Dokumentarfilm über Helebce 35 Jahre nach dem Giftgasmassaker

Geruch nach Äpfeln

Das YA-Media Kollektiv im Interview mit dem Kurdistan Report


Geruch nach Aepfeln DokumentarfilmÄpfel – danach soll es am 16. März 1988 in den Straßen von Helebce (Halabdscha) gerochen haben, als Saddam Hussein im Rahmen der Anfal-Kampagne die kurdische Stadt mit Giftgas hat bombardieren lassen. Heute gehen wir davon aus, dass mindestens 5000 Menschen unmittelbar ihr Leben ließen, während weitere 10 000 schwere Verletzungen und langfristige, bis heute anhaltende Schäden davontrugen.
Nicht nur sind die Menschen aus Helebce davon stark geprägt, der Giftgasangriff stellt ein kollektives Trauma der kurdischen Gesellschaft dar. Nun hat sich das deutsche »YA-Media ­Kollektiv« auf den Weg gemacht, um die bis heute, 35 Jahre später, anhaltenden Auswirkungen zu dokumentieren. Wir hatten die Möglichkeit, sie kennen zu lernen und mit ihnen über ihr aktuelles Projekt – einen Dokumentarfilm unter dem Titel »Geruch nach Äpfeln« – zu sprechen.

Wer seid ihr und wie kommt es, dass ihr euch so für Kurdistan und insbesondere für den Giftgasangriff auf Helebce interessiert?

Unser Kollektiv besteht aus Aktivist:innen, die in verschiedenen Kunst- und Medienbereichen aktiv sind. In der Form agieren wir aber erst seit zwei Jahren. Es ist schwer, keinen Bezug zu Kurdistan in Deutschland aufzubauen. In jeder Stadt gibt es große Communities, Veranstaltungen und Vereine. Eine Auseinandersetzung mit der sogenannten kurdischen Frage verfolgen wir auf einer theoretischen Ebene auch schon länger. In eine Praxis kam das Ganze in einer Kombination aus mehreren Freundschaften zu Kurd:innen in unserem Umfeld und der Anfrage, die Friedensdelegation 2021 nach Südkurdistan filmisch zu begleiten. Seitdem waren wir in jedem Jahr für mindestens einen Monat in der Region, um zu filmen, Gespräche zu führen und Verbindungen aufzubauen. Dabei prägten die Ereignisse im Jahr 1988 einen Großteil der Bevölkerung im Osten des Landes. Dazu gehört der Giftgasangriff auf Helebce, aber auch die Anfal-Kampagne. Jeder Mensch dort hat Verwandte verloren oder trägt selbst Schäden davon. Die Bevölkerung und die Umwelt schreien immer noch nach diesen Gräueltaten. Für uns liegt es in einer deutschen Verantwortung, zu dem Thema zu arbeiten. Zwei Gründe wollen wir dabei hervorheben. Der erste ist die starke Beteiligung an der Herstellung des Giftgases für Saddam Hussein. Der zweite Grund sind die mangelnde Aufarbeitung und die daraus folgenden fehlenden Reparationen auf Seiten der deutschen Regierung. Dadurch werden Menschen immer noch mit ihren Verletzungen und Krankheiten alleingelassen. Genau wie die Umweltschäden, die immer größer werden, solange nicht dagegen vorgegangen wird. Je früher die Bevölkerung ernsthaft unterstützt wird, umso mehr Langzeitfolgen können verhindert werden.

Am 16. März war der 35. Jahrestag des Angriffs, weswegen ihr in die Region gereist seid, um zu filmen, wie noch heute der Opfer gedacht wird, aber auch, um mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen. Was habt ihr dort erlebt und wie haben die Menschen auf euch und euer Projekt reagiert?

Am Gedenktag sind die Straßen von Helebce wie leergefegt. Die ganzen Familien verlassen die Stadt. Sie wollen so weit weg von der offiziellen Veranstaltung sein, wie es geht. Es herrscht eine sehr große Abneigung gegenüber der Regierung, gerade in Bezug auf dieses Thema. Internationale und nationale Unterstützung ist noch nie wirklich bei Betroffenen angekommen. Stattdessen wurde ein sehr teures Monument an der Stadtgrenze gebaut, welches von den Einwohner:innen nicht angenommen wird. Gleich im Jahr darauf wurde es im Rahmen von Protesten zerstört. Ein Jahr später jedoch wieder aufgebaut. Aber viele Häuser, Läden, das alte Kino und Straßenzüge sind noch immer nicht wiederhergestellt. Die Menschen leiden auch heute noch unter den Folgen. Die Reparationszahlungen, die gezahlt werden, reichen kaum für einen Menschen, geschweige denn für eine ganze Familie. Aber am Gedenktag wird versucht, die Stadt in einem anderen Licht zu zeigen. Schon Tage davor werden die Zufahrtsstraßen gereinigt, der Strom läuft am Gedenktag ausnahmsweise den ganzen Tag, und vorsorglich werden alle anderen Veranstaltungen in der Stadt verboten. Politiker:innen werden für eine Stunde zum Monument eingeflogen, wo sie vor vielen Kameras ihr Mitleid bekunden, dann in ihren Helikoptern wieder verschwinden. Noch beim Wegflug schmeißen sie Blumen aus dem Helikopter. Ein fragwürdiges Bild, nachdem vor 35 Jahren aus Hubschraubern Papierschnipsel geworfen wurden, um die Windrichtung für das spätere Giftgas zu bestimmen.

Während die ältere Generation das Trauma noch nicht verarbeiten konnte, wünscht sich die nachkommende Generation einen neuen und nach vorn blickenden Umgang mit der Vergangenheit. Deswegen entstand die gemeinsame Idee, eine alternative Gedenkveranstaltung zu machen. Verbunden zwischen Deutschland und Kurdistan. Und diese als Startpunkt für neue Projekte zu nutzen. Konkret heißt das, zum einen durch unsere Dokumentationen Aufmerksamkeit in Deutschland zu schaffen. Aber zum anderen auch zusammen mit den Betroffenen vor Ort Erinnerungsarbeit zu leisten. Und damit ihren Wünschen und Bedürfnissen einen Raum zu geben. Dabei geht es beispielsweise darum, gemeinsam neue Parks anzulegen mit jeweils einem Baum für jede getötete Person.

Durch diese gemeinsamen Projekte und die entstandenen Freundschaften der letzten Jahre fühlen wir uns immer herzlich willkommen in der Bevölkerung. Auch wenn immer klar kommuniziert wird, welche Verantwortung wir damit auch haben. Die Geschichten müssen erzählt werden.

Wie sieht es mit offiziellen Stellen aus? Seid ihr auf die Parteien vor Ort und die politischen Entscheidungsträger:innen zugegangen? Wie haben sie auf euch reagiert, bzw. wie gehen sie mit ihrer Geschichte um?

Mit Entscheidungsträger:innen in Kontakt zu treten ist schwierig, vor allem wenn man kritische Fragen stellt und weiterhin durch das Land reisen möchte. Darüber hinaus scheint es wirklich schwer, überhaupt etwas tiefer Gehendes als Antwort zu bekommen als die immer gleiche Mitleidsbekundung. Zumal es mit der wichtigsten Forderung der Hinterbliebenen, den Reparationszahlungen, eine komplizierte Sache ist. Eigentlich ist dafür die irakische Regierung zuständig. Doch seit 2013 wurde der kurdischen Regionalregierung mehr Autonomie zugesprochen, darunter auch der Handel mit dem Öl auf ihrem Gebiet. Dafür sollten sie aber die Reparationszahlungen übernehmen. Betroffene behaupten, das sei bis heute nicht passiert, die Regierung sagt, das ist passiert. Einsehen kann man den Zahlungsverkehr aber nicht. Grundsätzlich merken wir je nach Hintergrund andere Widerstände oder Unterstützung. Geht es bspw. um die Anfal-Kampagne oder Daesch-Angriffe, ist die Patriotische Union Kurdistans (YNK) immer zur Stelle und unterstützt uns mit Informationen, wo sie kann. Geht es aber um Helebce oder die Revolution im Iran, werden die Partei und ihre Anhänger:innen sehr verschlossen. Bei Helebce wird ihnen von der Bevölkerung ein Mitwissen um den bevorstehenden Angriff 1988 nachgesagt, und in Bezug auf den Iran bestehen wichtige Handelsbeziehungen.

Dieses Jahr soll es neue Wahlen geben in der Region. Viele erhoffen sich eine Neuerung. Nicht mehr zwei Familienparteien, die über das Land herrschen. Doch die meisten sind so resigniert, dass sie eine Änderung, egal mit welchen Mitteln, nicht sehen. Ohne Druck einer internationalen Gemeinschaft gibt es also keinen Grund, groß ’was zu ändern oder irgendwelche Reparationszahlungen zu leisten. Dementsprechend gibt es auch keinen Grund, als Entscheidungsträger:in mehr als das Notwendige zu sagen.

Dass die deutsche Bundesrepublik auch für den Angriff mitverantwortlich ist, ist mittlerweile längst bekannt, doch inwiefern wird von deutscher Seite Aufarbeitung betrieben? Oder auch damit zusammenhängend, was ist euer Eindruck, wie sehr der Giftgasangriff im Bewusstsein der deutschen Gesellschaft gegenwärtig ist? Wen oder was wollt ihr durch euern Film erreichen?

Während dir im Osten von Südkurdistan jeder Mensch sagen kann, dass Deutschland an dem Angriff mitverantwortlich war, teils sogar die Firmen aufzählen kann, die das Giftgas hergestellt haben, weiß das in Deutschland kaum jemand. Menschen, die in den 90er Jahren oder später geboren sind, sowieso nicht. Es ist erschreckend, wie wenig Bewusstsein zu den Themen existiert. Aber wie sollte es auch, wenn von Seiten der Regierung dazu nichts kommuniziert wird. Weder aufklärerisch, durch Bildung, Austausch und Veranstaltungen, noch juristisch. Erst 2006 begannen Prozesse gegen Einzelpersonen aus den deutschen Firmen, die an der Giftgasproduktion beteiligt waren. Am Ende gab es nur Bewährungsstrafen, die Firmen selbst wurden nicht belangt. Aber auch die Anerkennung dieser Gräueltaten überhaupt dauerte ewig. Erst Ende 2021 entschied der Bundestag, dass der Angriff auf Helebce ein Genozid war. Doch der Antrag der Linken auf Reparationszahlungen und ein aktives Handeln wurden abgelehnt. Dabei ist gerade dieses Nicht-Handeln und Nicht-Aufarbeiten der Bundesregierung etwas, das betreffende Verbände vor Ort stark anprangern. Dadurch wurden weitere Schäden, weitere Opfer zugelassen. Wunden, Krankheiten und Umweltschäden wurden nicht behandelt. Die Opfer sind nicht mehr »nur« die 5000 Toten und unzähligen Verletzten, sondern auch die Folgetoten durch die Verletzungen, durch Fehlgeburten, durch die Zerstörung der Umwelt.

Mit unserem Film wollen wir zum einen die Stimmen der Betroffenen nach Deutschland bringen, aber auch die Rolle und Verantwortung von Deutschland in den Giftgasangriffen in Helebce und in der Anfal-Operation klarmachen. Und weder hat es damit angefangen, noch hört es damit auf. Es muss klar sein, dass Giftgas gegen die kurdische Bevölkerung eine starke Kontinuität hat. Und diese Kontinuität zieht sich bis heute durch. Vermutliche Giftgasangriffe der Türkei und chemische Waffen in iranischen Mädchenschulen. Gäbe es Konsequenz aus vergangenen Einsätzen dieser Waffen, wäre ihr Einsatz heute schwieriger.

Wie kommt ihr gerade mit eurem Projekt voran? Wann wird der Film voraussichtlich fertiggestellt sein, und wo werden wir ihn sehen können?

Wir kommen ganz gut voran. Wir haben eigentlich alles Material aufgezeichnet, was wir wollten. Nun geht es an die Übersetzung des Materials, und danach können wir mit dem Schnitt beginnen. Doch die Übersetzung kostet viel Zeit und Geld. Da wir selbst das Ganze als Aktivist:innen machen, haben wir deswegen eine Crowdfunding-Kampagne auf Betterplace.me gestartet, um das Geld zusammenzubekommen. Je nachdem, wie lange diese Prozesse dauern, würden wir den Film gerne im Spätsommer/Herbst veröffentlichen. Die Frage, wo wir den Film veröffentlichen, ist auch noch eine große. Denn Dokumentar-Langfilme über »schwierige« politische Themen haben es in der europäischen Filmlandschaft besonders schwer. Erst recht, wenn sie nicht von einem öffentlich-rechtlichen Medium unterstützt werden. Wir sind aktuell auf der Suche nach Verleiher:innen, die den Film dann in die Kinos bringen sollen. So oder so wollen wir aber auch wieder eine kleine Tour durch die mitteleuropäischen Länder machen, den Film zeigen, aber auch Gespräche und Vorträge anbieten.

»Geruch nach Äpfeln« ist nicht euer erstes Projekt. Ihr wart bereits für andere Filme mehrfach in der Region. Wie wollt ihr perspektivisch weiterarbeiten?

Genau. »Geruch nach Äpfeln« wird unser erster Langfilm und unser vierter Film insgesamt. Davor haben wir zwei Kurzreportagen über das dezentrale Plastikupcycling-Projekt in Südkurdistan und die »Freedomship for Öcalan«-Tour 2021 gemacht. Und natürlich unseren mittellangen Dokumentarfilm über die Friedensdelegation 2021, mit dem wir im letzten Jahr auf Tour waren und den wir in 20 Städten europaweit und auf 25 Festivals weltweit zeigen durften. Anfang April wird er nun auf unserem Youtube-Channel (@yamediakollektiv) für alle zugänglich online gestellt.

Mittlerweile haben wir so viele wichtige Interviews geführt, dass wir wahrscheinlich als Nächstes erst einmal eine kleine Kurzfilmreihe mit den ganzen Interviews veröffentlichen werden. Aber auch die nächsten Projekte vor Ort werden nicht auf sich warten lassen. Unsere Freund:innen hier und in Südkurdistan haben auch schon viele Ideen. Und wir freuen uns auf die nächsten Themen.


 Kurdistan Report 227 | Mai/Juni 2023