Die ökologische Krise in Ostkurdistan und die aufkeimende Ökologiebewegung
Kommerzialisierung der Natur
Saman Ghazali, Journalist und Umweltaktivist
Mit dem Beginn des kapitalistischen Zeitalters begann die Wissenschaft, die zuvor vorherrschenden Glaubenssysteme, insbesondere die Religionen, zurückzudrängen. Interessanterweise baute die westliche Wissenschaft jedoch auf demselben Grundprinzip auf, wie die einst dominierenden Religionen. Anders ausgedrückt: Statt die Natur als eine sterbliche Substanz in religiösen Texten zu überwinden, entwickelte sich die Vorstellung, den Anweisungen der wissenschaftlichen und technischen Prinzipien zu folgen, um sie in der Moderne zu beherrschen.
Mit der Verkündung des »Todesgottes« durch Nietzsche tauchte eine neue Vorstellung auf – eine neue Weisheit und Erkenntnis über die metaphysische Würde. Diese übertrug dem Menschen eine neue Aufgabe: Die Natur musste im Einklang mit den Geboten der Weisheit und der Wissenschaft gebracht werden, um Erlösung zu erlangen. Diese Erlösung wurde nicht mehr im Reich Gottes, sondern nur noch auf der Erde gesucht. Wissenschaft und Vernunft verfolgten dabei in Bezug auf die Umwelt zwei Hauptziele: die industriell-technische Kontrolle über die Natur und die Vorherrschaft in Form von geografischen Imperien (Val Plumwood, 1993).
Die Ideen von Darwin, die später als Sozialdarwinismus in den gesellschaftlichen Diskurs einflossen, führten die Vorstellung ein, dass der Mensch eine überlegene und besondere Spezies sei, die sich von anderen Arten unterscheidet und das Recht hat, die Natur und andere Spezies zu seinem eigenen Vorteil zu dominieren. Die Theorie des »Überlebens des Stärkeren« und des »Kampfes ums Überleben«, die von Herbert Spencer1 in die Soziologie eingeführt und aus Darwins Theorien entwickelt wurde, veranschaulichte diese Vorstellung.
Es wurde argumentiert, dass die Existenz sozialer Klassen eine natürliche Erscheinung sei und dass innerhalb der Gesellschaft die Stärkeren oder die Vorgesetzten das Recht hätten, die Schwächeren zu unterwerfen und auszubeuten. Diese Unterwerfung, Herrschaft und Ausbeutung führten im 20. Jahrhundert zu Umweltkrisen und legten den Grundstein für die Entstehung sozialer Bewegungen, insbesondere der Umweltbewegung.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs und der Beginn des Kalten Krieges markierten einen tiefgreifenden Wandel in den sozialen Bewegungen. Die Arbeiter:innen- und Nationalbewegungen traten in den Hintergrund, während Umweltbewegungen, Frauenbewegungen, Friedensbewegungen, der Kampf gegen Rassendiskriminierung und andere Themen an Bedeutung gewannen. Dieser Paradigmenwechsel erreichte seinen Höhepunkt mit der französischen Studierendenbewegung im Mai 1968.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Umweltkrisen nach jahrzehntelanger Vorherrschaft des liberalen Kapitalismus immer offensichtlicher. Das Auftreten dieser Krisen, zusammen mit einer theoretischen Verschiebung von großen Erzählungen auf Meta-Narrativen, legte den Grundstein für die Entstehung von Umweltbewegungen in den letzten drei Jahrzehnten des Jahrhunderts.
Mit dem Aufstieg dieser Bewegungen veränderte sich der Kapitalismus von einem regulierten, staatlichen Modell zu einem neoliberalen Kapitalismus, der von Finanzmärkten und globaler Marktwirtschaft geprägt war. Diese Umstellung brachte einen Paradigmenwechsel mit sich, der die Natur als ein Luxus- und Handelsgut für jeden präsentierte. Sie förderte einen Lebensstil und Werte, die von den entlegensten Ecken der Welttechnologie ausgingen, dabei lokale Gemeinschaften und unberührte Naturgebiete einschmolzen und die Natur zum Verkauf anbot.
Der kapitalistische Ausverkauf der Natur im Iran
Während der Pahlavi-Periode, insbesondere während der Landreform von 1953-1959, wurden im Iran erstmals kapitalistische Verhältnisse etabliert. Es ist wichtig zu beachten, dass dies durch die Revolution von 1979 nicht angetastet wurde. Im Gegenteil, mit dem Aufkommen islamischer Strömungen, die die Revolution vereinnahmten, beschleunigte sich der Prozess der Integration des Irans in den globalen freien Markt.
Nach dem Ende des achtjährigen Krieges zwischen Iran und Irak wurde damit begonnen, liberale und neoliberale Werte zu fördern, sowie die Kommerzialisierung der Natur voranzutreiben. Die Ausbeutung der Natur im Iran hat in den letzten fünfzig Jahren einen kontinuierlichen Anstieg erfahren. Um dies zu verdeutlichen: In den 1970er Jahren wurden im Iran 47.000 Erdöl- und Erdgasbohrungen durchgeführt. Nach einem halben Jahrhundert hat sich diese Zahl auf eine Million Bohrungen erhöht, obwohl der Iran die weltweit höchste Absenkung des Grundwasserspiegels verzeichnet. Diese Statistiken sind nur ein kleiner Einblick in die zahlreichen ökologischen Krisen im Iran.
Der iranisch besetzte Teil Kurdistans, auch als »Ostkurdistan« bekannt, bildet hier keine Ausnahme. Die Rohstoffgewinnung in Ostkurdistan hat ein so fortgeschrittenes Stadium erreicht, dass der Urmia-See, ein jahrtausendealtes Naturerbe, austrocknet. Die Wälder des Zagros-Gebirges schrumpfen täglich weiter. Lagunen verschwinden nach und nach, und Wasserressourcen werden gnadenlos ausgebeutet. Interessanterweise zeigen Untersuchungen, dass lediglich fünf Prozent des Verlustes von Land und Lebensraum, wie im Fall des Urmia-Sees, auf Dürren und Veränderungen in den Niederschlägen zurückzuführen sind.
In den letzten drei Jahrzehnten verstärkte sich die Kontrolle und Ausbeutung der Natur in Ostkurdistan durch die Einbindung in globale kapitalistische Marktbeziehungen und die Integration lokaler Gemeinschaften und Dörfer in neoliberale Strukturen erheblich. Dies geschah sowohl durch staatliche Souveränität im Rahmen ökozidalen Verhaltens als auch durch lokale Institutionen und Kapitalbesitzer, die als Bindeglied zwischen regionaler und zentraler Bourgeoisie fungierten.
Während der neoliberalen Ära zog der Kapitalismus die Menschen zunächst aus den ländlichen Gebieten in die Städte, indem er die Landwirtschaft ökonomisierte. Dies führte zur Zerstörung traditioneller Gemeinschaften sowie der natürlichen Lebenszyklen der Landwirtschaft und förderte eine wirtschaftliche Ausbeutung, die auf Rohstoffextraktion basierte.
In einer weiteren Phase, die von der Förderung liberaler und neoliberaler Werte sowie der Kommerzialisierung der Natur geprägt war, kam es zu einer teilweisen Rückkehr aufs Land. Dies bedeutet in gewisser Weise eine negative Rückkehr zur Natur, und zwar auf zwei Arten: Erstens durch Landbesitzer, die die Zeit der Landreform überstanden hatten, und zweitens durch Kapitalbesitzer, die begannen, Artenvielfalt und einheimische Lebensräume zu zerstören, um Luxusresidenzen, Gärten und Villen zu bauen, die dem Wohlstand, der Freizeit und dem Luxus dienen sollen.
Dies ging einher mit massiven Umweltzerstörungen, die von der Regierung unterstützt wurden. Die politische Struktur führte eine Art Ökozid-Kultur ein, die den Bau von Staudämmen und die Abholzung von Wäldern unter dem Deckmantel von Fünfjahres-Entwicklungsplänen vorantrieb.
Trotz all dieser Katastrophen und Umweltzerstörungen hat die Zivilgesellschaft in Ostkurdistan in den letzten fast zwei Jahrzehnten die Ökologie zu einem zentralen Bestandteil ihrer politischen Agenda gemacht. Diese Bewegung entspringt einer breiten Basis von Aktivist:innen auf lokaler Ebene, die eine Umweltbewegung repräsentieren, welche auf lokaler Ebene operiert, aber global denkt und sich gegen bestehende Machtstrukturen und Umweltzerstörung stellt.
Diese Bewegung hat eine neue Definition von Umwelt entwickelt, die nicht nur biologische Aspekte umfasst, sondern auch soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Dimensionen berücksichtigt. Die Aktivist:innen dieser Bewegung sind sich der Machtstrukturen bewusst, die Katastrophen, Krisen und Umweltzerstörung ermöglichen. Sie erkennen, dass der Kampf auf lokaler Ebene gleichzeitig ein globaler Kampf gegen die Profitlogik und die kapitalistische Vorherrschaft ist, die in den Nationalstaaten des Mittleren Ostens verheerende Auswirkungen hat. Die Umweltbewegung kämpft für die Ablehnung der Beherrschung der Natur und für eine Veränderung der Einstellung zur Natur.
Sie ist eine große Hoffnung angesichts der großen ökologischen Bedrohungen in Ostkurdistan, im gesamten Mittleren Osten und weltweit.
1 Herbert Spencer, 1820 bis 1903, war ein englischer Philosoph und Soziologe. Als Erster wandte er die Evolutionstheorie auf die gesellschaftliche Entwicklung an und begründete damit das Paradigma des Evolutionismus, das oft als Vorläufer des Sozialdarwinismus angesehen wird. (Wikipedia)
Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023