Wie eine neue Form der Technik die Kriegsführung der Türkei verändert und die weltweite Straflosigkeit des ferngesteuerten Tötens zementiert

Drohnenkrieg in Kurdistan

Dîrok Hêvî


Es ist die zweite Oktoberwoche 2019, Massen von Kampfflugzeugen und schweren Geschützen bombardieren die Stadt Serêkaniyê und Umgebung. Es ist der dritte große Invasionsangriff des türkischen Staates gegen Nordsyrien nach Cerablus und al-Bab 20161 und Efrîn 20182. Inmitten der Bomben, der zerstörten Häuser und der vielen panischen Schreie der Kinder versuchen Heyde und ihr Mann Muhamed, die Kinder vor den Angriffen zu schützen. Nur mit Mühe und Not können sie den vielen Angriffen entgehen. Und trotzdem versuchen sie, ihr Leben weiterzuleben und gehen ihrer alltäglichen Arbeit auf dem Feld nach.

Drei Jahre später, es ist ein sonniger Tag im Spätsommer, und sie sind gerade mit den Kindern im Auto unterwegs. Plötzlich knallt es ohrenbetäubend laut, Splitter fliegen, und sie werden gegeneinander geschleudert. Muhamed, der am Steuer sitzt, überlebt die todbringende Attacke nicht. Heydes Körper ist voller Blut und Splitter. Die Kinder schreien, auch sie sind verletzt. Glücklicherweise können die Kinder im Krankenhaus behandelt werden und tragen keine lebenslangen physischen Schäden davon, aber die psychischen bleiben. Heyde ist nun alleine mit ihren sechs Kindern. Sie hat einen Arm verloren, und den anderen kann sie nur noch eingeschränkt bewegen. Wie viele andere, die der Krieg so schwer gezeichnet hat, fand sie Schutz in einem Camp für Kriegsvertriebene in der weiter südlich gelegenen Stadt Hesekê. Das Schicksal dieser Familie ist nur eines unter vielen, und es ist das Ergebnis und Zeugnis einer heimtückischen Waffe: einer bewaffneten Drohne.

Eine Drohne ist herkömmlich ein unbemanntes Flugobjekt zur Aufklärung, das aber auch mit Raketen bestückt werden kann. Eigentlich muss man es als ein unbemanntes Flugzeug beschreiben, bei dem der Pilot oder die Pilotin nicht im Cockpit, sondern weit entfernt an einem Steuerknüppel sitzt und das Objekt steuert.

Drohnen existieren eigentlich schon länger, sie haben aber besonders mit der sogenannten Strategie des »Krieges gegen den Terror« der USA und der westlichen Welt, die nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 begonnen wurde, an Bedeutung gewonnen. Seitdem sind militärisch eingesetzte Drohnen wegen ihrer unzähligen Einsätze und der vielen Zivilist:innen, die sie irgendwo in Afghanistan oder Pakistan getötet haben, als tödliche Waffe bekannt geworden. Über lange Zeit wurden Drohnen von Staaten gegen nicht staatliche Akteur:innen in sogenannter asymmetrischer Kriegsführung eingesetzt. Bis vor ein paar Jahren verfügten nur wenige Staaten über diese Technik, seit ca. zehn Jahren aber schritt die technische Entwicklung von Drohnen rasant voran, was sich daran zeigt, dass immer mehr Staaten versuchen, Drohnen zu erwerben oder selbst zu entwickeln. Im Jahr 2020 kamen Drohnen im Krieg in Bergkarabach erstmals zwischen zwei Staaten (Armenien und Aserbaidschan) zum Einsatz, was international sehr aufmerksam besonders deswegen betrachtet wurde, weil der Einsatz von Kampfdrohnen durch Aserbaidschan von verschiedenen Beobachtern gemeinhin als kriegsentscheidend bewertet wird. Auch im aktuellen Krieg in der Ukraine spielen Drohnen (unterschiedlicher Größe und Bauart) eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Kurzer Überblick zur Geschichte der Drohnenentwicklung

Die Geschichte der Drohnen reicht weit zurück bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges, obwohl man auch den Versuch, von dem David Hambling in seinem 2015 erschienenen Buch »Swarm Troopers« schreibt, im Jahr 1849 das belagerte Venedig mit Bomben beladenen, ferngesteuerten Heißtluftballons anzugreifen, als ersten Vorläufer eines Drohneneinsatzes bezeichnen könnte3. Konzentriert man sich aber eher auf die den heutigen Drohnen ähnelnden Modelle, muss man auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges blicken. Damals wurde in den USA eine Drohne entwickelt, die bereits ferngesteuert werden konnte und mit einer Kamera Live-Bilder lieferte, wenn auch in schlechter Qualität, aber es war ein wesentliches Ereignis in der Luftangriffswaffentechnologie.

Eine sehr entscheidende Rolle in einem Krieg spielten Drohnen erstmals, als Israel im sogenannten Libanonkrieg 1982 diese Waffe gegen Palästinenser:innen und die syrische Armee im Süden Libanons einsetzte, um die dortige Luftabwehr zu identifizieren. Zu dieser Zeit waren die Drohnen jedoch noch unbewaffnet und dienten nur zur Aufklärung und zur Koordination von Luftangriffen mit Flugzeugen. Mit der in den USA entwickelten Predator-Drohne änderte sich das, und 2004 erfolgte in Pakistan der erste bekannte Drohnenschlag, bei dem eine Drohne selbst die Rakete abfeuerte.

Vorteile für eine Kriegsführung haben Drohnen in vielerlei Hinsicht. So sind für die Staaten die Anschaffungskosten für Drohnen billiger als für traditionelle Kampfflugzeuge, und die militärtechnische Ausbildung für ihre Pilot:innen ist kürzer. Auch ist mit Drohneneinsätzen das Risiko eins Verlustes hinter den feindlichen Linien geringer. Gleichzeitig verschaffen Drohnen den Entsendenden die Möglichkeit, über lange Zeit aus der Entfernung mit Live-Bildern versorgt zu werden. Für Staaten, die Drohnen angeschafft haben, existiert auf dieser Grundlage gleichzeitig die Möglichkeit, mit bewaffneten Drohnen Angriffe durchzuführen oder Gegenden auszuspähen, ohne später dafür Verantwortung übernehmen zu müssen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Rolle militärisch eingesetzter Drohnen in militärischer bzw. geostrategischer Aufklärung, Koordination und Eliminierung von Gegnern besteht.

Die Geschichte der Drohnen in Kurdistan begann am 5. November 2007 in Washington, als Bush und Erdoğan ein Abkommen über die Nutzung von Drohnen unterschrieben. Damit reagierte die Türkei auf die erneuten Niederlagen und Misserfolge der türkischen Armee gegen die kurdische Guerilla bzw. die Selbstverteidigungskräfte. Wie schon viele Male zuvor war die Türkei durch die militärischen Niederlagen gegen die Guerilla dazu gezwungen, sich an die NATO zu wenden, um neue Militärtechnik zu bekommen, wie z.B. zu Beginn der 1990er Jahre als Deutschland der Türkei Leopard-Panzer und Wärmebildkameras lieferte. Eigentlich hätten Kampfdrohnen, wie Unterlagen zeigen, schon sehr viel früher in die Hände der Türkei gelangen können. Offensichtlich bestellte die Türkei bereits in den 1980er und 1990er Jahren mehrere Drohnen aus den USA. Auf Grund ausbleibender Zahlungen wurden diese jedoch niemals geliefert4. Jenseits der Zusage zur Drohnennutzung durch die USA Ende 2007 arbeitete die Türkei zu dieser Zeit bereits an der Entwicklung eigener Drohnen. Auch dabei war die NATO behilflich, indem sie türkischen Ingenieuren wichtige Ausbildungen im Ausland ermöglichte. Gleichzeitig lieferten viele NATO-Staaten der Türkei zentrale Teile für ihre Drohnen, wie z.B. Motoren, hochsensible Kamerasysteme etc., die die Türkei zu dieser Zeit noch nicht selbst entwickeln konnte. Inzwischen hat die Türkei viele verschiedene Drohnenmodelle gebaut und verfügt über Hunderttausende Flugstunden an Erfahrung, die nicht nur der Türkei, sondern der ganzen NATO zugutekommen. Angesichts ihrer Ambition, zu einer zentralen Militärmacht in der Region zu werden, verkauft die Türkei ihre Drohnen zunehmend auch an so unterschiedliche Staaten wie etwa Dschibuti, Katar und Kirgisistan.

Wie jeden Morgen machte sich Isa auch an diesem Tag zur Arbeit auf. Als er an der Metallfabrik, in der er als Wachmann arbeitet, ankommt, grüßt er seine Kollegen und setzt sich zu ihnen in das kleine Wachhäuschen. Einer seiner Kollegen reicht ihm ein kleines Glas mit Kaffee, und Isa fragt nach Neuigkeiten. Wenig später werden sie gebeten, nach draußen zu treten, damit das Zimmer geputzt werden kann. Draußen vertritt er sich die Füße, solange drinnen gereinigt wird, als es plötzlich kracht und eine Druckwelle ihn zu Boden schleudert. Während um ihn herum die Staubwolken aufsteigen und das Häuschen, in dem er gerade noch gesessen hat, vor seinen Augen in Schutt und Asche zerfallen ist, spürt er wie ein stechender Schmerz beginnt seinen Arm zu durchfahren. Verglichen mit denen, die im Wachhäuschen verblieben sind, hat er noch Glück, denn er lebt heute mit einer Platte in seinem Arm, er hat die Attacke überlebt. Die anderen haben an Ort und Stelle ihr Leben gelassen.

Auswirkungen des Drohnenkriegs in Kurdistan

Der immer exzessiver werdende Einsatz von Drohnen durch die Türkei hat ohne Zweifel eine nachhaltige Auswirkung auf die Menschen in Kurdistan, sowohl auf die Guerilla oder die Selbstverteidigungskräfte wie die YPG/YPJ in Rojava als natürlich v.a. auch auf die Gesellschaft als ganze. In Bezug auf die Selbstverteidigungskräfte lässt sich besonders in den letzten Jahren eine intensive Veränderung hinsichtlich der Organisierung, Unterkunft und Manöver beobachten. Um weniger sichtbar zu sein für die Drohnen, wird sich nicht nur in kleineren Gruppen bewegt, sondern die Unterkunft zumeist in den Untergrund verlegt, z. B. in selbstgebaute Höhlen. Zeitgleich wurden unterschiedliche Techniken entwickelt, um den Einsatz der Drohnen, die mit verschiedenen Kameras ausgestattet sind (Tageslicht-, Nachtsicht- und Wärmebildkamera), ins Leere laufen zu lassen. Diesbezüglich wird in Kurdistan von einer Professionalisierung der Verteidigungskräfte gesprochen. Diese scheint besonders in den Bergen Kurdistans so erfolgreich zu sein, dass der türkische Staat in den letzten Jahren wegen des Mangels an Erfolgen durch Drohneneinsätze zu einem intensiven Einsatz von verbotenen chemischen Kampfstoffen übergegangen ist, einer Methode, zu der die Türkei in geringerem Maße bereits in den 1990er Jahren in Nordkurdistan griff.

Hinsichtlich der gesellschaftlichen Auswirkung lässt sich feststellen, dass der intensive Drohneneinsatz besonders in Rojava natürlich die Gesellschaft bzw. das gesellschaftliche Leben stark beeinflusst. Wie das Rojava Information Center in seinem Bericht »Incessant War: Turkey’s Drone Campaign in North and East Syria« vom März 2023 aufzeigt5, wurden allein im letzten Jahr mindestens 25 Zivilist:innen bei türkischen Drohnenangriffen getötet und 79 verletzt, wobei allein 24 dieser Drohnenanschläge ausschließlich Zivilist:innen trafen. Die Zahl der Drohnenangriffe hat sich von 89 im Jahre 2021 auf 130 im Jahr 2022 erhöht. Dass es sich dabei nachweislich um türkische Drohnen handelt, ist aus einem Bericht der CAR (Conflict Armament Research), einer in Großbritannien ansässigen investigativen Organisation, vom Dezember 2022 deutlich ersichtlich. Für diesen Bericht untersuchte CAR 17 Raketenteile von Luft-Boden-Raketen an den Orten, an denen Drohnenangriffe stattfanden6.

Für Zivilist:innen in den angegriffenen Regionen bedeutet die allgegenwärtige türkische Drohnengefahr zunehmend, dass sie sich fragen, ob sie etwa wie bisher zu Veranstaltungen gehen bzw. ihre bisherigen Aktivitäten weiter verfolgen können, weil die verschiedenen Geschehnisse zeigen, dass selbst in unerwarteten Momenten und an undenkbaren Orten Drohnenschläge erfolgen können. Neben den vielen zivilen Opfern erzeugt allein die bloße ständige Anwesenheit von Drohnen über den Menschen am Himmel auf Dauer Angst und Schrecken.

In dem 2016 erschienenen Bericht »Leben unter Drohnen« der Stanford International Human Rights and Conflict Resolution Clinic wird herausgestellt, dass der Drohnenkrieg in Pakistan Langzeitfolgen für die mentale Gesundheit der Menschen dort hat. In dem Bericht wird geschrieben, dass die Drohnen permanente Angst und andauernden Stress erzeugen und zu Phobien führen können. Das Miterleben eines Drohnenschlags kann außerdem dazu führen, dass Menschen große Ansammlungen meiden und nicht mehr zu sozialen Veranstaltungen auf den Markt oder in die Schule gehen wollen7. In vielen Gegenden in Rojava ist das leise Summen der Drohnen inzwischen zu einem Alltagsgeräusch geworden, weil die todbringenden Flugobjekte so konstant am Himmel über den selbstverwalteten Gebieten kreisen.

Die Mär von der zielgenauen Terrorbekämpfung

Im Zusammenhang mit Drohneneinsätzen wird bezüglich der sogenannten »Terrorbekämpfung« gebetsmühlenartig wiederholt, dass ihr Vorteil darin bestehe, »Terrorist:innen« zielgenau zu bekämpfen und dadurch zivile Opfer zu vermeiden. Dieses Narrativ gewinnt jedoch dadurch, dass es oft wiedergegeben wird weder an Glaubwürdigkeit noch an Wahrheit. Für den Zeitraum von Beginn der ersten Drohnenschläge zu Anfang dieses Jahrhunderts in Pakistan und Afghanistan gegen vermeintlich den Taliban oder Al-Qaida zuzuordnende Ziele bis heute wird vermutet, dass die Mehrheit der Opfer von Drohnenanschlägen Zivilist:innen sind. Zuletzt war das vor aller Augen in Afghanistan zu sehen, als sich US-Streitkräfte im August 2021 aus Afghanistan zurückzogen. Hier sprengte sich ein Selbstmordattentäter des IS-K8 vor dem Flughafengelände in die Luft, was zu 170 zivilen Opfern und zum Tod von 13 US-Soldaten führte. Nur Tage später erfolgte dann ein gezielter Drohnenschlag im Zentrum von Kabul, autorisiert durch die US-Regierung. Das Opfer, so ließ die USA verlauten, sei der mutmaßliche »Strippenzieher« der Attacke gewesen. Doch nur wenige Tage später wurde klar, dass die zehn Opfer ein afghanischer Vater und neun seiner Familienmitglieder waren, von denen Sumaya, das jüngste Kind, erst zwei Jahre alt war. Der vermeintliche Hintermann des Attentats wurde von der Drohne beobachtet, wie er Wasserkanister in sein Auto lud, was offenbar ausreichte, um ihn als Terroristen zu identifizieren. Sicherlich wegen der hohen öffentlichen Aufmerksamkeit für die Ereignisse in Afghanistan zu dieser Zeit waren die USA gezwungen, sich öffentlich für diesen Fehler, wie sie es nannten, zu entschuldigen. Trotzdem werde es für die involvierten Soldaten keine Folgen haben, verkündete das Pentagon im Dezember 2021. Wären nicht die Kameras der Welt in diesen Momenten auf Afghanistan gerichtet gewesen, wären Zamairi Ahmadi und seine Familienmitglieder wohl nur einige von Tausenden zivilen Opfern von US-Drohnenangriffen geworden, von denen niemand je etwas erfahren hat. Womöglich wäre er als erfolgreich eliminiertes Terrorziel in irgendeine US-Statistik eingeflossen, die damit aufs Neue die vermeintlichen Erfolge des Einsatzes dieser Drohnen beim Schutz von Zivilist:innen durch zielgenaue Eliminierung beweisen würde.

Hunderte, wenn nicht sogar Tausende dieser Beispiele gibt es unter anderem aus Ländern wie Afghanistan, Pakistan, Palästina, Somalia und Kurdistan zu berichten. In einem Artikel der New York Times (NYT) vom Mai 2012 z.B. wird berichtet, dass alle männlichen Opfer im kampffähigen Alter durch die USA als eliminierte Kämpfer gezählt werden, wenn nicht nachträglich ausdrücklich kontrastierende Informationen eingehen9. Für die Praxis anderer Länder gilt Ähnliches. In einem anderen Bericht der NYT vom 18. Dezember 2021 unter dem Titel »The Civilian Casualty Files« wird berichtet, dass es etwa 1300 zivile Opfer von US-Drohnenangriffen geben könne10. Amnesty International spricht in einem Bericht aus dem Jahre 2020 sogar von 1551 durch die USA seit 2004 bei Drohnenangriffen getöteten Zivilist:innen11. Man kann sich auf Grund des offenen Rassismus‘ und der antikurdischen Politik des türkischen Staates leicht vorstellen, wie das wohl in der Türkei gehandhabt wird, wo ununterbrochen ausschließlich Erfolgsmeldungen von erfolgreichen Attacken der Armee über die Fernsehbildschirme flimmern.

Ronahî, die vier Jahre zuvor unter den türkischen Bomben gezwungen war, Efrîn zu verlassen, saß mit ihren Nachbarn zusammen, und sie unterhielten sich fröhlich. Hier in Şehba waren sie immerhin nicht allzu weit von ihrem geliebten Efrîn entfernt, in das sie alle sobald wie möglich wieder zurückkehren wollten. Immer wieder bat sie die Kinder, nicht so laut zu sein, damit sie einander verstehen könnten. Dann plötzlich gab es eine riesige Explosion, als ein Drohnenschlag ihr Haus traf. Umgeben von Staub hörte sie ihre Kinder schreien. Sie sah ihren Sohn Mahmud blutüberströmt neben sich, hob ihn auf und lief mit ihm ins Badezimmer, um das Blut abzuwaschen. Doch sie musste feststellen, dass die Wunde an seinem Kopf einfach nicht aufhörte zu bluten. Sie blutete so stark, dass sie es nicht mehr schafften, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Die anderen Kinder wurden zum Glück nicht ganz so schwer verwundet; sie haben mit Splittern und kleineren Wunden den Angriff überstanden. Ronahî selbst wurde am Rücken und am Bein verletzt. Einer ihrer Nachbarn verlor ein Auge.

Wie der Drohnenkrieg das staatliche Justizsystem aushebelt

Ein wichtiger Aspekt, auf den hinsichtlich der Nutzung von Drohnen eingegangen werden muss, der jedoch im öffentlichen Diskurs viel zu wenig Aufmerksamkeit erfährt, ist die juristische Frage. Nach einem Drohnenschlag in Kabul, der den Al-Kaida-Chef al-Sawahiri im August 2022 tötete, äußerten sich mehrere renommierte Jurist:innen wie etwa der Berliner Jurist Wolfgang Kaleck oder der Völkerrechtler Christoph Safferling dazu, dass dieser tödliche Drohnenangriff gegen internationales Recht verstoßen habe. Wenn also schon bei diesem Drohnenschlag gegen al-Sawahiri die Rechtslage so problematisch ist, wie sieht es dann erst bei den vielen Tausend anderen Drohnenschlägen aus, denen Zivilist:innen zum Opfer fielen.

Was in Bezug auf die Nutzung von Drohnen durch Staaten beobachtet werden kann, ist im Grunde genommen ein Aushebeln des staatlichen Justizsystems bzw. seine Außerkraftsetzung. Während in den Ländern, die Drohnen einsetzen, die von diesen Staaten als »Terrorist:innen« eingestuften Menschen einen Prozess auf Basis des dort geltenden Rechts bekommen müssten, wird dieses mittels tödlichem Drohneneinsatz einfach ausgehebelt. Gleichzeitig ist dabei wichtig klarzustellen, dass bei den Drohnenangriffen kein Unterschied gemacht wird, ob die Zielperson bewaffnet ist oder vielleicht überhaupt keine Aktivitäten gegen den angreifenden Staat unternommen hat. Für eine entsprechende Prüfung gibt es keinen Raum. Und selbst wenn es den gäbe, widerspräche diese Vorgehensweise der Logik der Justiz. Solche Vorgehensweisen schaffen ein System, in dem der Staat willkürlich Personen als gefährlich, terroristisch etc. einstuft und auf Grund dessen ermordet. Wen es am Ende trifft, ob der tödliche Drohneneinsatz rechtens war oder nicht und weitere Fragen werden nicht gestellt. Diese Praxis scheint gerade deswegen so viel Popularität zu erfahren, weil sie im Grunde genommen keine Konsequenzen mit sich bringt; sie bedeutet die Schaffung eines rechtsfreien Raumes. Und dadurch, dass »der große Bruder USA« mit dem Beispiel vorangeht, völlig ohne Konsequenzen jede:n zu ermorden, der:die ihm vor die Drohnen-Kamera kommt, ist es keine Überraschung, dass so viele andere folgen. Die moralische Legitimität dieser Tötungen gilt natürlich nur für die westlichen bzw. vom Westen unterstützten Staaten, denn sobald durch den Westen in Ungnade gefallene Staaten auf solche Weise agieren, handelt es sich selbstverständlich um schreckliche Verbrechen.

Fazit oder was tun?

Ohne Zweifel scheinen die Angriffe mit Drohnen im globalen Kontext mehr und mehr zuzunehmen, und aller Voraussicht nach wird sich ihre Zahl noch sehr viel mehr steigern, wobei nicht nur große Kampfdrohnen, sondern zunehmend auch kleine Drohnen eine Rolle spielen werden. In zukünftigen Kriegen werden, wie z. B. schon 2020 in Bergkarabach und aktuell in der Ukraine zu sehen ist, Drohnen immer mehr zu entscheidenden Faktoren in der Kriegsführung werden. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie sich weltweit die Zivilgesellschaft dazu positionieren wird. Noch scheint der Einsatz von Drohnen eher ein Randthema zu sein, und so gibt es wenig Anstrengungen in westlichen Ländern hinsichtlich irgendeiner Form von Regulierungen für den Einsatz von Kampfdrohnen.

In den betroffenen Ländern, in denen fast täglich die Raketen der Drohnen einschlagen und das Leben von Menschen beenden oder viele Menschen für immer verletzt zurücklassen, gibt es einen markerschütternd eindringlichen Ruf nach Gerechtigkeit, der jedoch im Westen nicht erhört wird bzw. gehört werden will. So scheinen auch die angestrengten Gerichtsverfahren z.B. in Pakistan gegen die USA wenig Aussicht auf Erfolg zu haben. Gleichzeitig finden die vielen Geschichten derjenigen, der spielenden Kinder, der lachenden Mütter, der hart arbeitenden Nachbarn etc., deren Leben ausgelöscht oder für immer gezeichnet ist, kein Gehör. Ihre Geschichten finden keinen Weg in den Fokus der Weltöffentlichkeit, weswegen sie allenthalben nur als Zahlen in irgendwelchen Statistiken zurückbleiben, meistens wohl sogar einsortiert unter den Schuldigen.

Es scheint offensichtlich, dass gegen diese schreiende Ungerechtigkeit schnell etwas getan werden muss. Auf kurze Sicht könnte in Deutschland z. B. Druck ausgeübt werden, keine essentiellen Drohnenteile mehr an die Türkei zu liefern. Gleichzeitig müssen öffentlicher Druck und eine Debatte aufgebaut werden, die verhindern, dass die Türkei ungehindert und ohne jegliche Konsequenzen wen auch immer mit Drohnen ermorden sowie ungestraft verbotene chemische Kampfstoffe einsetzen kann. Dafür braucht es auch mehr Journalist:innen, die über dieses Thema konkreter berichten. Solange die Türkei keine Konsequenzen fürchten muss, wird sie in dieser Hinsicht keine Veränderung vornehmen. Dass die Türkei dabei natürlich tatkräftig von ihrem NATO-Partner USA, doch auch von Russland unterstützt wird, zeigt sich daran, dass, obwohl die Lufträume über Rojava sich entweder unter Kontrolle der USA oder Russlands befinden, diese türkischen Drohnenanschläge ununterbrochen erfolgen können. Hätten die USA oder Russland ein ernsthaftes Interesse daran, den Menschen in Rojava Schutz zu bieten, könnte die Türkei nicht einfach mit ihren Drohnen ununterbrochen über Rojava kreisen. Doch um den türkischen Staat zufriedenzustellen und die Revolution in Kurdistan zu schwächen, wird der Türkei grünes Licht gegeben.

Neben intensivem Druck auf die Türkei und diejenigen, die die Türkei bei ihrer Drohnenpolitik unterstützen, bedarf es einer Debatte über die konsequenzenlose Tötung von Tausenden Zivilist:innen weltweit durch Drohnen. Dafür könnte eine internationale Konferenz oder Tagung, die die verschiedenen Opfergruppen z. B. aus Afghanistan, Pakistan, Palästina, Somalia, Kurdistan, dem Jemen etc. sowie Expert:innen und NGOs zu dem Thema zusammenbringt, eine Arbeit sein, die eine wichtige Rolle spielen könnte. Es ist völlig klar, dass die Staaten auf der einen Seite kein Interesse an jedweder Form von Regelung bezüglich des Einsatzes bewaffneter Drohnen haben, auf der anderen Seite die Völker, die unter Drohneneinsätzen leiden, den dringenden Wunsch verspüren, dass dieses ungestrafte Töten endlich endet. Menschen im Westen, die sich mit denen im globalen Süden, dort, wo die vielen ungesühnten Tötungen durch Drohnen täglich stattfinden, solidarisieren wollen, könnten dies tun, indem sie Druck aufbauen und diese Ungerechtigkeit ans Licht der Öffentlichkeit bringen.

Es ist Sommer, und in der brennenden Hitze schlängelt sich ein Auto über die staubigen Straßen. Die Klimaanlage summt leise. Jiyan ist etwas erschöpft. Gerade hat sie in Qamişlo auf der zentralen Frauenkonferenz zum zehnjährigen Jubiläum der kurdischen Revolution gesprochen. Als Kommandantin in der autonomen Fraueneinheit YPJ hat sie eine wichtige Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat eingenommen. Heute ist sie Teil der Kommandostruktur der Antiterroreinheiten, die mit der internationalen Anti-IS-Koalition gemeinsam weiter den IS bekämpfen. Sie wurde mehrmals verwundet, doch sie macht weiter. Sie gehörte zu den Zehntausenden die dazu beigetragen haben, dass der Islamische Staat besiegt wurde und dessen Terroranschläge in Europa aufgehört haben. Durch eine Dokumentation, die ihren schmerzvollen Heilungsprozess verfolgt, konnten Zehntausende weltweit an ihrem Kampf teilhaben12. Überall auf der Welt sprachen Politiker:innen davon, in welcher Schuld man diesen Kurd:innen gegenüber stehe und welche Opfer im Kampf gegen den IS sie brachten. Während Jiyan aus dem Fenster sieht und die vorbeifliegende Landschaft beobachtet, etwas in Gedanken versunken, zerreißt eine Explosion das Auto. Die drei Kämpferinnen Jiyan, Roj und Barîn …

Fußnoten:

1 - Bei der nördlichen al-Bab-Offensive (September 2016) handelte es sich um eine militärische Offensive als Teil der dritten Phase der Operation »Euphrat-Schild«. Türkische Streitkräfte, Fraktionen der Freien Syrischen Armee und verbündete Gruppen verfolgten das Ziel, die nördlich von Aleppo gelegenen Städte al-Bab und Cerablus zu erobern.

2 - Die türkische Militäroffensive auf Efrîn begann offiziell am 20. Januar 2018 unter dem Namen »Operation Olivenzweig« auf Befehl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, wobei der Name zynisch auf das Friedenssymbol des Olivenzweigs anspielt.

3 - vgl. David Hambling, Swarm Troopers – How Small Drones Will Conquer the World, S. 15.

4 - vgl. David Hambling, Swarm Troopers – How Small Drones Will Conquer the World, S. 37.

5 - vgl. https://rojavainformationcenter.com/2023/03/incessant-war-turkeys-drone-campaign-in-nes-2022/

6 - vgl. https://www.conflictarm.com/perspectives/missile-components-used-in-drone-attacks-in-northeast-syria/

7 - vgl. https://law.stanford.edu/projects/living-under-drones/

8 - Den genannten Anschlag reklamierte der afghanische Ableger des «Islamischen Staats”, IS-K, für sich. Das K steht für Khorasan, eine historische Region in Zentralasien, die auch Afghanistan umfasst.

9 - vgl. https://www.nytimes.com/2012/05/29/world/obamas-leadership-in-war-on-al-qaeda.html .

10 - vgl. https://www.nytimes.com/interactive/2021/12/18/us/airstrikes-pentagon-records-civilian-deaths.html .

11 - vgl. https://www.amnesty.org.uk/thank-you-us-deadly-drones .

12 - Der Film heißt auf English «Jiyan’s Story: Women’s Revolution”.

 


 Kurdistan Report 227 | Mai/Juni 2023