Widerstand gegen Embargo, Belagerung, Luftangriffe – die Herausforderung und der Appell zur Unterstützung
Camp Mexmûr – die aktuelle Lage
Interview mit Bêwar Emîn, Komitee für auswärtige Beziehungen des Volksrats von Mexmûr
Das Geflüchtetencamp Mexmûr in Südkurdistan ist seit seinem Aufbau 1998 ständigen Angriffen ausgesetzt. Aktuell ist es vor allem das seit 2019 auf Druck der Türkei durch die Barzanî-Partei PDK verhängte Embargo, das die Menschen massiv einschränkt. Hinzu kommen die wiederholten Versuche durch den Irak, das Camp einzuzäunen und unter seine militärische Kontrolle zu stellen, zuletzt Anfang Juni. In diesem Zusammenhang wurde auch mehrfach versucht, dem Camp die Wasserversorgung abzuschneiden. Durch den Widerstand der Menschen im Camp konnte die Belagerung aber verhindert werden. Es gab jüngst Gespräche zwischen der Camp-Selbstverwaltung und der irakischen Regierung.
Was hat sich seitdem an der Lage des Camps verändert?
Sowohl der türkische Staat als auch die PDK (Demokratische Partei Kurdistans) versuchen bereits seit Beginn der Fluchtbewegungen der Bewohner:innen des heutigen Mexmûr Camps alles, um die Menschen zu vertreiben. Wenn man aber verstehen will, welche Pläne insbesondere in den letzten Jahren gegen das Camp und seine Bewohner:innen verfolgt werden, dann muss man bis zum 17. Juli 2019 zurückgehen. Vor allem der türkische Staat und die PDK haben seitdem viele Versuche unternommen, die Menschen aus dem Lager zu vertreiben und für Chaos zu sorgen. Essentiell war dafür, dass der Weg ins Camp und aus dem Camp heraus blockiert wurde. Diese Maßnahme sollte dafür sorgen, dass die ökonomische Lage im Camp in eine Schieflage gerät. Durch diese Blockade wurde zudem versucht, die Menschen zu demoralisieren. Denn ihnen wurde dadurch praktisch ihr Recht auf Bildung und Zugang zu medizinischer Behandlung verwehrt. Parallel dazu flog die türkische Luftwaffe in der Umgebung und sogar auf das Camp selbst viele Luftangriffe, wodurch mehrere Camp-Bewohner:innen ihr Leben verloren. Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Angriffe können wir von einem Spezialkrieg sprechen, der gegen uns Menschen hier im Camp geführt wird.
Der türkische Staat und die PDK mussten sich letztendlich aber eingestehen, dass sie auf diese Weise ihr Ziel nicht erreichen können. Der politische Druck auf sie wurde zu groß.Entscheidend war aber, dass die Menschen im Camp Widerstand leisteten. Deshalb änderten sie ihre Taktik und wendeten sich nun an die irakische Regierung. Sie versuchten, sie unter Druck zu setzen, um sie in die Umsetzung ihrer schmutzigen Ziele mit einbeziehen zu können. Die Tatsache, dass der Irak politisch nicht stabil ist, sondern im Gegenteil viele Schwächen hat und lediglich eine geringe politische Willenskraft aufweist, hat solch eine interventionistische Politik überhaupt erst ermöglicht. Mit dem Versprechen, mehr Wasser [des Tigris] in den Irak fließen zu lassen und in den Verhandlungen um die irakischen Ölexporte Zugeständnisse zu machen, konnte sich die Türkei somit leicht durchsetzen und bei ihrem Druck auf unser Camp von nun an auf die irakische Regierung zählen.
So kam es, dass am 20. Mai diesen Jahres irakische Streitkräfte das Camp umstellten und begannen, es einzuzäunen sowie Gräben auszuheben und Kontrolltürme in seiner unmittelbarer Umgebung zu errichten. Die Bewohner:innen des Camps widersetzen sich dem jedoch und leisteten zivilen Widerstand. Egal wie viel Druck die irakischen Kräfte auch auf die Menschen ausübten, sie wichen nicht zurück und hielten an ihren Aktionen des zivilen Widerstandes fest. Letztendlich waren die irakischen Kräfte gezwungen, vorübergehend zurückzuweichen. Neben dem Widerstand im Camp selbst war es auch der Druck der Menschen von außerhalb, der die irakische Armee zum Rückzug zwang. Dadurch entstand die Möglichkeit, einen Dialog aufzunehmen. Durch mehrere Treffen konnten der Konflikt teilweise befriedet und Ansätze für Lösungen erarbeitet werden. Doch muss man auch deutlich sagen, dass trotz der aktuellen scheinbaren Ruhe in Mexmûr die bedrohliche Situation weiterhin vorhanden und eine Lösung noch immer nicht erreicht ist. Das Camp wird weiter unter Druck gesetzt. Es wird sich dementsprechend noch zeigen, ob langfristig Lösungen gefunden werden können.
Offiziell stehen das Camp und seine Bewohner:innen unter dem Schutz des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR). Praktisch ist der UNHCR aber nicht präsent. Was für Erwartungen habt ihr an internationale staatliche Organisationen?
Auf der Basis des irakischen Gesetzes über politische Flüchtlinge Nr. 51 aus dem Jahr 1971 wird das Camp seit Langem von irakischer Seite offiziell als politisches Geflüchtetencamp anerkannt. Auch die Vereinten Nationen (UN) haben die Bewohner:innen des Camps bereits 1994 offiziell als politisch verfolgt anerkannt und haben über einige Jahre hinweg ihnen gegenüber eine entsprechende Haltung eingenommen. Als sich der IS-Terror in der Region ausbreitete, zogen sich die UN jedoch zurück und ließen das Camp schutzlos zurück. Das war im Jahr 2014. Seitdem sind sie ihrer Verantwortung dem Camp gegenüber nicht nachgekommen und haben ihren offiziellen internationalen Auftrag nicht verfolgt. Sie haben keine Stellungnahme in Bezug auf die Angriffe seitens des türkischen Staates, der PDK und des IS abgegeben. Das Gleiche gilt in Bezug auf das Embargo und die jüngsten Angriffe. Die UN haben sich also nicht für den Schutz der Bewohner:innen und deren Rechte eingesetzt. Auch während des Angriffs am 20. Mai diesen Jahres schwieg das Flüchtlingshilfswerk. Sie kehrten nicht in ihr Büro im Camp zurück und äußerten sich schlichtweg nicht zu den Vorfällen.
Wir sind stets um Kontakt mit den UN bemüht, jedoch mangelt es an der Bereitschaft der UN für eine Wiederaufnahme des Dialogs. Dabei geht es nicht nur um die Hoffnungen und Erwartungen der Menschen im Camp. Es geht um die Verantwortung, welche die UN tragen. Kommen sie dieser nicht nach, verletzen sie eigene internationale Gesetze und stellen somit das Flüchtlingshilfswerk zur Diskussion. Wenn die UN zurück ins Lager kommen, müssen sie sich mit den Problemen der Menschen dort befassen und Lösungen finden. Fragen der Gesundheit, Bildung, Frauen, Kinder und Jugend sind alles Themen, die ganz oben auf der Agenda stehen.
Der Widerstand der Familien in Mexmûr hält seit Jahrzehnten an. Was hat das mit den Menschen – vor allem mit der Jugend – gemacht?
Für uns hat Mazlum Doğan eine ganz besondere Bedeutung, denn von ihm stammen die Worte »Widerstand heißt Leben«. Die damit einhergehende Philosophie treibt die Bewohner:innen des Camps an, seit sie sich vor 30 Jahren auf die Flucht begeben mussten. Über lange Zeit haben sie sowohl Freund als auch Feind gezeigt, was der Kampf für ein freies Land und die Verteidigung der eigenen bloßen Existenz erfordert. Auch wenn es ohne Frage immer wieder Probleme gibt, ist die Hoffnung der Kinder, Jugendlichen, Frauen, Männer, sowie der älteren Menschen im Camp ungebrochen. Sie alle haben den starken Willen, diesen Widerstand fortzuführen, wie auch die Überzeugung, letztendlich zu siegen.
Die Menschen im Camp organisieren sich als kollektive Kraft in einem Volksrat. Was beschäftigt den Volksrat aktuell am meisten? Welche neuen Vorhaben sollen verfolgt werden?
Der Grund dafür, dass es unserer Gesellschaft seit 30 Jahren trotz all der Angriffe, Morde, des Verrats und der schweren geographischen Bedingungen gelungen ist, sich zu behaupten, besteht darin, dass sie es geschafft hat, sich erfolgreich selbst zu organisieren. Mexmûr ist ein Modell der demokratischen Selbstverwaltung. Der Aufbau eines selbstverwalteten Bildungs-, Gesundheits- und Verwaltungssystems, einer autonomen Organisierung von Frauen und Jugendlichen innerhalb eines anderen Staates, war selbstverständlich keine leichte Aufgabe.
Das System, von dem wir heute sprechen, ist auf Basis des Paradigmas von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] geschaffen worden. Dieses Paradigma hat die notwendige Mentalität für dieses Selbstverwaltungsmodell erschaffen. Dass sich heute in Rojava/Nord- und Ostsyrien eine Revolution ausgebreitet hat, lässt sich auch auf Rêber Apo zurückführen. Seine Mühen haben die für den Widerstand in Rojava notwendige Kraft der Menschen überhaupt erst entwickelt. So konnte ein politischer Wille geschaffen werden. Ein Wille der sich schließlich zu einem System der Selbstverwaltung entwickelt hat.
Ein essentielles Projekt des Volksrats ist es, den Widerstandsgeist im Camp zu stärken und die Isolation von Rêber Apo, der den Willen des kurdischen Volkes darstellt, zu durchbrechen. In Bezug auf die Selbstverwaltung sind es vor allem das Bildungs- und Gesundheitswesen, neben der Jugendarbeit, die aktuell im Fokus stehen. Ansonsten versuchen wir, auch die diplomatischen Strukturen des Camps zu stärken, um unsere Interessen besser verteidigen zu können und einen politischen Status für uns zu erlangen.
Insbesondere während der letzten Angriffe gab es viel Solidarität aus ganz Kurdistan, von Kurd:innen im Exil und von internationalen demokratischen Kräften. Erreichen euch diese Bilder? Was fordert ihr von den demokratischen Kräften weltweit?
Der Widerstand, den wir hier geleistet haben, war nur durch die Energie und Lebendigkeit der Gesellschaft an sich möglich. Damit meine ich sowohl die Energie der Menschen im Camp selbst, als auch die der Menschen in anderen Teilen Kurdistans und an anderen Orten der Welt, die uns allesamt unterstützen. Wir sehen ihre Unterstützung definitiv und grüßen sie an dieser Stelle respektvoll. Sie tragen dazu bei, dass unsere Überzeugung, einen erfolgreichen Kampf zu führen, gestärkt wird. Wir sehen auch, dass sich der dabei entfaltete Widerstandsgeist verbreitet hat. Das hat schließlich auch dazu geführt, dass heute niemand so einfach auf dem Rücken des Camps Politik betreiben kann.
Von den staatlichen Kräften, die sich selbst Demokratie auf ihre Fahne schreiben, fordern wir, dass sie uns Gehör verschaffen. Wir fordern von ihnen, dass sie der Welt zeigen, was wir durchmachen und welchen Kampf wir führen. Wir wurden verfolgt und getötet. Man hat uns unser Land und sämtliche Rechte genommen. Deshalb fordern wir von den staatlichen Kräften, dass sie sich nicht weiter an den Massakern an der kurdischen Gesellschaft beteiligen. Seid nicht länger Mittäter!
Kurdistan Report 229 | September / Oktober 2023