Die Türkei in den Fängen von Autokratie und Nationalismus

Der demokratische Leuchtturm in den dunklen Gewässern erdoğanscher Politik

Devriş Çimen, Europavertreter der Demokratischen Partei der Völker HDP


Der 28. Mai als Tag, der in die Geschichte der Türkei einging. Diese Präsidentschaftswahlen verzeichnen das Ende einer Türkei, in der Menschen mit vollem Bewusstsein über ihre Zukunft entscheiden konnten.

Nun, wichtiger wäre die Selbstverständlichkeit, dass ein:e Bürger:in auch bei der Wahl des »Präsidenten« voll entscheiden kann und entsprechend gewürdigt wird. Die Wahlen fanden also nicht unter skandinavischen Bedingungen statt, wo die Bürger:innen eine Wahl durchführen und dann wissen, dass diejenigen, die sie wählen, ihre Versprechen bis zu einem gewissen Grade einhalten werden, sondern in der Türkei, wo seit Jahrzehnten keine demokratischen Verhältnisse mehr herrschen.

Immer wieder bestreitet ein großer Teil der Menschen in der Türkei, Anhänger einer Autokratie zu sein. In ihrem Demokratieverständnis nimmt das Grundrecht, in freier Selbstbestimmung und Entscheidung zu leben, einen riesigen Bereich ein. Dieses Recht wird jedoch durch Recep Tayyip Erdoğans Wertvorstellungen nicht gewährleistet. Der Prozess ist noch nicht beendet. Die durch die Natur der »türkischen Demokratie« (eine Art von durch Ängste gefesselter Demokratie) bedingte Entscheidung der Bürger:innen wird die Zukunft der Türkei noch massiv beeinflussen. Die eher geschwächten »Freiheiten« werden in den kommenden Jahren noch massive Rückschritte erfahren. So wie einst der französischer Philosoph Jean-Paul Sartre sagte, dass die Freiheit des Menschen uns befehle, uns selbst zu definieren, etwas aus uns zu machen, eine authentische oder echte Existenz zu führen. Aber diese totale Freiheit bedeute für den Menschen auch, vollständig die Verantwortung für sich und sein Handeln zu tragen. Die Handlungen der Wähler:innen in der Türkei, die Erdoğan durch ihre Stimme zur Wiederwahl verholfen haben, werden keine einfache oder demokratische Zukunft haben. Wirtschaftlich, gesellschaftlich, innenpolitisch und damit verbunden auch außenpolitisch wird es die Türkei noch schwerer haben als ohnehin schon.

In einer von Erdoğan institutionalisierten Autokratie wird die gespaltene, von Nationalismus und Ängsten gefesselte Gesellschaft von nun an einen Rückschritt nach dem anderen erleben, bis sie erneut die Chance bekommt, den Schritt zur Demokratie zu wagen, den sie 2015 gewagt hatte und zuletzt bei den vergangenen Wahlen versäumt hat. Trotz erheblicher Manipulationen, Betrügereien und Hindernisse vor den Wahlen und währenddessen fielen die Ergebnisse in den Wahlkabinen mit nur 52 % knapp zugunsten Erdoğans aus. Wie schon Sartre sagte: Die Wahlkabine ist Symbol für jeden Verrat, den der Einzelne an den Gruppen begehen kann, denen er angehört. Es mag hart klingen, aber in diesem Sinne sind die Ergebnisse ein Verrat an der Demokratie. Nicht die Ergebnisse, sondern schon vor den Wahlen wurde in erheblichem Umfang manipuliert und konstruiert, um sicherzustellen, dass die Ergebnisse so ausfallen wie gewollt. Eine Autokratie, die den Staat und all seine Institutionen übernommen hat und sie auch kontrolliert, hat alles zu ihren Gunsten gestaltet.

Ich schreibe als Vertreter einer Partei, der Demokratischen Partei der Völker (HDP), die aus der Wahlperiode 2018-2023 als zweitstärkste Oppositionspartei und drittstärkste Kraft im Parlament hervorgegangen war und die aufgrund der systematischen Repression, des vorprogrammierten Verbots und der Kobanê-Prozesse nicht an der letzten Parlamentswahl teilnehmen konnte und daher gezwungen war, sich über eine ihrer Mitgliedsparteien, die Grüne Linkspartei (YSP), zu beteiligen.

In der türkischen Verfassung, geschrieben allein zugunsten des Türkentums, heißt es in Artikel 26: »Jedermann hat das Recht, seine Meinung und Überzeugung in Wort, Schrift, Bild oder auf anderem Wege allein oder gemeinschaftlich zu äußern und zu verbreiten. Diese Freiheit umfasst auch die Freiheit des Empfangs oder der Abgabe von Nachrichten und Ideen ohne Eingriff öffentlicher Behörden.« Doch die HDP, die Kurd:innen, die Alevit:innen, die Êzîd:innen, die Araber:innen, die Armenier:innen und alle anderen ethnischen und religiösen Gruppen sind auch von diesem Recht ausgeschlossen. Die HDP konnte nicht als Partei an den Wahlen teilnehmen, weil sie zuvor einem willkürlichen und politisch motivierten Verfahren ausgesetzt worden war, das zu einem Verbot führen könnte, und diese Gefahr besteht auch nach den Wahlen noch. Genau diese und ähnliche undemokratische Vorfälle haben etliche internationale Wahlbeobachterdelegationen beobachtet, vor und nach dem Wahlprozess. In den kurdischen Städten gingen die Bürger:innen unter massiver Begleitung, Einschüchterung und Kriminalisierung durch Polizei, Militär und Dorfschützer zur Wahl. Dies allein zeigt, wie die Wahlkabinen im Vorfeld auf Verrat an der Demokratie ausgerichtet und vorbereitet wurden. Trotz dieser Umstände stimmte die kurdische Bevölkerung in 13 ihrer Städte mit bis zu 70 % gegen Erdoğan, die Hälfte der türkischen Bevölkerung aber für eine verrottete Autokratie im Namen der »Demokratie«. Doch um das zu verstehen, sollten wir einen kurzen historischen Blick zurück auf Erdoğans Türkei werfen.

Seit die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) im Jahr 2002 an die Macht kam, hat die Türkei unter der Führung der politischen Fraktion von Erdoğan ein Jahrzehnt der raschen Entwicklung erlebt. Innerhalb des Landes wie auch im Ausland wurden viele Hoffnungen geweckt und Unterstützung gewährt. Nach dieser bemerkenswerten wirtschaftlichen und sozialen Entfaltung formulierte die von Erdoğan geführte Partei auf ihrem Kongress am 30. September 2012 ehrgeizige Visionen, Pläne und Ziele, darunter die »politische Vision« der Hundertjahrfeier, d. h. die Vision des 100-jährigen Bestehens der Republik Türkei im Jahr 2023, bis zu der Erdoğan an der Macht bleiben wollte.

Zu den Zielen gehörte auch 2071 der 1000. Jahrestag des Sieges in der Schlacht von Manzikert (Malazgirt), in der die Seldschuken das Byzantinische Reich besiegten und den Feldzug zur Eroberung Anatoliens begannen (als »Tausend-Jahre-Ziel-2071« bezeichnet). Erdoğan bezieht sich auf das Jahr 1071, weil es den Seldschuken durch diesen Besatzungskrieg gelang, Anatolien als Heimatland für die türkische Nation zu erobern. Auf diesem Territorium lebten die einheimischen Kurd:innen, Armenier:innen, Assyrer:innen, Griech:innen und andere Völker, deren Leben danach stark beeinträchtigt war, bis hin zum Genozid an den Armenier:innen und Assyrer:innen und heute der den Kurd:innen auferlegten Verleugnungs- und Vernichtungspolitik.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Erdoğans Ziel für 2023 darin bestand, an der Macht zu bleiben, und für 2071, die Generationen nach ihm an der Macht zu halten, indem er seine Gesinnung beibehält, die sich an seinen Vorfahren orientiert. Diese Vision war sowohl ein Konzept Erdoğans, um seine Popularität in der Bevölkerung zu steigern, als auch ein Ausdruck des Selbstbewusstseins der Türk:innen nach einem Jahrzehnt der Entwicklung unter seiner Herrschaft. Nun blicken wir zurück und stellen fest, dass Erdoğans Träume gleichzeitig die Albträume der Menschen in der Türkei und ihrer Umgebung sind. Die Ausweitung der Macht geschieht nicht von selbst, sondern erfordert Gewalt, Krieg und wirtschaftliche Grundlagen, die der Hauptgrund für die heutige Wirtschaftskrise sind.

Die Türkei braucht eine überzeugende, demokratische Wende, die insbesondere die Kurd:innen, aber auch alle anderen Volksgruppen und Religionen einbeziehen sollte, die ihre Grundrechte einfordern. Seit der Gründung der Türkei wurden die Grundrechte aller ethnischen Gruppen mit Ausnahme der Türk:innen und aller Religionen mit Ausnahme des Islams systematisch aus dem offiziellen Diskurs der Türkei eliminiert. Diejenigen, die versuchten, sich politisch zu organisieren, wurden vom Staat gewaltsam bekämpft, insbesondere die Kurd:innen, die in den 1990er Jahren durch den politischen und bewaffneten Kampf der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ihre Rechte einforderten. In den Jahren 2013-2015 führte Erdoğan einen Dialog mit der kurdischen Freiheitsbewegung und ihren Vertreter:innen, darunter Abdullah Öcalan, dem seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imralı inhaftierten PKK-Vorsitzenden, um über die Demokratisierung der Türkei zu verhandeln. Die HDP fungierte mit Erdoğans Mandat als Vermittlerin zwischen der PKK/Öcalan und dem Staat, bis kurz vor den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015. Dann geschah aber etwas Unerwartetes.

Die Wahlen wurden von der AKP gewonnen, die jedoch durch den unerwarteten Erfolg der 2012 gegründeten und damit noch recht jungen Partei HDP zum ersten Mal seit 13 Jahren ihre absolute Mehrheit im Parlament verlor. Denn diesmal waren nicht nur Kurd:innen, sondern auch Vertreter:innen verschiedener Völker, religiöser und politischer Gruppen, die in der Türkei von der offiziellen Staatsdoktrin ausgeschlossen sind, mit 13 % der Stimmen und damit 80 Abgeordneten im Parlament vertreten. Dies bedeutete einen erheblichen Rückschlag für Erdoğan und seine Partei, der nach den Wahlen eine präsidiale Regierungsform in der Türkei einführen wollte, um seine Befugnisse zu erweitern. Die Ergebnisse machten Erdoğans Plänen einen Strich durch die Rechnung, da er versucht hatte, das wichtigste Problem, mit dem die Türkei heute konfrontiert ist, nämlich die seit der Gründung der Republik andauernde kurdische Frage, zu instrumentalisieren, um an der Macht zu bleiben. Die Ergebnisse wurden revidiert, fünf Monate später fanden Neuwahlen statt, am 1. November übernahm er erneut mit Gewalt die Macht – mit 49 Prozent der Stimmen. In der Folgezeit betonte die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen (UN), dass die UN-Inspektor:innen trotz jahrelanger Bemühungen nicht in die überwiegend kurdischen Städte im Südosten der Türkei hätten vordringen können. Viele Städte, insbesondere Sûr, Cizîr und Nisêbîn, wurden von den Streitkräften zerstört. Hunderte Menschen verloren ihr Leben. Nach UN-Angaben wurden in diesem Zeitraum fast 500.000 Menschen, überwiegend Kurd:innen, durch die Militäroperationen aus ihren Häusern vertrieben. Der damalige Premierminister Ahmet Davutoğlu erklärte zu der Zeit zwischen dem 7. Juni und dem 1. November 2015: »Wenn die Bücher [gemeint die Archive] des Kampfes gegen den Terrorismus geöffnet werden, werden viele nicht mehr in der Lage sein, den Menschen zu begegnen.«

Das Problem des Demokratiedefizits wurde auf den »Kampf gegen den Terrorismus« reduziert, und politische Ziele wurden von Erdoğan mit militärischer Macht durchgesetzt. Dieser pragmatische und kriegerische Ansatz machte leider die Wende zur Demokratie zunichte. Erdoğans eiserne Hand bestimmte dann in den folgenden Jahren die Politik. Der Dialog mit der kurdischen Freiheitsbewegung, die eine Demokratisierung der Türkei zum Ziel hatte, wurde beendet. Es wurde begleitet von Gewalt, Repression, Missachtung des Rechts in der Türkei und des allgemeinen Völkerrechts, was zur kriegerischen Besetzung kurdischer Siedlungsgebiete außerhalb türkischer Grenzen in Syrien und im Irak führte. Nach Angaben von Meral Akşener, der Vorsitzenden der İyi Parti, einer nationalistischen Partei, die mit Kılıçdaroğlu Republikanischer Volkspartei (CHP) verbündet ist, waren kürzlich mehr als 36.000 türkische Soldat:innen außerhalb der türkischen Grenzen stationiert, von denen die meisten gegen die Kurd:innen eingesetzt sind. Antikurdischer Rassismus prägte Erdoğans Rhetorik, was dazu führte, dass wie bereits erwähnt bei den letzten Wahlen in den kurdischen Städten über 70 % gegen ihn stimmten. Die Kurd:innen und damit die HDP machten ihm nicht nur bei den jüngsten Wahlen am 14. Mai das Vorhaben schwer, sondern auch bei den Kommunalwahlen 2019, als er Großstädte wie Istanbul, Ankara, Antalya, Adana und Mersin verlor, wie schon zuvor 2015.

Auch wenn die HDP wegen der Betrügereien und Barrieren nicht als Partei an den Wahlen teilnehmen konnte, hat sie ihre progressive und demokratische politische Rolle durch die Grüne Linkspartei gespielt.

Transparent 3. Weg im YSP-FahnenmeerHistorisch und damit auch politisch ist die Politik der Türkei in eine kemalistische (säkulare) nationalistische und eine islamistisch-nationalistische (religiöse) Strömung gespalten. Die islamische und konservative wurde weitgehend an den Rand gedrängt und geächtet, bis Erdoğan im Jahr 2002 an die Macht kam. Seitdem hat diese religiös-nationalistische Linie die Oberhand gewonnen und beruft sich auf ihre gewaltsame Machtausübung mit der Kontrolle über den gesamten Staatsapparat. Die wiederholten Militärputsche in der Türkei haben also viel mit dem Konflikt zwischen den beiden Strömungen zu tun. Eine dritte Richtung, die demokratische, in der heute die HDP und die Grüne Linkspartei führend sind und die das Land braucht, wurde jedoch von den beiden anderen Seiten bekämpft und ausgeschlossen.

Sie hat trotzdem versucht, zwischen den beiden nationalistischen Lagern ihre Rolle für einen dritten Weg zu spielen und aufzubauen, um das bestehende Demokratiedefizit zu betonen. Doch der in der Geschichte und damit in der Gesellschaft verankerte Nationalismus hat den Wahlkampf stark geprägt und beeinflusst. Daher wurde der Raum für eine demokratische Opposition außer durch die systematische Unterdrückung und die Barrieren durch den Nationalismus eingeengt. Selbst die offene Unterstützung der HDP und Grünen Linkspartei für Kılıçdaroğlu wurde nicht genügend betont, um die Stimmen für die türkischen Nationalisten zu gewinnen. Die Wahlen fanden zwischen den beiden nationalistischen Strömungen statt, die traditionell zwar gegensätzlich sind, aber wenn es um Loyalität gegenüber dem Staat geht, handeln sie auf dieselbe Weise. Gewinner der Wahlen ist also nicht nur der Autoritarismus, sondern auch der türkische Nationalismus. Aber dort, wo Erdoğan sich in seiner gesamten politischen Karriere als starker Nationalist und Islamist erwiesen hat, ist der Versuch von Kılıçdaroğlu, ihn durch dasselbe zu ersetzen, unnötig. Während die gesamte linke, fortschrittliche und demokratische Strömung, in der die kurdische Freiheitsbewegung eine starke Führung verkörpert, mit verschiedenen Parteien insgesamt etwa 13–15 % der Stimmen geholt hat, stimmten die restlichen 85 % für den türkischen Nationalismus, in dem zwei Allianzen gegeneinander um die Führung streiten. Daher wurden bei diesem Kampf die demokratischen Werte und Hoffnungen einer pluralistischen Gesellschaft im Land mit Füßen getreten. Damit Erdoğan in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl seine Macht behaupten konnte, bildete er eine Allianz, die er am 28. Mai um Mitternacht auf die Bühne brachte, als er seinen »Sieg« mit 52 % der Stimmen verkündete. Dazu gehörten Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Mustafa Destici, der Vorsitzende der rechtsextrem-islamistischen Partei der Großen Einheit (BBP), Önder Aksakal, der Vorsitzende der kemalistisch-nationalistischen Demokratischen Linkspartei (DSP), Zekeriya Yapıcıoğlu, der Vorsitzende der radikal-islamistischen Partei der Freien Sache (Hüda Par), und der rechtsextreme Sinan Oğan, Präsidentschaftskandidat in der ersten Runde.

Dieses bösartige Bild, das sich daraus ergibt, ist das paranoide Problem der türkischen Politik und Gesellschaft, die Frage des Türkentums. Sie haben Angst, dass die Demokratie das Türkentum schwächen wird, Erdoğan wie Kılıçdaroğlu sprachen in ihren Allianzen die Ängste der Türk:innen an. Die türkische Bildung und die Art und Weise ihrer Erziehung bedeuten, dass jedem beigebracht wird, das Land sei von Feinden umgeben (gemeint sind die Nachbarstaaten und der Westen) und im Land selbst lauerten Verräter, die es spalten wollen, womit insbesondere die Kurd:innenn, Armenier:innen, Assyrer:innen, Alevit:innen und andere Minderheiten sowie die Linken gemeint sind. Diese Liste zieht sich in die Länge. Die Vorstellung vom Land und davon, dass es die Möglichkeit der demokratischen Teilhabe für alle biete, wird den Menschen durch Angstmacherei von der Schule an eingebläut. Nationalismus und Rassismus prägen die Erziehung und damit das Leben der Menschen und schaffen einen einzigartigen türkischen Konservatismus. Über die Auswirkungen von Religiosität und Sexismus in der Gesellschaft müssen wir gar nicht erst reden oder Beispiele nennen. Die Menschen werden polarisiert, gezwungen, ihre jeweilige ethnische Identität zu verleugnen und den Vorrang der türkischen Ethnie zu akzeptieren, die weniger als die Hälfte der in der Türkei lebenden Menschen ausmacht. All dieser antidemokratische Zwang und Nationalismus, der oft die Form von unverhülltem Rassismus annimmt, wird politisch gedeckt und durch die türkische Verfassung gefördert, die nur für Türk:innen gilt.

Der türkische Staat steckt in etlichen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krisen und kann sich daher nicht demokratisch wandeln, wenn er sich weiterhin dem türkischen Nationalismus unterwirft. Neben einer Vergangenheitsbewältigung und der Versöhnung mit all den Opfern des nationalistischen Staates braucht die Türkei genau das alternative Modell, das der seit nunmehr zwei Jahren auf der Gefängnisinsel Imralı völlig von der Außenwelt isolierte Abdullah Öcalan während des Dialogs mit dem Staat 2012–2015 für eine demokratische Türkei vorgeschlagen hatte: ein Modell jenseits von Macht, Staat, Nationalismus und Gewalt, das sich an einer »demokratischen Nation« orientiert. Die kurdische Bevölkerung ist für eine solche Lösung politisch breit aufgestellt. In 13 Provinzen, in denen Kurd:innen die Mehrheit stellen, haben bei den Präsidentschaftswahlen 70 % gegen Erdoğans autoritäre Politik gestimmt, was auf eine lösungsorientierte friedliche Zukunft hindeutet. Ob in der parlamentarischen oder der außerparlamentarischen Politik, die Kurd:innen, die für die HDP und zuletzt für die Grüne Linkspartei gestimmt haben, wissen, was sie nicht wollen. In groben Zügen beschrieb Abdullah Öcalan Alternativen, die von der kurdischen Bevölkerung sowohl in der Türkei als auch in den Nachbarländern, in denen sie leben, im Gegensatz zu dem angenommen wurden, was Erdoğan vertritt. Er betont, dass nationalistische Diktaturen und religiöse Fanatiker die Demokratie ersticken und das Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in diesen Ländern vergiften würden. Als Ausweg schlägt er die Anwendung einer neuen Herangehensweise vor. Die Nation neu gedacht als demokratisch organisiertes Zusammenleben der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen. »Demokratische Nation bedeutet, dass das Volk sich selbst als Nation konstituiert, ohne sich dabei auf Macht und Staat zu stützen, also eine Nationwerdung, die durch die dafür nötige Politisierung erfolgt. Es geht um den Nachweis, dass es möglich ist, sich durch autonome Institutionen in den Bereichen Selbstverteidigung, Wirtschaft, Recht, Gesellschaft, Diplomatie und Kultur zur Nation zu entwickeln und sich als demokratische Nation zu konstituieren, ohne zum Staat zu werden und ohne die Macht zu ergreifen. Die demokratische Gesellschaft lässt sich nur durch ein solches Modell von Nation verwirklichen.«

Die Bürger:innen in der Türkei müssen sich über ihre eigene Zukunft im Klaren sein. Es besteht ein großer Unterschied zwischen Demokratie und Freiheit einerseits und der Unterwerfung unter ein autoritäres Regime andererseits. Die Bürgerinnen und Bürger der Türkei müssen sich dessen bewusst sein, und die Medien müssen dieses Bewusstsein intensiv fördern, sei es in der außerparlamentarischen oder der parlamentarischen Politik, der Bildung, der Kunst und der Wissenschaft. Hannah Arendt, die deutsche Philosophin, sagte: »Die Grundlage aller Politik ist die Pluralität des Menschen« und »Der Sinn der Politik ist die Freiheit«. Die Politik in der Türkei kann dies als Grundlage für eine zukünftige demokratische Türkei nehmen, die diese sinnlose Politik des Nationalismus ablehnt und sich mit ihrer Pluralität versöhnt.

Auch wenn Erdoğan die Kurd:innen und andere ethnische Gruppen in der Türkei, die ihre Grundrechte und Demokratie fordern, als Feinde und Kriminelle darstellt – das ist nicht mehr hinnehmbar. Auf diese Weise kann er einen bestimmten Teil der Gesellschaft davon überzeugen, ihn zu unterstützen, indem er Andersdenkende mit verstaatlichten Maßnahmen bekämpft und so Angst verbreitet und die Mehrheitsgesellschaft zum Schweigen zwingt. Seine islamisch-türkisch-nationalistische Propaganda und sein autoritärer, pragmatischer Ansatz in der Politik haben ihn bisher mit staatlichen Maßnahmen über Wasser gehalten. Erdoğans Träume sind der Alptraum für alle, die mit ihm politisch zu tun haben.

In den dunklen Gewässern, in die Erdoğan die Menschen mit seiner abenteuerlichen und nationalistischen Politik hineinzieht, die er durch Angst und Nationalismus unterstützt, sind die Kurd:innen und die Errungenschaften ihres Freiheitskampfes für eine demokratische, ökologische und auf Frauenfreiheit basierende Gesellschaft der Ausweg und der Leuchtturm.


Kurdistan Report 228 | Juli / August 2023