren. In dieser Hinsicht gab es Defizite auf unserer Seite. Wir sind eine Bewegung, die durch ein sehr umfassendes Vernichtungskonzept ausgelöscht werden soll und das war auch ein Grund, weshalb wir nicht die Kapazitäten hatten, den demokratischen Konföderalismus rechtzeitig zu einem Projekt zu machen, das alle Völker des Nahen Ostens erreicht. Wir kamen zu spät. Im »Arabischen Frühling« kam es überall in der arabischen Welt zu Aufständen, aber Regime wurden durch eine andere Version derselben Regime ersetzt. Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie wurden nicht erreicht.

Ist die Praxis in Rojava nicht ein wichtiger Erfolg?

Rebêr Apo [Abdullah Öcalan] hat über Jahre hinweg sehr viel für Rojavayê Kurdistanê gearbeitet. Er hat die Kraft, die Gesellschaft zu beeinflussen. Die Menschen dort haben tausende junge Menschen in den Freiheitskampf geschickt. Rojava ist eine der Regionen, in denen die Ideen von Rêber Apo am wirksamsten sind. Als das Chaos Rojava erreichte, haben die Menschen sofort die Revolution umgesetzt. Zur Zeit ist das Gebiet Vernichtungsangriffen ausgesetzt und es gibt Versuche, die Revolution zu unterlaufen. Da die Region unter einem so starken äußeren Druck steht und es viele Unzulänglichkeiten aufgrund von Haltung, Organisation und internen Problemen gibt, wurde dort nur wenig vom demokratischen Konföderalismus in die Praxis umgesetzt. Trotzdem findet die Revolution in Rojava weltweit Beachtung und zieht Menschen aller Nationalitäten an. Araber:innen, Kurd:innen, Turkmen:innen, Tscherkessen:innen, Armenier:innen, Assyrer:innen und Suryoye sind innerhalb des Systems in Rojava autonom auf der Basis ihrer eigenen Kommunen und Räte organisiert. Es gibt keine Hegemonie einer Ethnie über die andere. Alle wissen, dass sie sich nicht allein schützen können, sondern einander gegen den gemeinsamen Feind brauchen. Deshalb bündeln sie ihre Kräfte. Sie sind sowohl autonom als auch kollektiv und bauen ein System auf, in dem sich alle Teile der Gesellschaft selbst organisieren. All dies geschieht unter den Bedingungen des Dritten Weltkrieges, in dem der völkermörderische türkische Staat seine gesamten Kräfte mobilisiert, um die Revolution zu vernichten. Er hat dabei die volle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und erhält gleichzeitig Unterstützung von kurdischen Kollaborateuren und Verrätern. Trotz der vielen Feinde wird der Demokratische Konföderalismus in Rojava, wenn auch in begrenztem Maße, verwirklicht. Das ist auch der Grund, warum Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt nach Rojava kommen und am Kampf teilnehmen. Sie sehen, wie sozial, egalitär und freiheitlich dieses System ist. Sie sammeln Erfahrungen, tauschen sich aus und versuchen, die Revolution gegen die Angriffe der herrschenden etatistischen Kräfte zu verteidigen.

Wir befinden uns im Zeitalter der Staaten und der demokratische Konföderalismus ist eine Struktur, um mit den Staaten und innerhalb der Grenzen der Staaten in Würde und Selbstverteidigung zusammenzuleben

Setzt der demokratische Konföderalismus die Auflösung des Staates voraus?

Es ist eine historische Notwendigkeit, dass die Kämpfe für Freiheit und Gleichheit heute in einem nichtstaatlichen Gesellschaftssystem verwirklicht werden. Dies ist auch für die Verwirklichung der Ziele des Freiheitskampfes der PKK notwendig, damit alle Beziehungen innerhalb der kurdischen Gesellschaft gleichberechtigt, frei und demokratisch sein können.
Rêber Apo stellte 2005 das Projekt des demokratischen Konföderalismus unter den Bedingungen des Dritten Weltkrieges vor. Der demokratische Konföderalismus wird nicht erst nach dem Verschwinden der Staaten auf der ganzen Welt entstehen. Das ist nicht sein Ziel. Wir befinden uns im Zeitalter der Staaten und der demokratische Konföderalismus ist eine Struktur, um mit den Staaten und innerhalb der Grenzen der Staaten in Würde und Selbstverteidigung zusammenzuleben. Er steht in ständiger Spannung und im Widerspruch zu den Staaten, weil seine innere Struktur und Haltung eine ganz andere sind. Wie gesagt, wir reden nicht über etwas, das in der Zukunft passieren wird. Es geht um etwas, das jetzt geschieht und geschehen muss.

Wie kann der demokratische Konföderalismus das Leben verändern?

Die PKK hat zehntausende von Kadern, deren Lebenspraxis im Sinne des Demokratischen Konföderalismus organisiert ist. Wir reden nicht über etwas, was wir nicht leben. Wir propagieren nichts, was wir nicht verwirklicht haben.

Konkret: Was ändert sich, was kann sich ändern? Da Veränderung auf einem Paradigma beruht, ist es sinnvoll, das Paradigma zu betrachten. Der demokratische Konföderalismus basiert auf dem Paradigma einer demokratischen, ökologischen Gesellschaft und der Befreiung der Frau. Wir definieren das Leben, wie es sein sollte. Diese Definition leiten wir aus der Natur der Gesellschaft und des Menschen ab. Die Säulen des Paradigmas zeigen, was der demokratische Konföderalismus für das Leben bietet. Unser Paradigma ist demokratisch.

Wie sieht die basisdemokratische Praxis in der PKK aus?

Demokratie ist ein Begriff, den sich die Staaten angeeignet haben. Demokratie hat nichts mit Staaten zu tun, denn Demokratie ist das System, in dem das Volk sich selbst regiert. Wer kann sich in einem staatlich organisierten System selbst regieren? Ist Selbstregierung in irgendeinem Staat mehr als der Gang zur Wahlurne alle vier oder fünf Jahre?
In der PKK leben wir in einer direkten Demokratie. Wir treffen alle Entscheidungen über unser Leben selbst und führen alle Diskussionen in der ersten Person. Jeder hat das Recht zu sprechen. Niemand hat das Recht, für uns zu sprechen. Wir entscheiden selbst über uns, unser Leben und unsere Probleme. Wir treffen unsere eigenen Entscheidungen. Unsere kleinste Einheit ist das Team. Jedes Team trifft seine eigenen Entscheidungen und entscheidet über deren Umsetzung. Es wählt für sich selbst eine Führung. Im demokratischen Konföderalismus werden alle Vertreter:innen gewählt. Diese gewählten Vertreter:innen sind keine Vorgesetzten. Ihre Aufgabe ist es, die getroffenen Entscheidungen in die Praxis umzusetzen.

Sobald die Gemeinschaft merkt, dass die Leitung sich anmaßt, Entscheidungen nach eigenem Gutdünken zu treffen, wird sie abgesetzt.

Können Sie das staatliche System mit dem System vergleichen, in dem Sie leben und das Sie verteidigen?

In etatistischen Systemen fühlt sich der Mensch nicht wertgeschätzt. Er soll Geld verdienen, um die Bedürfnisse seines Lebens zu decken, dem Geld soll das ganze Leben gewidmet werden. Unter diesem Stress zerbricht der Mensch und verfällt in Depressionen. Ein sehr, sehr großer Teil der Probleme, die Menschen in einem auf Herrschaft basierendem, staatlich organisiertem System erleben, insbesondere unter den Bedingungen der kapitalistischen Moderne, rührt daher, dass ihnen als Mensch kein Wert beigemessen wird.

In unserem System konkurrieren die Menschen, um sich gegenseitig zu entwickeln, nicht um sich gegenseitig zu bekämpfen. Wir betrachten den Menschen als einzigartig und voller Potential. Diese Haltung ist nicht die Haltung der Herrschenden, denn sie dient nicht ihren Zielen. Im Modell des Demokratischen Konföderalismus ist der Mensch wertvoll, einzigartig, politisch und hat eine Stimme, die den Diskurs beeinflusst. Sein Gehirn, seine Zunge und sein Herz sind offen. Er fühlt sich verantwortlich für die Probleme der gesamten Menschheit, für die Probleme, die er mit sich selbst und mit seinen Mitmenschen hat. Sein Geist ist ständig kreativ. In einem solchen System ist der Mensch so aktiv wie möglich.

Ist die Widerstandskraft der PKK ein Ergebnis dieser inneren Struktur?

Natürlich. Wie sonst könnte die PKK unter den Bedingungen dieses Staatssystems, unter den Bedingungen der kapitalistischen Moderne, in einem Umfeld, in dem die Republik Türkei mit der Unterstützung der ganzen Welt gegen uns vorgeht, überleben? Wir wissen, wie wertvoll unser Leben ist, wie wertvoll jeder Einzelne von uns ist, welche Kraft im Menschen steckt. Diese Kraft schöpfen wir aus uns selbst. Mit dieser Kraft stellen wir uns all diesen Angriffen entgegen. Allein die Tatsache, dass die PKK weiter existiert und sich immer weiter nach vorne entwickelt, zeigt, wie sehr sich die Menschen in dieser Art von Organisation engagieren.

Unsere Bewegung und das demokratisch konföderale System schaffen ein Umfeld, in dem sich der Mensch am stärksten verwirklicht kann.

Die PKK ist nicht nur eine Partei mit einer großen Anzahl von Frauen, sie ist eine Partei, die viele ihrer grundlegenden, strategischen und ideologischen Prinzipien auf Frauen stützt. In dieser Hinsicht ist sie eine Frauenpartei.

Warum legen Sie einen so großen Schwerpunkt auf Frauenbefreiung?

Die Frau war historisch betrachtet die erste Sklavin, versklavt durch den herrschaftsorientierten Mann. In diesem Sinne ist die Frau auch die erste Freiheitskämpferin. Sogar unsere Feinde sagen: »Die PKK ist eine Frauenpartei.« Sie ist nicht nur eine Partei mit einer großen Anzahl von Frauen, sie ist eine Partei, die viele ihrer grundlegenden, strategischen und ideologischen Prinzipien auf Frauen stützt. In dieser Hinsicht ist sie eine Frauenpartei. Sie sieht die Lösung der Probleme in der emotionalen Intelligenz von Frauen. Die Frauen und Männer innerhalb der PKK argumentieren mit der Notwendigkeit, außerhalb der bestehenden patriarchalen Mentalität zu denken und die mentale Struktur, in der die männlich dominierte Ideologie des herrschenden/staatlichen Systems eingeschrieben ist, zu verändern.

Alle Männer und Frauen in der PKK haben die Aufgabe, sich im Sinne der weiblichen emotionalen Intelligenz zu entwickeln. In dem Maße, in dem sie dies tun, werden sie bescheidener, demokratischer, überzeugter, sensibler, verantwortungsbewusster und stärker. Aus diesem Grund ist die PKK eine Frauenpartei. Wenn die Gesellschaft nicht immer wieder von außen von ihrem Weg abgebracht wird, ist die natürliche Gesellschaft eine Gesellschaft, die um die Frau herum organisiert ist. Folgerichtig ist das Ziel der PKK die Verwirklichung einer von Frauen geführten Gesellschaft und die PKK wird auch von Frauen geführt. Das Wertvollste für uns ist eine starke weibliche Haltung. Die Emanzipation der Frauen begreifen wir auch als die Emanzipation der Männer, denn sie verändert und verwandelt sie. Sie kämpft gegen die bestehenden etatistischen, machtorientierten Aspekte in den Männern und wirft sie über Bord. Die Führung durch starke Frauen ist für alle Männer in der PKK eine Selbstverständlichkeit, an die sie glauben und auf die sie vertrauen.

Wie sind die Beziehungen zwischen Männern und Frauen im demokratisch-konföderalen System in Rojava?

Wenn man sich die Revolution in Rojava anschaut, sieht man, wie sich die Beziehungen zwischen Männern und Frauen trotz der Angriffe von außen verändert haben, welche aktive Rolle die Frauen spielen und wie sehr die Männer von ihrem Machtdenken befreit wurden. Wir sehen, dass die Veränderungen sehr tiefgreifend und nachhaltig sind und dass sie das Potential der Frauen entwickelt und sichtbar gemacht haben. Im demokratisch-konföderalen System werden die Beziehungen zwischen Männern und Frauen gleichberechtigt und frei sein. Keiner wird über dem anderen stehen. Niemand wird über andere herrschen. Alle werden in ihrer Einzigartigkeit als gleiche und freie Wesen leben. Da es für niemanden Hindernisse gibt, können die Menschen ihr Potenzial so weit entfalten, wie sie es wollen. Alle Möglichkeiten stehen ihnen offen. Das gilt auch für Männer.

Die Hauptursache für Umweltkatastrophen und Umweltprobleme ist das herrschende System, sind die Mächte der kapitalistischen Moderne. Es herrscht Krieg gegen die Natur.

Das Paradigma beinhaltet auch eine ökologische Dimension. Warum ist das wichtig?

Schauen Sie, wir haben gerade eine Dürre, die bekanntermaßen nicht natürlichen Ursprungs ist. Sie ist ein Produkt der kapitalistischen Moderne. Treibhausgase und fossile Brennstoffe heizen das Klima auf. Es gibt so viele Umweltkatastrophen und ökologische Probleme, die alle von machthungrigen und unersättlichen Menschen verursacht werden. Die Hauptursache für Umweltkatastrophen und Umweltprobleme ist das herrschende System, sind die Mächte der kapitalistischen Moderne. Es herrscht Krieg gegen die Natur. Die Natur leidet. Es stellt sich die Frage, wie lange es noch eine Lebensgrundlage für die Menschen geben wird. Die herrschenden Klassen in den Staaten betrachten die Natur als etwas, das ihnen gegeben wurde, um es sich untertan zu machen. Die Natur wird nicht als Lebewesen, sondern als Maschine, als Objekt und als Ressource betrachtet.

Historisch gesehen waren alle Herrscher frauen- und naturfeindlich. Im demokratisch-konföderalen System gibt es keinen solchen Ansatz. Die Natur wird als Mutter angesehen, denn alle kommen aus der Natur. Diese Natur definieren wir als Erste Natur. Wir sehen uns als Teil der Natur, als ihre Kinder. So wie ein Kind seiner Mutter nichts antun sollte, sollten wir als Zweite Natur unserer Mutter, der Ersten Natur, nicht schaden. Wir müssen die Natur als Lebewesen begreifen. Indem wir mit dem System dieses Lebewesens spielen, zerstören wir unsere Existenzbedingungen. Die PKK betrachtet die Natur als lebendig. Wir sind eine Gemeinschaft, die der Natur keinen Schaden zufügt und versucht, mit dem zu leben, was die Natur uns gibt.

Im hierarchischen Staatssystem wurden viele Verbrechen gegen die Natur begangen und ihr Gleichgewicht gestört.

Immer wieder ist auch von der »Dritten Natur« die Rede. Was ist damit gemeint?

Die Dritte Natur ist die richtige, die natürliche Verbindung von Mensch und Natur, die Teilhabe des Menschen am Leben der Natur. Im hierarchischen Staatssystem wurden viele Verbrechen gegen die Natur begangen und ihr Gleichgewicht gestört. Dies zu korrigieren bedeutet, die herrschende staatsgläubige Mentalität zurückzudrängen, ihre Herrschaft über das Leben zu brechen und Raum für Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Offenheit zu schaffen. Damit können soziale Gerechtigkeit und die Achtung vor dem Menschen und seiner Würde wiederhergestellt werden. Mit dieser Entwicklung verbessert sich auch die Beziehung zur Natur. Es entsteht eine Generation und eine menschliche Gesellschaft, die sensibler, verantwortungsvoller und demokratischer mit der Natur umgeht.

Die vom Patriarchat und von Machtinteressen hervorgebrachte Korruption werden Teil des Staates und haben die Klassengesellschaft geschaffen, deren Herrschaft bis heute anhält. Damit können der Mensch, die Gesellschaft, die Frau und die Natur nicht leben. Die Kämpfe auf der ganzen Welt zeigen, dass dieses System nicht überleben kann. Das hierarchisch-etatistische System ist ein Irrweg. Die aktuelle Version dieses Systems ist die kapitalistische Moderne. Ihr einziges Ziel ist der Profit, der Egoismus.

Ist der demokratische Konföderalismus eine realistische Alternative?

Der demokratische Konföderalismus ist ein kommunales System, das der Natur des Menschen und der Gesellschaft entspricht. Er basiert auf einem Leben im Einklang mit der Natur. Als Bewegung kämpfen wir für die Verwirklichung des Demokratischen Konföderalismus in Kurdistan, in der Region und weltweit. So wie sich heute überall auf der Welt die herrschenden Mächte durch staatliche Organisation als ein System etabliert haben, so soll der Demokratische Konföderalismus ein System sein, in dem sich alle unterdrückten Menschen, die den Angriffen dieses Systems ausgesetzt sind, weltweit zusammenfinden. Sie sollen Kämpfe vereinen und sich organisieren können. Auf der einen Seite steht der demokratische Konföderalismus, auf der anderen Seite der Staat. Der Staat ist das System der herrschenden, machtorientierten Kräfte. Sein heutiger Name ist Nationalstaat. Das gesellschaftliche System ist der demokratische Konföderalismus. Das mag in Kurdistan KCK heißen und anderswo anders, aber der Inhalt ändert sich nicht. Es geht darum, ein nichtstaatliches System zu schaffen, das der Natur des Menschen und der Gesellschaft entspricht.


 Kurdistan Report 227 | Mai/Juni 2023