Bleiberecht statt Abschiebung, Wohnungen statt Lager, Sicherheit für alle statt rassistische Polizeigewalt ...
»Ohne Allianzen geht es nicht«
Rechtshilfefonds AZADÎ im Gespräch mit Jibran Khalil von Jugendliche ohne Grenzen zu den Protesten anlässlich der Innenminister:innenkonferenz
Am 25. Mai fand eine Kundgebung des Bündnisses »Mut zu antirassistischer Migrationspolitik« vor dem Bundesrat in Berlin statt. Zeitgleich trafen sich Staatssekretär:innen aus Bund und Ländern, um die Frühlingstagung der Innenminister:innenkonferenz Mitte Juni vorzubereiten. Die mehrere Dutzend Teilnehmer:innen der Kundgebung forderten Veränderungen in der Asyl- und Migrationspolitik in Deutschland durch ein deutliches Umdenken der Entscheidungsträger:innen. In Redebeiträgen von Pro Asyl, Jugendliche ohne Grenzen (JoG), Women in Exile, dem Flüchtlingsrat Berlin sowie dem Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) wurde klar: es muss sich etwas tun, denn der aktuelle Trend in der Migrationspolitik ist rassistisch und führt absehbar zu weiteren menschlichen Katastrophen.
Die »Ständige Konferenz der Innenminister:innen und -senator:innen der Länder«, kurz Innenminister:innenkonferenz (IMK), ist ein Zusammenschluss der Minister:innen der Bundesländer für Inneres, um ihre länderübergreifende Zusammenarbeit zu koordinieren und gemeinsam politische Richtungsentscheidungen zu treffen. Die Bundesinnenministerin oder der Bundesinnenminister nimmt ebenfalls an den Treffen teil, hat aber kein Stimmrecht.
Die IMK tagt zweimal im Jahr, einmal im Frühling/Frühsommer (14.–16. Juni 2023) und einmal im Herbst/Winter (6.–8. Dezember 2023), wobei jedes Jahr ein anderes Bundesland den Vorsitz inne hat und die Konferenz ausrichtet – 2023 ist es das Land Berlin. Zwischen den Konferenzen arbeiten sechs Arbeitskreise zu verschiedenen Themen, von Verwaltung oder öffentlichem Dienstrecht über kommunale Angelegenheiten und Rettungswesen bis hin zu Innerer Sicherheit und Verfassungsschutz. Staatssekretär:innen und -rät:innen bereiten die Konferenzen inhaltlich vor und gewährleisten den Austausch zwischen den Ministerien.
Auf der IMK im November 1993 stellte der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) seinen Kolleg:innen aus den Ländern das Betätigungsverbot gegen die PKK vor. Gab es zunächst noch Protest, etwa aus Nordrhein-Westfalen, besteht heute große Einigkeit unter den Innenminister:innen, wenn es um die Kriminalisierung kurdischer Aktivist:innen geht. Die IMK ist damit ein zentrales Gremium zur Koordinierung der Verfolgung der kurdischen Bewegung in Deutschland.
Der Rechtshilfefonds AZADÎ nutzte die Gelegenheit, die die Kundgebung am 25. Mai bot, um für den Kurdistan Report mit Jibran Khalil von der bundesweiten Initiative »Jugendliche ohne Grenzen« (JoG) zu sprechen. JoG ist ein Zusammenschluss junger Geflüchteter, der sich für Bleiberecht, gegen das Lagersystem und für die Umsetzung der Kinderrechte für alle geflüchteten Kinder und Jugendlichen in Deutschland einsetzt. Die Jugendlichen organisieren sich selbständig und kommen als vielen verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen (Flucht-) Erfahrungen.
JoG ist zudem Teil des Bündnisses »Mut zu antirassistischer Migrationspolitik«, das neben der Kundgebung zum Treffen der Staatssekretär:innen eine Demonstration anlässlich der IMK am 15. Juni in Berlin organisiert.
Was sind eure Ziele als Jugendliche ohne Grenzen?
Unser Ziel ist es, dass die Menschen, die nach Deutschland kommen, eine Perspektive haben, eine Perspektive auf Bleiberecht. Die Menschen, die aus Ländern wie Afghanistan, Kurdistan oder beispielsweise Eritrea kommen, flüchten auf ihren Wegen über das Meer oder durch die Sahara. Sie brauchen Perspektiven, wenn sie nach Deutschland kommen. Deshalb fordern wir für alle Menschen, die nach Deutschland kommen, eine Bleibeperspektive. Ob sie aus asiatischen Ländern, aus dem Mittleren Osten, aus Afrika kommen – wir fordern für alle eine Bleibeperspektive. Das bedeutet, keine Abschiebung von Menschen, die nach Deutschland kommen. Es gibt so viele Jugendliche und Erwachsene, die in Duldung leben. Sie haben gar keine Chance auf eine Ausbildung oder auf einen Arbeitsplatz und auch nicht auf einen Integrationskurs. Deshalb fordern wir ein Bleiberecht für alle Menschen. Wenn sie ein Bleiberecht bekommen, wird es für sie einfacher, eine Ausbildung zu bekommen, einen Schulplatz oder Zugang zu einem Deutschkurs.
Wir sind gegen das Lagersystem und fordern Wohnungen statt Lager, damit die Menschen hier ankommen können. Wir setzen uns ein für die Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland. Kinder sind Kinder, egal ob Deutsche oder Migrant:innen oder Geflüchtete. Das heißt, dass die Kinderrechte auch für alle Geflüchteten gelten müssen, die hier leben.
Wie setzt ihr diese Ziele um?
Zwei oder drei mal pro Jahr veranstalten wir ein Seminarwochenende für Jugendliche zum Austausch und zur Vernetzung. Wir beschäftigen uns mit den Themen Rassismus und Teilhabe in der Gesellschaft.
Wir sind Teil verschiedener Bündnisse. Letztes Jahr haben wir zum Beispiel eine Großdemonstration zum Gedenken an das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen mitorganisiert. Jugendliche aus ganz Deutschland haben wir dorthin gebracht, sodass sie sich an der Demo beteiligt haben.
Ansonsten arbeiten wir eng mit Pro Asyl, dem Flüchtlingsrat, BBZ (Betreuungszentrum für junge Geflüchtete und Migrant:innen), BumF (Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge) und anderen zusammen, wenn es um die Rechte junger Geflüchteter in Deutschland geht. Dann machen wir etwas gemeinsam.
Was plant ihr für Proteste und Aktionen anlässlich der IMK?
Vom 15. bis 18. Juni organisieren wir eine Konferenz parallel zur IMK. Diese Konferenz organisieren wir seit 17 Jahren. Es kommen Jugendliche aus ganz Deutschland nach Berlin. Wir werden an den Protesten mit dem Bündnis »Mut zu antirassistischer Migrationspolitik« an der Demonstration am 15. Juni teilnehmen.
Am Freitag werden wir uns in Workshops mit verschiedenen Themen beschäftigen: Handlungsmöglichkeiten gegen Rassismus, Bleiberechtsperspektiven in Deutschland für Jugendliche.
Freitagabend werden wir einen Gala-Abend veranstalten und den oder die Abschiebeminister:in 2023 auszeichnen. Also die vielen Geflüchteten und Migrant:innen, die in Deutschland leben, haben keine Chance zu wählen und wir ermöglichen es ihnen, indem wir sagen: »Komm, wähl mal den schlimmsten oder die schlimmste Innenminister:in. Wer hat wie viele Menschen abgeschoben oder Gesetze verschärft?« Das ist auch Teil der Konferenz.
Protestiert ihr ausschließlich gegen die konkrete Innenpolitik oder habt ihr auch Kritik an der IMK an sich?
Ich meine, es geht um das Bündnis. In dem Bündnis gibt es viele verschiedene Partner und Partnerinnen, die verschiedene Themen beschäftigen. Das heißt, im Bündnis haben wir auch verschiedene Forderungen, z. B. Bleiberecht statt Abschiebung, Wohnungen statt Lager, Sicherheit für alle statt rassistische Polizeigewalt, sichere Fluchtwege statt selektive Aufnahme, Teilhabe statt gesellschaftlicher Ausschluss. Die verschiedenen Partnerinnen und Partner bringen ihre Themen ein.
Zum Beispiel werden immer wieder Fälle rassistischer Polizeigewalt gegen Geflüchtete öffentlich. Das ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Racial Profiling, Kriminalisierung, Polizeigewalt bei Abschiebungen sind Normalzustand in Deutschland. Man merkt tagtäglich, was Racial Profiling ist, wenn man BIPoC ist, wenn man Schwarz ist. Erst diese Woche gab es einen Fall in Braunschweig, bei dem eine Person, die von der Polizei in Gewahrsam genommen wurde, gestorben ist. Das heißt nicht »gestorben« ist, sondern »ermordet« wurde. Dieser Fall oder auch der Fall von Oury Jalloh wurden nicht aufgeklärt. Das sind nur die bekannten Fälle, wie hoch die Dunkelziffer ist, können wir nicht sagen. Deswegen fordern wir Sicherheit für alle und thematisieren rassistische Polizeigewalt und Racial Profiling und Kriminalisierung der Menschen, wenn sie hier ankommen. Auch das ist Thema im Bündnis.
Bei euch engagieren sich Jugendliche aus vielen verschiedenen Ländern. Wie gut gelingt es, die verschiedenen Communities und Geflüchteten zu Themen, die sie alle in Deutschland gleichermaßen betreffen, zusammenzubringen?
Das ist unterschiedlich. Es gibt so viele verschiedene Menschen, die in verschiedenen Ländern gelebt haben und nach Deutschland geflüchtet sind. Wenn Jugendliche zu uns kommen, können sie autonom entscheiden. Wenn zum Beispiel Newroz ist, feiern sie gemeinsam Newroz zusammen. Wenn Eid ist, feiern sie gemeinsam Eid. Wenn Ramadan ist, feiern sie gemeinsam Ramadan. Viele, die bei uns aktiv sind, weil sie auch hier eine Perspektive brauchen, unterstützen natürlich auch ihre Community vor Ort. Wenn etwas Schlimmes passiert, sagen sie: »Hey, in meiner Heimat passiert so etwas. Können wir eine Demo organisieren?« Oder es gibt eine Demo und dann überlegen wir, ob wir uns da anschließen. Wenn es um Palästina oder um Kurdistan geht, dann beschäftigt sie natürlich dieses Thema. Das ist ihre Identität. Die werden sie nicht vergessen, auch wenn sie bei Jugendliche ohne Grenzen sind.
Die Konferenz veranstaltet ihr seit 17 Jahren. Die Politik ist immer noch katastrophal, sie wird sogar noch schlimmer. Es gibt einen Rechtsruck, auch in Deutschland. Was gibt dir Hoffnung, deine Arbeit zu machen, einen Gegenpol zur IMK zu bilden? Was treibt dich an?
Ich denke, wir müssen Allianzen bilden gegen die rassistische Migrationspolitik in Deutschland und der EU. Und um diese Allianzen zu bilden, haben wir verschiedene Forderungen, von Bleiberecht bis Teilhabe. Wenn wir keine Allianzen bilden, werden wir noch schwächer, nicht stärker als diejenigen, die die Politik gerade machen. Das heißt, wir brauchen Allianzen, wir brauchen mehr Vernetzung, mehr Austausch innerhalb unserer Communities und auch mit unseren Friends, die deutsch sind. Auch mit ihnen müssen wir diese antirassistische Arbeit weitermachen. Ohne Allianzen geht es nicht. Mehr Vernetzung, mehr Austausch, mehr Vertrauen sind sehr wichtig, sowohl für unsere Community als auch für antirassistische Arbeit in Deutschland.
Kurdistan Report 228 | Juli / August 2023