Aktuelle Bewertung

Der Kampf der demokratischen Moderne und ihre Erfolge gegen den türkischen Faschismus

Navdar Serhat


Wir nähern uns dem Ende des ersten Viertels des 21. Jahrhunderts, und die gesellschaftlichen Probleme, die auf den Beginn der Zivilisationsgeschichte zurückzuführen sind, wachsen weiterhin an. Vom Patriarchat bis hin zum ökologischen Desaster, von der Nichtexistenz von Demokratie und Freiheit bis hin zu den unhaltbaren ökonomischen Problemen unserer Gegenwart – wir sind wahrlich mit großen Herausforderungen konfrontiert.

Das Problem mangelnder Freiheit der Menschheit ist nicht neu. Es taucht in der Menschheitsgeschichte mit der Geburt der Hierarchie und des Staates auf. Der Kapitalismus, der sich der kommunal-demokratischen Gesellschaft aufzwang, hat nie eine Lösung dieses Problems angestrebt. Die kapitalistische Moderne ist ein Regime, das selbst beständig gesellschaftliche Probleme produziert, obwohl sie der Gesellschaft das Gegenteil suggeriert. Um tatsächlich die gesellschaftlichen Probleme an der Wurzel packen zu können, müssen wir ohne Zweifel den Kapitalismus überwinden. Die Lösungslosigkeit, die uns das gegenwärtige System präsentiert, eröffnet nämlich zugleich die Möglichkeit einer Revolution im Sinne der Freiheit des Menschen und der Gesellschaft. Da die kapitalistische Moderne nicht ihr eigenes Ende besiegeln will oder kann, fährt sie fort, neue Krisen zu erschaffen, die Menschheit in ein Chaos zu führen und die gesellschaftlichen Probleme zu vertiefen.

Kurdistan, ein Zentrum von revolutionären Prozessen

Eine der größten Krisen der staatlichen Zivilisation ist im Mittleren Osten zu beobachten. Der Mittlere Osten, eine Wiege der gleichberechtigten und freiheitlichen Kultur der demokratischen kommunalen Gesellschaft, befindet sich im Zustand des kulturellen Widerstands gegen die kapitalistische Moderne. Im Laufe der Geschichte hat dieser Widerstand in vielen verschiedenen Formen und Ausprägungen existiert. Jede neue Erscheinung beinhaltete eine Opposition gegen die reaktionäre, kapitalistische und kolonialistische Macht der jeweiligen Epoche. Diese Form des Widerstands und der Rebellion hat es vor allem im Mittleren Osten gegeben. Ein Blick auf alle Epochen der Geschichte zeigt deutlich, dass der Mittlere Osten, die Wiege der Gesellschaftlichkeit, diese Kultur in der einen oder anderen Form bewahrt hat.

Kurdistan als ein Zentrum von revolutionären Prozessen ist heute Zeuge wichtiger Entwicklungen. Dieses Land ist nicht nur besetzt, die kolonialistischen Mächte nehmen sich seit jeher auch das Recht, jegliche Verbrechen gegen die Bevölkerung zu begehen. Doch gleichzeitig ist Kurdistan der Schauplatz eines wichtigen und historischen Widerstands. Der türkische Besatzungsstaat agiert nicht nur mit der Rückendeckung der Mächte der kapitalistischen Moderne, er greift auch die Guerillakräfte Kurdistans und alle weiteren Akteur:innen der demokratischen Moderne mit allen Mitteln an. Doch der Widerstand, mit dem die Türkei konfrontiert ist, bereitet ihr auch Kopfschmerzen. Wie verzweifelt die türkische Regierung agiert, wird am pausenlosen Einsatz von chemischen Kampfstoffen in den Bergen Kurdistans ersichtlich.

Selbstverständlich trägt nicht nur die Türkei die Verantwortung für die koloniale und genozidale Politik in Kurdistan. Auch wenn der türkische Staat die ausführende Kraft darstellt, wissen wir, dass auch andere Akteur:innen der kapitalistischen Moderne Verantwortung tragen. Diese Kräfte wollen nicht nur den von der PKK geführten Widerstand für eine demokratische und freie Gesellschaft brechen. Sie wollen auch verhindern, dass die Erfahrungen dieses Freiheitskampfes und des gesellschaftlichen Widerstands im Mittleren Osten weiter Wurzeln schlagen oder sich gar noch verbreiten. Sie wollen mit ihren Angriffen eigentlich ihrem Willen Ausdruck verleihen, dass sie keine gesellschaftliche Alternative jenseits ihrer Wahrheit zu akzeptieren bereit sind.

Angriffe auf die Freiheitsbewegung Kurdistans halten unvermindert an

Die Linie der Freiheit, die von der PKK angeführt wird, stützt sich nicht auf eine äußere Kraft und hat eine konstante Stabilität, weil sie ihre ganze Kraft aus der demokratisch-kommunalen Gesellschaft schöpft. Auf der Grundlage dieser Kraft wird die Organisierung eines demokratischen Gesellschaftssystems vorangetrieben. Diese Kraft ist, wie wir bereits festgehalten haben, vielseitigen Angriffen ausgesetzt. Einer der schwerwiegendsten Angriffe war das internationale Komplott vom 15. Februar 1999. An diesem Tag wurde der kurdische Repräsentant Abdullah Öcalan, der zugleich der Vordenker des Paradigmas der demokratischen Moderne ist, durch eine Kooperation der Mächte der kapitalistischen Moderne entführt und der Türkei übergeben. Dieses Komplott verfolgte ohne jeden Zweifel das Ziel, den Widerstand der demokratischen Moderne zu brechen. Nach der Entführung Öcalans folgten die Invasionen in Afghanistan und im Irak. Die kapitalistische Moderne wollte die Region in ihrem Sinne neu strukturieren und sah in Abdullah Öcalan und dem von ihm angeführten Freiheitskampf ein Hindernis hierfür. Aus diesem Grund wollte sie durch die Gefangennahme Öcalans die PKK liquidieren und die Hoffnung auf eine Alternative im Mittleren Osten auslöschen.

Die Angriffe auf die Freiheitsbewegung Kurdistans und das von ihr angestrebte Gesellschaftssystem dauern bis heute an. Der türkische Staat ist die ausführende Hand dieser Angriffe. Er symbolisiert so wie kein anderer die Feindschaft gegenüber dem Freiheits- und Demokratiebestreben der Kurd:innen, der Frauen und der Völker im Allgemeinen. Allen Angriffen zum Trotz ist es dem türkischen Staat nicht gelungen, den Freiheitskampf in Kurdistan zu bezwingen.

Wahlen am 14. Mai haben besondere Bedeutung

Am 14. Mai sind die Menschen in der Türkei nun zu einer wichtigen Wahl aufgerufen. Die faschistische AKP/MHP-Regierung geht geschwächt in die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und verliert zunehmend an Rückhalt. Ihr Regime beruht auf dem Versprechen, die Kurd:innen, die Alevit:innen und alle anderen gesellschaftlichen Gruppen, die von der türkisch-sunnitischen »Norm« abweichen, auszulöschen. Doch der Widerstandsgeist der Völker hat ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Auswirkungen dieser Niederlage sind so schwerwiegend, dass der als Opposition bezeichnete Block hieraus große Hoffnungen schöpft. Oppositionsparteien wie die CHP, die zuvor nicht ihre Stimme gegen die faschistische AKP/MHP-Regierung erheben konnten, haben nun plötzlich den Mut, den Regierungsblock um Erdoğan offen anzuklagen. Das haben sie allein denjenigen Kräften zu verdanken, die auch dann lauthals die faschistischen Praktiken dieser Regierung angegriffen haben, als alle anderen sich in kollektives Schweigen hüllten.

Bei den Wahlen am 14. Mai konkurrieren zwei Wahlblöcke miteinander, von denen keiner über eine nachhaltige Lösungsperspektive für die gesellschaftlichen Probleme verfügt. Der eine Block repräsentiert das »alte« Regime der Türkei, während der andere das »neue« Regime islamistisch-faschistischer Ausprägung repräsentiert. Letzterer, angeführt von AKP und MHP, gesteht ganz offen ein, dass er keine Perspektive für eine Lösung hat. Seine Mitgliedsparteien wollen ihr Vernichtungskonzept gegen die Kurd:innen und alle anderen unterdrückten Teile der Gesellschaft ausweiten und vertiefen. In diesem Sinne betreiben sie ihre Wahlpropaganda. Der andere Block weist als gemeinsamen Nenner die Gegnerschaft zum Erdoğan-Regime auf. Nach einem möglichen Wahlsieg wollen seine Mitglieder die Macht im Staate unter sich neu aufteilen. Doch darüber hinaus ist auch bei ihnen keine Perspektive hinsichtlich einer Lösung der gesellschaftlichen Fragen zu erkennen.

Das Gleichgewicht ins Schwanken bringen

Neben diesen beiden Bündnissen, die sich doch in Vielem sehr ähnlich sind, gibt es eine dritte Kraft, die das Gleichgewicht ins Schwanken bringen könnte. Es handelt sich um das Bündnis für Arbeit und Freiheit. Hier kommen Kurd:innen, Sozialist:innen, Frauen, die Jugend und verschiedene Glaubensgemeinschaften zusammen. Und sie werden eine entscheidende Rolle bei diesen Wahlen spielen. Ihr Ziel ist nicht nur der Sturz des faschistischen Erdoğan-Regimes, sie wollen und müssen ihre Perspektive für die Lösung der gesellschaftlichen Fragen den Menschen vermitteln und so das zukünftige Schicksal des Landes mitbestimmen.

Die Wahlen in der Türkei sind derzeit weit über die türkischen Grenzen hinaus ein vieldiskutiertes Thema. Denn die Türkei ist einer der beiden Staaten mit hegemonialen Ansprüchen im Mittleren Osten. In den letzten Jahren hat sie Besatzungsaktivitäten in Ländern wie Syrien, Südkurdistan, Libyen, Armenien-Karabach unternommen. Aus diesem Grund wird jede Entwicklung, die Erdoğans Macht betrifft, Auswirkungen auf die Region haben. Jede Macht, die Beziehungen und Widersprüche zur Türkei hat, vermeidet es jetzt, strategische Vereinbarungen mit der Erdoğan-Regierung zu treffen. Nicht wenige Akteur:innen in der Region bereiten sich auf die Möglichkeit eines Machtwechsels in der Türkei vor.

Doch es ist noch keineswegs geklärt, was am Wahltag passieren wird. Viele fragen sich auch, wie Erdoğan handeln wird, wenn er merkt, dass alle seine Tricks und Kniffe seine Niederlage nicht verhindern konnten. Das AKP/MHP-Regime, das die Türkei in den Abgrund gerissen hat, ist in den Augen der Gesellschaft eigentlich besiegt. Aber der Erfolg im Kampf gegen das Erdoğan-Regime ist keine Angelegenheit, die durch ein bloßes Wahlergebnis garantiert werden kann.

Irak, Iran, Südkurdistan …

Der Irak konnte die politische und soziale Krise nach dem Sturz Saddam Husseins nicht hinter sich lassen. Die irakischen Wahlen im Herbst 2021 reichten nicht aus, um diese Krise zu überwinden, und es dauerte mehr als ein Jahr, um eine Regierung zu bilden. Die von der Türkei unterstützte Allianz aus dem schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadr, der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) und verschiedenen sunnitischen Gruppen tat ihr Bestes, um eine Regierung zu bilden. Doch der iranische Faktor in der Region verhinderte diesen Plan. Der iranische Staat betrachtet den Irak als Teil seines eigenen nationalen Sicherheitsproblems. Aus diesem Grund verfolgt er jede Entwicklung auf irakischem Boden aufmerksam und übt nötigenfalls direkten Einfluss aus. Obwohl er es nicht offen zum Ausdruck brachte, sah er das Bündnis zwischen Sadr, PDK und den Sunniten als eine Allianz an, die sich gegen ihn selbst richtet und von ausländischen Mächten unterstützt wird. Daher betrachtete Teheran sie als eine ernsthafte Bedrohung für sich selbst. Der Iran benannte die USA und die Golfstaaten als Verantwortliche und Förderer dieser Allianz. Mit einer Mischung aus feinfühliger politischer Einflussnahme und direktem Druck zerschlug er dieses Bündnis und vereitelte dessen Regierungspläne. Schließlich brachte der Iran eine Regierung an die Macht, die hauptsächlich aus ihm nahestehenden schiitischen Parteien bestand und von bestimmten kurdischen Parteien von außen unterstützt wird.

Obwohl die Regierung von Mohammed Shia’ al-Sudani mit einem gewissen Konsens an die Macht kam, steht sie unter starkem internen und externen Druck. Die angehäuften Probleme des Iraks liegen offen vor ihr. Der politische, wirtschaftliche und ideologische Einfluss Irans auf den Irak setzt sich in vielen Bereichen fort. Die größte Bedrohung geht allerdings von der türkischen Besatzungspolitik in Südkurdistan aus. Über diese Besatzungszone versucht die Türkei, ihren Einfluss auf den gesamten Irak zu entfalten. Die Türkei verfolgt eine Politik, mit der sie die bestehenden Probleme des Irak anheizt und instrumentalisiert, um die irakische Regierung zu destabilisieren. Die größte Unterstützung erhält der türkische Besatzungsstaat dabei von der südkurdischen PDK unter der Führung der Barzanîs.

Die Regierung al-Sudanis steht nicht nur unter starkem Druck, sie scheint auch weit davon entfernt zu sein, Lösungen für diese Probleme zu finden. Der Versuch, die verschiedenen Interessen von regionalen Akteur:innen im Irak in einer Art Gleichgewicht zu halten, muss auf lange Sicht scheitern. Jede Macht, die die gesellschaftlichen Probleme nicht mit einer demokratischen Perspektive angeht, wird früher oder später an ihnen zugrunde gehen. Auch scheint die Gesellschaft nicht länger bereit, eine Politik der »Nichtlösung« zu akzeptieren. Denn die Wut der Bevölkerung kulminiert in zeitlichen Abständen immer wieder in großen Protesten.

Südkurdistan ist für den Freiheitskampf Kurdistans von sehr großer strategischer Bedeutung. Die PDK, die jahrelang von der kapitalistischen Hegemonie als Ansprechpartnerin des kurdischen Volkes auserkoren wurde, ist durch die von ihr begangenen Verbrechen entlarvt worden. Seit geraumer Zeit wird mit besonderen Bemühungen des UN-Vertreters und dem Druck von Staaten wie den USA und Großbritannien versucht, die PDK und YNK (Patriotische Union Kurdistans) an einen Tisch zu bringen. In dem Prozess, der mit dem Plan zur Aufstellung einer gemeinsamen Streitmacht eingeleitet wurde, weigerte sich die PDK, ihre Privilegien und Vorrechte mit der kurdischen Bevölkerung zu teilen. Die YNK hingegen, die ihren bisherigen Status nicht länger akzeptiert, versuchte Änderungen des antidemokratischen Wahlgesetzes und einen neuen Verteilungsschlüssel für die Einnahmen von Südkurdistan auf die Tagesordnung zu setzen. Auch wenn das Thema nicht nach außen getragen wurde, war auch der Versuch, die YNK in ein »Anti-PKK-Bündnis« einzubinden, Teil der Verhandlungen. Doch die Bemühungen der PDK und der türkischen Regierung in diese Richtung zeigten keinen Erfolg. Denn die YNK hatte verstanden, dass eine Einwilligung bei diesem Thema auf lange Sicht nur ihr selbst geschadet hätte.

Für das AKP-Regime ist diese Haltung der YNK natürlich ärgerlich. So kurz vor den Wahlen setzt Erdoğan seine Hoffnungen auf außenpolitische Erfolgsmeldungen. Diese versucht er, im Krieg in Kurdistan einzufahren. Doch als dem türkischen Staat das gewünschte grüne Licht für eine erneute Militäroffensive in Nordsyrien von Seiten der USA und Russlands verweigert wurde, schlug er verzweifelt den Weg der Verhandlungen und einer möglichen Versöhnung mit dem Assad-Regime ein, mit dem er seit jeher verfeindet ist. Mit einer Geschwindigkeit, die in jeder Hinsicht alle überraschte, kündigte Erdoğan an, dass er sich durchaus ein Treffen mit Assad vorstellen könne. Im Gegenzug brachte er seine Erwartung zum Ausdruck, dass er sich die Liquidierung der Revolution von Rojava und ihrer Errungenschaften vom Regime wünscht. Doch Erdoğans Pläne waren wohl zu durchschaubar, denn Assad wirkte wenig überzeugt von ihnen. Der Machthaber in Damaskus hat vor den Wahlen in der Türkei kein Interesse, sich mit Erdoğan ablichten zu lassen. Auch hier gab es also keine Erfolgsmeldungen für Erdoğan.

Kurdische Freiheitsbewegung spielt eine Schlüsselrolle für die Zukunft der Region

Wie wir es auch drehen und wenden: Die kurdische Freiheits­bewegung und die politischen Bewegungen und Strukturen, die sich auf die Konzepte von Abdullah Öcalan beziehen, spielen eine Schlüsselrolle für die Zukunft der Region. Die Wahlen in der Türkei und die Entwicklungen danach, die Zukunft Syriens vor dem Hintergrund der Revolution in Rojava, die Proteste in Rojhilat (Ostkurdistan) und im Iran unter dem Slogan der kurdischen Freiheitsbewegung »Jin, Jiyan, Azadî« (Frau, Leben, Freiheit) sowie die dynamischen Entwicklungen im Irak und in Südkurdistan: In allem spielt der Widerstand der Kräfte der demokratischen Moderne, angeführt von der kurdischen Freiheitsbewegung, eine nicht wegzudenkende gewichtige Rolle. Allen Angriffen zum Trotz schlagen die Ideen Öcalans gerade in der Region Wurzeln. Es gibt also allen Grund zur Hoffnung, dass wir glücklicheren Tagen entgegengehen, in denen Mensch und Gesellschaft in Demokratie und Freiheit leben können.


 Kurdistan Report 227 | Mai/Juni 2023