Aktuelle Bewertung

Chance verpasst – neuer alter Kurs der Türkei

Tim Krüger


Mit dem Abschluss der zweiten Runde der türkischen Präsidentschaftswahlen beginnt für die Türkei, Kurdistan und die gesamte Region eine völlig neue Phase. Nicht umsonst wurden die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der inländischen und internationalen Presse als »Schicksalswahl« betitelt. Von Beginn an war allen Akteur:innen und Beobachter:innen klar, dass ihr Ergebnis die Zukunft des Landes maßgeblich bestimmen würde. Zum ersten Mal seit dem Beginn der Herrschaft der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) vor nunmehr 21 Jahren unternahm die Opposition einen ernsthaften Versuch, die Macht der islamistischen Regierungspartei anzufechten, und wagte sich aus der Deckung. Sowohl die geopolitische Situation als auch die Lage im Land selbst schien der Opposition gewogen und ein Sturz des Ein-Mann-Regimes, das der Autokrat Erdoğan in den Jahrzehnten seiner Amtszeit errichtet hatte, lag für viele Beobachter:innen schon in greifbarer Nähe. Die Titelseiten der westlichen Presse überschlugen sich in den Tagen vor dem Urnengang mit Spekulationen über ein baldiges Ende der Regierung Erdoğan und auch einzelne offizielle Vertreter:innen europäischer Regierungen lehnten sich in der Frage des möglichen Wahlausgangs vergleichbar weit aus dem Fenster. Doch mit der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl am 28. Mai konnte das amtierende Regime einen erneuten Sieg verbuchen und mit einer weiteren Amtszeit Erdoğans die Fortsetzung des antidemokratischen Präsidialsystems wie auch des Vernichtungskrieges gegen die kurdische Bevölkerung und die Errungenschaften ihres Kampfes garantieren.

Um die Wahlen in der Türkei und ihre möglichen Folgen in Gänze zu verstehen, genügt nicht nur ein Blick auf die Statistiken, Umfragen und Balkendiagramme der Ergebnisse, für ein klares Bild müssen wir die (geo-)politische Gemengelage in der Region, die internationalen Beziehungen der Türkei und die aktuelle historische Situation des Landes untersuchen. Denn die Wahlen fanden keineswegs im luftleeren Raum statt, sondern müssen vor allem im Kontext des seit nunmehr fast acht Jahren andauernden Vernichtungskrieges gegen die kurdische und demokratische Bewegung im In- und Ausland und der allgemeinen türkischen Expansionsbestrebungen in der Region betrachtet werden. Gleichzeitig wurden sie dieses Jahr zu einem denkbar bedeutsamen Zeitpunkt durchgeführt, denn nicht nur die Republik Türkei begeht feierlich ihr hundertjähriges Bestehen, sondern auch der Abschluss des Vertrages von Lausanne, durch den die Siegermächte des Ersten Weltkriegs die Teilung Kurdistans und der Region endgültig zementierten, wird sich am 24. Juli zum einhundertsten Mal jähren. In der Propaganda des türkischen Regimes, in den Reden Erdoğans und seiner Mitstreiter finden sich immer wieder fast schon mystische Anspielungen auf das Jahr 2023 als Jahr der Entscheidung, in dem nach einhundert Jahren eine »neue Türkei« geboren werden würde.

Türkische Territorialansprüche

In dem seit acht Jahren ununterbrochen geführten Krieg ging und geht es Ankara vor allem darum, die politischen Errungenschaften des kurdischen Volkes zunichtezumachen, doch gleichzeitig auch seine regionale Vormachtstellung durch Gebietsgewinne und die De-facto-Annexion neuer Territorien auszubauen und zu festigen. Mehr als einmal haben Vertreter des Regimes ihr strategisches Ziel der Schaffung einer Türkei nach den Grenzen des so genannten »Nationalpakts« formuliert, des Misak-ı Milli, des politischen Programms der türkischen Nationalbewegung von 1920. Der Nordosten Griechenlands, die umstrittenen Inseln in der Ägäis, die Provinzen Mossul und Kerkûk im Nordirak und nach unterschiedlicher Auslegung auch Aleppo und der gesamte Norden Syriens wären demnach Teil des türkischen Staatsgebiets. Erst kurz vor den letzten Wahlen hatte der bisherige Innenminister Süleyman Soylu betont, dass auch sie innerhalb der Grenzen des Misak-ı Milli liegen würden, und damit relativ klar die türkischen Souveränitätsansprüche über die Region zum Ausdruck gebracht. Auch wenn sich die Regierungsvertreter zur Legitimation ihrer Besatzungsoperationen in ausführlicher Antiterrorrhetorik ergießen, so kann dennoch nichts darüber hinwegtäuschen, dass die wahren Beweggründe wohl anderer Natur sind.

Die Selbstverwaltung im Norden Syriens, die der kurdischen Bevölkerung in Westkurdistan (Rojava) zum ersten Mal die Möglichkeit gab, ihre Geschicke in die eigenen Hände zu nehmen, aber auch der verfassungsrechtlich gesicherte Status der Autonomieregion Kurdistan im Nordirak waren dem Regime von Präsident Erdoğan, als Hindernis auf dem Weg zu neuer türkischer Größe, seit jeher ein Dorn im Auge. Auch wenn die Türkei und die südkurdische Regierungspartei PDK (Demokratische Partei Kurdistans) heute ein enges Verhältnis und besonders lebhafte wirtschaftliche Beziehungen pflegen, so sollte dennoch nicht vergessen werden, dass sich die offiziellen Stellen der Türkei weiterhin vehement weigern, die Region auch nur bei ihrem offiziellen Namen zu nennen. Die PDK mag für die Türkei nützliche »Drecksarbeit« im Kampf gegen die kurdische Befreiungsbewegung leisten, doch eine Türkei, die bis heute ihre nationale Identität über die Verneinung aller vom Konstrukt des »Türkischen« abweichenden Vielfalt konstruiert, ist weit davon entfernt, eine kurdische Existenz zu akzeptieren, ganz gleich wo in der Region und welcher Art sie auch sein mag.

Großmachtträume

Ein Blick auf die vom türkischen Militär besetzten Regionen Nordsyriens genügt, um zu erkennen, dass es der Türkei um die langfristige Besetzung und Annexion dieser Gebiete geht. Girê Spî, Serêkaniyê, Efrîn, Al-Bab, Cerablus und weite Teile der Provinz Idlib werden heute de facto von den Gouverneuren der türkischen Grenzstädte verwaltet. Für Ordnung sorgen der türkische Geheimdienst und Spezialeinheiten von Polizei und Militär. Die Schulbildung findet zweisprachig statt – in Arabisch und Türkisch. Bezahlt wird mit der als offizielle Währung anerkannten Türkischen Lira. In den eigenen Medien machen Erdoğan und die Vertreter der türkischen Regierung keinen Hehl daraus, dass man die besetzen Gebiete als Teil des »vaterländischen Bodens« betrachtet. So erklärte Erdoğan schon am 10. November 2016 in einer Rede anlässlich des 78. Todestags von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk freimütig, dass »die Türkei größer als die (heutige) Türkei« sei und das türkische Volk »nicht in 780.000 Quadratkilometer« passe. Jüngst wiederholte der ehemalige Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu noch einmal die Parole von der »Großtürkei«, die sich nicht in enge Grenzen pressen lasse, als er am 24. Juni letzten Jahres von seinen damaligen Besuchen auf dem Balkan berichtete.

Was anmutet wie anachronistische Lebensraumrhetorik aus dem 20. Jahrhundert, ist blutiger Ernst. Die Vision eines neuen großtürkischen Reiches, das sein angebliches historisches Erbe beansprucht, bedroht nicht nur die Kurdinnen und Kurden in der Region, sondern wird auch zunehmend zu einer Gefahr für alle Anrainerstaaten. Wenn Erdoğan und sein Regime heute die Wiedergewinnung verlorener Größe beschwören, dann geht es ihnen jedoch um mehr als bloß imperiale Nostalgie und die Mobilisierung nationalistischer Gefühle. Die in der ersten Hälfte der 1920er Jahre verlorenen Gebiete sind Schlüsselregionen in Fragen der Energieversorgung und das entscheidende Sprungbrett für den Aufstieg der Türkei zu einer schlagkräftigen Regionalmacht. Aufgrund ihrer geographischen Lage hat sie sich schon immer als Transferland für Güter aller Art, darunter auch fossile Energieträger, angeboten. In Zeiten, in denen die weltweiten fossilen Energievorkommen innerhalb einer Lebenszeit erschöpft sein werden, stellt die Kontrolle über unterirdische Energiespeicher sowie die Förderung und den Transport von Energie eine scharfe geopolitische Waffe dar. Nicht zuletzt am Beispiel der westeuropäischen Staaten und der Russischen Föderation hat sich im vergangenen Jahr sehr deutlich gezeigt, welche entscheidende Rolle der transkontinentale Energietransport in der global vernetzten Wirtschaftsordnung des 21. Jahrhunderts spielt. Die Transformation der Türkei von einem Transfer- zu einem Förderland ist heute ein wichtiger Etappenschritt des türkischen Großmachtprojekts. Die Erschließung neuer Quellen im Schwarz- und im Mittelmeer sowie die Sicherung des Zugangs zu Gas und Öl im Nordirak haben daher strategische Bedeutung.

Die Bevölkerung im selbstverwalteten Şêxmeqsûd, ein Stadtteil von Aleppo, protestiert gegen die Ermordung von Yusra Derwêş, Ko-Vorsitzende des Kantons Qamişlo, ihrer Stellvertreterin Lîman Şiwêş und des Fahrers Firat Tuma durch eine Killerdrohne der türkischen Luftwaffe. Foto: ANHAKriegssituation

Doch kann auch die lauteste nationalistische Propaganda nicht darüber hinwegtäuschen, dass das türkische Regime die in den vergangenen Jahren selbst gesteckten Ziele bei Weitem verfehlt hat. So sehr es seiner Armee im Verbund mit islamistischen Milizen auch gelungen sein mag, weite Teile Nordsyriens zu besetzen, so ist sie bei ihren militärischen Operationen im Süden Kurdistans gnadenlos gescheitert. Insbesondere in der letzten Operation der türkischen Armee, mit der im vergangenen Jahr die Regionen Zap, Avaşîn und Metîna eingenommen werden sollten, haben sich die türkischen Besatzungskräfte eine blutige Nase geholt. Mit Hilfe von großangelegtem und teils wahllosem Bombardement, dauerhaftem Artilleriefeuer sowie dem Einsatz thermobarischer Bomben und chemischer Kampfstoffe sollte der Widerstand der Guerilla gebrochen und die Grenzregion unter Kontrolle gebracht werden. Trotz der Tatsache, dass es der türkischen Armee erfolgreich gelungen war, vor allem in der Anfangsphase der Invasion, in Luftlandeoperationen einzelne Hügel und Berggipfel zu erobern, war sie Ende des Jahres doch gezwungen, sich aus weiten Teilen des Zap-Gebirges zurückzuziehen. Die sich im Winter schnell ändernden und harschen Witterungsbedingungen behinderten den Einsatz türkischer Aufklärungs- und Informationstechnologie und ermöglichten den Verbänden der Guerilla, zu einer großangelegten Operation auszuholen. In mehrere Tage andauernden koordinierten Angriffswellen gelang es den Verteidigungskräften, die Besatzer entscheidend zu schlagen und aus der Region zu drängen. In der türkischen Presse ließ man wie so häufig das »erfolgreiche Ende einer Operation und die vollständige Säuberung des Gebiets« verlautbaren, doch die von den Presseteams der Guerilla veröffentlichten Aufnahmen türkischer Stellungen sprechen eine andere Sprache. Zurückgelassene Konservendosen, zahlreiche Ausrüstungsgegenstände und die völlig intakten Unterstände und Verteidigungsstellungen weisen auf einen überstürzten Rückzug hin.

Seitdem harrt die türkische Armee im irakisch-türkischen Grenzgebiet aus, unternimmt immer wiederkehrende begrenzte Vorstöße, doch konnten die Besatzungskräfte seit dem Ende vergangenen Jahres keine relevanten Bodengewinne verzeichnen. Der Luftkrieg jedoch wurde bei jeder denkbaren Gelegenheit mit unverminderter Härte fortgesetzt. Auch nachdem Cemil Bayık im Namen des Ko-Vorsitzes der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), des politischen Dachverbands der Freiheitsbewegung Kurdistans, am 12. Februar dieses Jahres die Guerillakräfte zur einseitigen Einstellung aller militärischen Aktionen aufgerufen hatte, tat dies dem türkischen Kriegswillen keinen Abbruch. Dieser als humanitäre Maßnahme nach dem schrecklichen Erdbeben in Nordkurdistan, der Türkei und Syrien gedachte Vorstoß der Freiheitsbewegung prallte an der türkischen Staatsräson ab und verhallte auch international ohne weiteres Aufsehen. Mehrfach bemängelte der Generalkommandant des Zentrums für Volksverteidigung, Murat Karayılan, dass »diejenigen Kräfte, die uns noch vor einiger Zeit zum Waffenstillstand aufgerufen hatten, nun nicht bereit sind, sich hinter die Aktionspause zu stellen«. Er meinte wohl die westlichen Staaten der Europäischen Union und die Vereinigten Staaten von Amerika. Im Jahr 2021 hatte es immer wieder Gerüchte über direkte und indirekte Aufforderungen der Westmächte an die Guerilla gegeben, alle Kampfhandlungen in Nordkurdistan und dem Nordirak einzustellen und einen Waffenstillstand auszurufen. Auch als die Guerilla ihn im März bis nach der Wahl verlängerte, um möglichst offene und demokratische Bedingungen für den Wahlprozess zu garantieren, blieb die einseitige Feuerpause nicht nur unbeantwortet, sondern wurde auch international nicht ausreichend gewürdigt. Am Beispiel der Waffenruhe hat sich einmal mehr die Absurdität von Kategorien des »Terrorismus« bewiesen, mit denen die PKK immer wieder gerne belegt wird. Während eine Seite des Konflikts auf Deeskalation und Entspannung setzt, um die Rettungs- und Aufbauarbeiten nach dem schrecklichen Erdbeben nicht zu behindern, und weiterhin als Terrororganisation international verfolgt wird, bombardiert der Partner der so genannten »freien Welt« vom Erdbeben in Trümmer gelegte Landstriche und Ortschaften, setzt trotz Feuerpause Giftgas gegen die Guerillaverbände ein und unterbindet mit einer Verhaftungswelle nach der anderen jeglichen freien und demokratischen Willensbildungsprozess. Es ist fraglich, ob noch deutlicher hervortreten kann, dass die Aufrechterhaltung der kriegerischen Aktivitäten und Repressivmaßnahmen nichts mit den Aktionsformen und der militärischen Strategie der PKK zu tun hat, sondern einzig und allein in den politischen und ökonomischen Interessen des Westens begründet liegt.

Chance zur Demokratisierung ignoriert

So stellt sich durchaus die Frage, inwiefern die oben beschriebenen Äußerungen und Andeutungen westlicher Politiker über einen möglichen Regimewechsel in der Türkei tatsächlich ernstzunehmen gewesen sind, denn würde man wirklich auf einen Wandel und eine Demokratisierung der Türkei hinarbeiten wollen, so hätte man zuallererst die historischen Möglichkeiten, welche die kurdische Freiheitsbewegung in den vergangenen Monaten eröffnet hatte, richtig bewerten und nutzen müssen. Auch die internationalen Reaktionen auf die Wiederwahl Erdoğans nach dem 28. Mai können Aufschluss darüber geben, wie es tatsächlich um den westlichen Willen zur Demokratisierung der Türkei steht. So ist der Besuch des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg wenige Tage nach dem Sieg Erdoğans, aber auch die Aussagen des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden über eine mögliche Wiederaufnahme des F-16-Reparatur- und Wartungsprogramms zwischen den USA und der Türkei, ein klares Zeichen dafür, dass man sich mit einer weiteren Legislaturperiode unter der Herrschaft Erdoğans durchaus anfreunden kann. Die europäische Rückendeckung für die andauernde Totalisolation Abdullah Öcalans und vor allem das gähnende Schweigen des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) auf die Frage nach dem Zustand der Gefangenen müssen als direkte Schützenhilfe für das Regime in der Türkei betrachtet werden.

Auch die überschwänglichen Glückwünsche des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz, der sich gerne mit »neuer Energie« in »gemeinsame Projekte« stürzen möchte, zeigen, dass es wohl auch in Zukunft keinen Bruch in den deutsch-türkischen Beziehungen geben und die strategische Partnerschaft beider Länder, ungeachtet aller Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und Überfälle auf souveräne Nachbarstaaten, andauern wird. Der Kommentar des ARD-Istanbul-Korrespondenten Uwe Lueb am Tag nach der Wahl in der Tagesschau, in dem er erklärt, dass Erdoğan kein Sultan sei, sondern die »Wahl demokratisch gewonnen« habe und es bisher keine »Vorwürfe des Wahlbetrugs« gebe, spricht Bände. Die massenhaften und mehrfach belegten Wahlfälschungen vor allem in den mehrheitlich kurdischen Gebieten, die Tatsache, dass die einzige wirklich demokratische Opposition, die Demokratische Partei der Völker (HDP) und die Grüne Linkspartei (YSP), nicht nur in den Wochen vor der Wahl, sondern seit Jahren mit einer Festnahmewelle nach der anderen überzogen wird, Tausende ihrer Mitglieder und Aktivisten wegen teils wahnwitziger Begründungen in türkischen Gefängnissen einsitzen und die bewaffneten Kräfte des Staates in Kurdistan eine konstante Atmosphäre der Angst und des Terrors aufrechterhalten, scheinen für Lueb ganz normaler Bestandteil eines demokratischen Wahlprozesses zu sein. Man darf annehmen, dass man sich in der »freien Welt« nicht nur mit weiteren fünf Jahren islamistischer Herrschaft in der Türkei abgefunden hat, sondern Erdoğan im In- und Ausland weiterhin Narrenfreiheit genießen wird.

Türkisches Bombardement in SüdkurdistanKriegerische Perspektiven

Das neue Kabinett Erdoğans hat sich derweil sogleich an seine Arbeit gemacht und keine Gelegenheit ausgelassen, unter Beweis zu stellen, dass da weitergemacht wird, wo aufgehört wurde. Schon nach seiner ersten Sitzung betonte der Nationale Sicherheitsrat MGK in seiner veröffentlichten Abschlusserklärung die unverminderte Fortsetzung des Krieges in Nordsyrien und Südkurdistan. Die Drohnenschläge und Luftangriffe, die seit Beginn des Monats Juni die selbstverwalteten Gebiete Nord- und Ostsyriens von Şehba bis nach Qamişlo erschütterten, sind erste Vorzeichen des Kurses, den die neue alte Regierung Erdoğans einschlagen wird. Am 12. Juni verkündete der Ko-Vorsitz der KCK nach viermonatiger einseitiger Feuerpause deren Ende. Sie sei aufgrund der türkischen Haltung sinnlos geworden, erklärten die Volksverteidigungskräfte und teilten die Bilanz der vergangenen vier Monate mit der Öffentlichkeit. So führte die türkische Armee in vier Monaten insgesamt 373 Angriffe mit Kampfjets, 139 Angriffe mit Kampfhubschraubern und 4.336 Angriffe mit Haubitzen, Panzern und schweren Waffen durch. Zudem kamen in 224 Fällen geächtete Kampfmittel wie phosphorangereicherte Granaten, verbotene Bomben und chemische Waffen zum Einsatz. Die KCK wies in ihrer Stellungnahme auch auf die andauernden Angriffe auf die selbstverwaltete Region Şengal im Nordirak sowie auf die Ermordung kurdischer Oppositioneller im Ausland hin. Zuletzt hatten vermutliche Agenten des türkischen Geheimdienstes MIT den kurdischen Aktivisten Hüseyin Arasan in Silêmanî (Suleymaniah) ermordet. Auch die anhaltende Isolation des Repräsentanten des kurdischen Volkes, Abdullah Öcalan, der in vergangenen Phasen als Verhandlungsführer der kurdischen Seite aktiv geworden war, ist für die KCK Ausdruck des türkischen Unwillens zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts und ein Grund mehr zur Wiederaufnahme der Kampfhandlungen. So erklärte sie zur aktuellen Situation nach der Wahl, dass es nun »unabdingbar [sei] angesichts dieser Angriffe, überall aktiv zum Kampf überzugehen und den Feind wirkungsvoll zu treffen«, und »dass wir mit dem heutigen Tag unsere Feuerpause beendet haben«. Es könne »keine Entwicklung ohne die Zerstörung des AKP/MHP-Faschismus geben«, so die KCK in ihrer Stellungnahme.

Es gibt keine Zweifel daran, dass die Zeichen in Kurdistan und der Region auf Sturm stehen. Die revolutionäre Bewegung und die demokratischen Kräfte vor Ort müssen sich wohl auch in diesem Jahr für eine nächste Runde der Auseinandersetzungen wappnen. Auch die Verhandlungen zwischen den Außenministern des syrischen Regimes, des Iran, der Russischen Föderation und der Türkei am 21. Juni in der Hauptstadt Kasachstans Astana werden mit Sicherheit keinen geringen Einfluss auf die Situation nehmen und vor allem für die kommenden Entwicklungen in Syrien weitreichende Folgen haben. Dort drängt die Türkei schon seit Monaten auf einen Rückzug der syrisch-russischen Kräfte aus den Regionen westlich des Euphrats, was die Gebiete Şehba und Minbic einer weiteren möglichen türkischen Invasion preisgeben könnte. Dass im neuen Kabinett Erdoğans der bisherige Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, Hakan Fidan, ausgerechnet zum Außenminister ernannt worden ist, könnte darauf hindeuten, dass Erdoğan auch gegenüber Syrien, Russland und der iranischen »Achse des Widerstands« auf weitere Annäherung setzt. So war es Hakan Fidan, dem zwar eine große Nähe zum westlichen Lager nachgesagt wird, der aber die geheimen Verhandlungen zwischen dem syrischen Geheimdienst Muchabarat und dem MIT geleitet hatte, die im vergangenen Jahr den offiziellen Treffen der Regierungsvertreter beider Länder vorausgegangen waren. Auch in der internationalen Politik können persönliche Kontakte beizeiten eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen und so könnte es sich bei der Ernennung Fidans zum neuen türkischen Chefdiplomaten genauso um außenpolitisches Kalkül Erdoğans handeln. Zwar scheint eine tatsächliche Aussöhnung zwischen dem syrischen Regime und der Regierung Erdoğan noch in weiter Ferne zu liegen, doch es gilt, den Verlauf der Verhandlungen genauestens zu verfolgen. Die Auswirkungen einer solchen Annäherung auf die demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens wären nicht zu unterschätzen.

So groß die Hoffnungen auf eine demokratische Veränderung in der Türkei gewesen sind und so klar allein die Tatsache, dass Erdoğan die Wahl nicht im ersten Wahlgang gewinnen konnte, ein Beweis dafür ist, dass der Wille zum Sturz des Regimes weiter wächst, so sicher muss sich auch die Solidaritätsbewegung in der BRD und Europa auf eine neue Phase verschärfter Auseinandersetzungen vorbereiten und ebenso im laufenden Jahr die Gesellschaften der Türkei und Kurdistans in ihrem Kampf um Demokratie und Freiheit nach Kräften unterstützen. Angesichts des neuen von faschistischen Kräften dominierten türkischen Parlaments und mit der Aussicht auf weitere fünf Jahre autokratischer Herrschaft Erdoğans ist Resignation trotzdem der denkbar schlechteste Ratgeber. Die Wahl hat neue Bedingungen geschaffen, doch der Kampf für die Freiheit Kurdistans und die Demokratisierung der Türkei hat weder mit dem Wahlkampf begonnen, noch wird er mit dem Ergebnis des 28. Mai ein Ende finden.


Kurdistan Report 228 | Juli / August 2023