Von der Jin, Jiyan, Azadî-Revolution zu einem gemeinsamen Aufbruch der Völker
Gemeinsam handeln und Widerstand leisten
Zagros Masîro, Journalist aus Ostkurdistan
Seit Monaten gärt die »Jin, Jiyan, Azadî«-Revolution auf den Straßen des Iran. Viele Menschen haben bei diesem Aufstand ihr Leben verloren, aber die Menschen sehnen sich weiter nach Freiheit und Demokratie. Was sich im Iran abspielt, ist eine Anhäufung zerstörerischer politischer, wirtschaftlicher, sozialer, ideologischer und ökologischer Krisen. Das herrschende Mullah-Regime setzt gegen das aufbegehrende Volk auf die Fortsetzung seiner repressiven Politik, die sich gegen alle Teile der Gesellschaft richtet, insbesondere jedoch gegen die Frauen. Die Hinrichtungen gehen weiter, während die krisengeschüttelte Wirtschaft die Gesellschaft an den Rand des Abgrunds treibt, Frauen weiterhin brutal angegriffen werden sowie Armut und Arbeitslosigkeit ihren Höhepunkt erreicht haben.
Die wirtschaftliche Situation der iranischen Gesellschaft ist durch Misswirtschaft, Korruption und das Versagen der Regime-Führung ruiniert, während die herrschende Clique die gesamte Machtstruktur in ihren Händen konzentriert hat. Die Akkumulation von Macht und Kapital wurde in die Hände der Revolutionsgarden gelegt und hat die Klassenunterschiede auf die Spitze getrieben. Arbeitslosigkeit und mangelndes Vertrauen in die Zukunft erschweren die Situation zusätzlich. Die Kaufkraft der Bevölkerung, insbesondere der Werktätigen, ist stark abgesunken. Die Auswirkungen der instabilen Wirtschaftslage haben einen Schatten auf alle Beziehungen in der iranischen Gesellschaft geworfen.
Am Rand einer komplexen Zerstörung
In diktatorisch regierten Gesellschaften sorgen die an der Macht befindlichen Eliten oftmals dafür, dass die gesamte Gesellschaft ausgebeutet wird, die Klassenunterschiede zunehmen und die Unter- und Mittelschichten unter der Last der Herrschaftsverhältnisse zu ersticken drohen. Unter dem oligarchischen und diktatorischen Regime der Islamischen Republik Iran sind nicht nur die Frauen, sondern die gesamte Gesellschaft der Gefahr ausgesetzt, dass ihre gesunden sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen zerstört werden. Die mafiös agierenden Herrschenden haben die Gesellschaft an den Rand einer komplexen Zerstörung gebracht. Die Völker des Iran aber brauchen ein System der sozialen Gerechtigkeit und Demokratie, das die Grundlagen einer Gesellschaftsordnung wiederherstellt, in der die Ausbeutung von Mensch und Natur unterbunden wird.
Die Frage der Selbstbestimmung von Frauen als »älteste Kolonie« in der Geschichte der Menschheit ist neben der Frage der unterdrückten Nationalitäten und Völker das zentrale Thema im Iran und im Mittleren Osten. Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen müssen Freiheit, gesellschaftliche Gerechtigkeit und die Demokratie im Zentrum des aktuellen Gesellschaftsdiskurses stehen, wobei im Iran derzeit vor allem die Frauen eine Vorreiterrolle innehaben, um Antworten auf die aktuellen Fragen zu liefern.
Wir alle wissen, dass die Frauen ebenso wie die Völker im Iran, also zum Beispiel die Perser:innen, die Aseris, die Kurd:innen, die Mazandaraner:innen, die Gilaker:innen, die Lur:innen oder die Turkmen:innen, von den korrupten und faschistischen Herrschenden im Iran kolonialisiert werden. Der Iran ist eine große multinationale Gemeinschaft, und deshalb ist die Nationalitätenfrage neben der Frauenfrage eine weitere wichtige Grundfrage der neuen iranischen Revolution. In allen aktuellen Krisen im Iran sieht man vor allem immer auch die Spuren der verletzten Rechte der unterdrückten Nationalitäten. An einen voranschreitenden Erfolg der neuen iranischen Revolution aber ist solange nicht zu denken, wie nicht alle veränderungswilligen Kräfte der iranischen Gesellschaft sich offen der Nationalitätenfrage stellen und eine gleichberechtigte Existenz von Nationalitäten im Iran akzeptieren.
UN-Menschenrechtsrat für Untersuchungskommission
Die gewaltsame Unterdrückung von Menschen und Nationalitäten im Iran hat solch extreme Ausmaße angenommen, dass der UN-Menschenrechtsrat in seiner 35. Sondersitzung am 24. November 2022 für die Einrichtung einer Untersuchungskommission stimmte, die Berichten über »Menschenrechtsverletzungen in der Islamischen Republik im Zusammenhang mit den Protesten, die nach dem 16. September 2022 begannen«, nachgehen soll. Darüber hinaus wurden im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen im Iran Dutzende von Sanktionen von verschiedenen Ländern gegen einzelne Beamte und Institutionen der Islamischen Republik verhängt.
Die Regierung hat jedoch für keinen der Morde die Verantwortung übernommen. Wie im Fall des Todes von Jîna Mahsa Amînî, für den das Regime eine Grunderkrankung (hier einen Herzinfarkt) als Erklärung angab, erklärte es zu den während des Aufstands durch Sicherheitskräfte Ermordeten wahlweise, die Todesursache sei eine Grunderkrankung, Selbstmord, ein Sturz aus großer Höhe, ein Verkehrsunfall, persönliche Feindseligkeiten oder Mord durch Konterrevolutionäre oder »ausländische Agenten«. Natürlich gab es nie überzeugende Beweise für diese Behauptungen der Regierung.
Abseits der Gewalt gegen die Demonstrant:innen bombardiert das iranische Regime zudem seit Juni das Kosalan-Gebirge in der Region Merîwan (Ostkurdistan/Westiran) sowohl vom Boden als auch aus der Luft. Artilleriebeschuss verursachte riesige Waldbrände, die große Teile der unberührten Natur Merîwans zerstörten. Die Behörden unternahmen nicht nur nichts, um die Brände zu bekämpfen, sondern behinderten auch Umweltaktivist:innen, die versuchten, die Brände einzudämmen. Drei von ihnen, Mohsen Dadgar, Saeed Dadgar und Yasser Saberi, wurden sogar vom Regime verhaftet. Die Angriffe der iranischen Revolutionsgarden sind eine Geißel für die Menschen und die Wirtschaft der Region, deren Lebensgrundlage durch die Waldbrände bedroht ist. Die Bombardierungen richten sich aber vor allem gegen Guerillakämpfer:innen, die für ein freies Leben, für die Freiheit der Frauen, für Ökologie und Basisdemokratie kämpfen.
Die Völker des Iran haben über Jahrhunderte friedlich zusammengelebt
Je länger sich das Regime weigert, eine Bereitschaft für Wandel zu zeigen und die Unterdrückung der Menschen zu beenden, desto größer werden die Gefahren für das Regime und das ganze Land. Ob es sich um die Verhaftung und Hinrichtung von Aktivist:innen oder die Militäroperationen gegen die Freiheitsbewegung in Kosalan handelt, die kurdische Frage ist ein integraler Bestandteil der Problematik im Iran, kann aber nicht losgelöst von den anderen sozialen und Nationalitäten-Problemen des Landes betrachtet werden. Der Widerstand der Guerilla in den Bergen und der Demonstrant:innen im ganzen Land haben dies erneut bewiesen.
In den letzten Jahren haben die Angriffe des iranischen Klerikalfaschismus auf Zivilist:innen in der Autonomen Region Kurdistan (Irak) zugenommen. Die Ermordung von Mitgliedern der Partei für ein freies Leben in Kurdistan (PJAK) und der Demokratischen Partei Kurdistan-Iran (PDK-I) ist Teil desselben Vernichtungskonzepts des iranischen Regimes. Dass dieses Konzept zum Scheitern verurteilt ist, haben ähnliche Unternehmungen in der Vergangenheit hinlänglich bewiesen.
Gewiss, ohne die Freiheit aller Völker wird niemand im Iran Freiheit und Demokratie (er)leben können. Diese Völker des Iran haben über Jahrhunderte friedlich zusammengelebt. Jetzt müssen sie diese historischen Bande wieder stärken, sich über die Grenzen der Nationen hinweg organisieren, gemeinsam handeln und Widerstand leisten, um das repressive Regime, das sie fortgesetzt angreift, zu überwinden. Während der »Jin, Jiyan, Azadî«-Revolution haben uns die Menschen auf der Straße gezeigt, welches Potenzial in dieser Einheit steckt. Jetzt müssen die Menschen aller oppositionellen und freiheitsliebenden Kräfte diesem Beispiel folgen.
Deshalb ist die wichtigste politische Aufgabe in der jetzigen Phase, dass alle Teile der iranischen Gesellschaft die Notwendigkeit einer moralischen, politischen und demokratischen Lösung der kurdischen Frage ebenso begreifen wie die Lösung der Probleme aller anderen Völker. Gerade die Zuspitzung der Probleme zu einer allgemeinen Krise durch Armut, Arbeitslosigkeit, Korruption und Repression erweitert die Handlungsfähigkeit der Menschen. Denn Gesellschaften sind es seit jeher gewohnt, sich am Rande des Zusammenbruchs zusammenzuschließen und durch kollektives Handeln das Zepter in die Hand zu nehmen. In einer derartigen Situation befindet sich die iranische Gesellschaft heute. Jetzt müssen Menschen aller Teile der Gesellschaft ihre Selbstorganisation intensivieren, um sich besser auf die demokratische Transformation im Iran vorzubereiten.
Kurdistan Report 229 | September / Oktober 2023