KRG – Die Region im Klammergriff der Parteien im Inneren und der Nachbarstaaten von außen

Süd-Kurdistan in einem noch nicht erklärten Krieg

Kamal Rauf

 

Obwohl die Gründung der KRG (Autonome Region Kurdistan)in einer geeigneten globalen und regionalen Situation erfolgte und das beste politische, soziale und wirtschaftliche Umfeld im globalen und regionalen Wettbewerb schuf, konnte nicht verhindert werden, dass der alte Hass zwischen den Parteien und der kurzsichtige Tribalismus zu einem neuen Albtraum wurde. Zugleich stand das Baath-Regime1 der kurdischen Gesellschaft unversöhnlich gegenüber.

Seit den frühen 1990er Jahren war die Unterstützung durch die anti-irakische Koalition so groß und durch die von ihr geschaffene Flugverbotszone2 so effektiv, dass die Position der Region Kurdistan große Anerkennung fand. So entstand in kurzer Zeit ein positives Beispiel, das die Welt beeindruckte – ähnlich wie der Widerstand der Freiheitskämpfer:innen von YPG und YPJ in Rojava gegen den IS, der die Welt begeistert hat.

Leider wurde aufgrund des alten Hasses der herrschenden Familien 1994 ein blutiger Bürgerkrieg in der Region Kurdistan ausgelöst. Dieser Hass, der nach mehr als vier Jahrhunderten immer noch »wie eine schwarze Wolke am Himmel«, stand, belastete die Ausgangsposition für die neu geschaffene Regionalregierung Kurdistans. Der andauernde Konflikt bot den drei Staaten, Türkei, Iran und Irak die Möglichkeit, direkt einzugreifen und die beteiligten Parteien in ihrem eigenen Sinne zu dominieren und zu steuern.

Die Region verfügt über gewaltige Ressourcen sowie eine wichtige geostrategische Lage. Sie wurde durch die Öl- und Gasförderung wirtschaftlich mächtig. Von dieser Macht und Wirtschaftskraft profitierten im Kalten Krieg zwischen den kurdischen politischen Parteien hauptsächlich die beiden Parteien selbst. Statt das vorhandene Potential für einen gesellschaftlichen Fortschritt zu nutzen, wurde die Mehrheit der gesellschaftlichen Kräfte der Region benachteiligt. Nicht nur politische Kräfte und offizielle Institutionen wie das Parlament und die Justiz waren davon betroffen, sondern auch private Medien, zivilgesellschaftliche Organisationen, soziale und zwischenmenschliche Beziehungen sowie die intellektuelle Szene, die Bildung und die Bürgerrechte. Auch viele andere Bereiche waren davon betroffen. Von dieser Benachteiligung weiter Kreise der Gesellschaft haben reaktionäre und salafistische religiöse Bewegungen profitiert.

Die Parteien bemühten sich nicht mehr um das Vertrauen der Massen und konzentrierten sich stattdessen auf den Handel und die Plünderung öffentlicher Einnahmen. Dies verursachte einen weiteren gefährlichen politischen und sozialen Zusammenbruch. In der Gesellschaft hat das zu weit verbreiteter Enttäuschung geführt und hatte zur Folge, dass eine beträchtliche Anzahl junger Menschen darüber nachdachte, um jeden Preis ins Ausland zu gehen.

Zahlreiche Probleme belasten seit Jahren weiterhin die Region: Die Regierungsparteien spielen mit den Stimmen der Wähler, Wahlen werden annulliert und die Macht nicht friedlich übergeben, staatliche Institutionen werden für Partei- und persönliche Interessen genutzt, die Parteien mischen sich in Bildung und Universitäten ein, es mangelt an Unabhängigkeit der Justiz, es herrscht Verschwendung von öffentlichen Einnahmen durch politische Parteien und Familienclans. Außerdem belasten die Gesellschaft Ungerechtigkeit, Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten und vor allem die nicht pünktliche Auszahlung der Gehälter an die Arbeiterschicht sowie Gehaltskürzungen. Besonders von Bedeutung ist die Unsicherheit über die politische Zukunft der Region. So besteht keine organisatorische Einbindung der Peschmerga-Truppen in eine nationale Einheit und ihre Loslösung von Parteien und Einzelpersonen – so lauten seit Jahren die Kritiken und Beschwerden der Bevölkerung, doch sie werden von den Regierungsparteien nicht beachtet.

Beziehungen zwischen der Region Kurdistan und den Regionalstaaten

In den 32 Jahren der Herrschaft in Süd-Kurdistan gab es keine zentrale Politik und keine einheitliche Ausrichtung. Die Kurd:innen in Süd-Kurdistan konnten trotz ihres eigenen Parlaments und einer eigenen Regierung keine eigene Position einnehmen. Sie haben nicht nur dabei versagt, sich gegenüber der Regionalpolitik der Nachbarländer zu positionieren, sondern die herrschenden Parteien haben es auch nicht geschafft, ihre eigenen Interessen gegenüber den Nachbarstaaten zu verteidigen. Daher war Süd-Kurdistan schon immer mit zwei nicht erklärten Kriegen konfrontiert: dem Krieg der regionalen Länder und dem kalten Bürgerkrieg zwischen der PUK und der PDK.

All dies hat die benachbarten Staaten, die sich sonst nie einigen konnten, dazu veranlasst, sich gegen die Interessen der Kurd:innen zu einigen. Die Innenpolitik in der KRG hat immer wieder die Tür zur Einmischung der Regionalstaaten geöffnet, um einen gemeinsamen Diskurs zu führen. Der türkische Staat unterstützte die PDK sowie den Irak und schließlich den Iran, der ebenfalls die PDK und islamistische Parteien bis Mitte der 90er Jahre unterstützte. Danach erhielt die PUK die Unterstützung des Irans gegen die PDK. So hat jeder dieser Staaten die politischen Parteien je nach seinen Interessen unterschiedlich behandelt und immer den Weg für Konflikte zwischen den politischen Kräften Kurdistans geebnet. Kurz gesagt, diese Situation dauert bis heute an. Die Führungspolitiker in der KRG sind gegenüber den Forderungen des Iran, der Türkei und des Irak so gehorsam und kompromissbereit, dass sie nicht in der Lage sind, Einheit und Verständnis in der Gesellschaft und nicht einmal innerhalb ihrer Parteien herzustellen. Das heißt: Die größte Gefahr besteht darin, dass die politische Führung in Süd-Kurdistan nicht erkennt, dass sie sich in einem noch nicht gewonnenen Krieg mit den Ländern der Region befindet. Aus diesem Grund hat sie auch keine Bereitschaft zur Selbstbehauptung – bei den Verteidigungskräften und sogar innerhalb der Gesellschaft – geschaffen. Im Gegenteil, die Einigungen zwischen den Ländern der Region, den 4 Ländern die Kurdistan besetzen, wurde nicht als eine Gefahr für die Existenz der kurdischen Identität wahrgenommen. Stattdessen haben sich die einzelnen Parteien diesen Kräften angenähert und kooperieren mit ihnen bei ihren Vorhaben. Dies hat auch negative Auswirkungen auf einen Teil der Bevölkerung.

Außerdem hat es eine Situation geschaffen, in der das Bewusstsein der kurdischen Gesellschaft durch die politischen Parteien so gespalten ist, dass es schwierig ist, zwischen Verrat und Resistenz zu unterscheiden. Beispielsweise wurde manchen Menschen vorgegaukelt, dass der Krieg gegen die Guerilla und ihre Kämpfer nichts mit Süd-Kurdistan zu tun habe und die Bombardierung der Region Kurdistan nicht auf sie abziele. Vielmehr wird behauptet, dass die territorialen Übergriffe der regionalen Armeen und die Präsenz ihrer Geheimdienste Süd-Kurdistan Frieden und Stabilität bringen und dass ihre Freundschaft uns vor Angriffen aus Bagdad, Teheran und Ankara schützen würden.

Der Grund für einige dieser Probleme liegt darin, dass es in Süd-Kurdistan keine wirksame und unabhängige Forschungseinrichtung gibt. Die meisten Interpretationen der politischen Lage basieren auf persönlichen Einschätzungen. Auf Parteiebene werden für jeden Schritt dutzende Interpretationen vorgenommen, sofern die politischen und wirtschaftlichen Interessen von Ländern wie der Türkei, des Iran und des Irak berücksichtigt werden, Daher haben Politik, nationale Fragen und Regierungsführung in Süd-Kurdistan viele verschiedene politische Maskierungen.

Politische Probleme und Wirtschaftskrise

In Süd-Kurdistan gibt es keine Grenzen, und die eigene Souveränität ist ein Thema, das im politischen Diskurs der politischen Führung keinen Platz hat. Die Grenzen und der Luftraum sind offen für die Übergriffe ausländischer Streitkräfte, um jeden mörderischen Flugkörper in die Tiefen der Region fliegen zu lassen und Geheimdienste anzulocken. Außerdem ist die Grenze offen für ausländische betrügerische Unternehmen, um Geld abzuziehen. Die Grenzen sind ebenso offen für die Einfuhr schlechter Medikamente und abgelaufener Waren minderer Qualität, für Drogen und illegalen Handel. Selbst Kräfte wie der Islamische Staat und ehemalige Baathisten können von dieser »offenen Grenze«, profitieren. Kurz gesagt, die Süd-Kurdistan-Grenze ist offen für antihumanitäre Waren und den Import antikurdischer Kulturpolitik. Sogar im Gegenteil: diese »Großzügigkeit«, wurde zum Verhängnis für Aktivist:innen, z.B. werden Journalist:innen verfolgt und leiden unter Repression. Sie werden massiv beschuldigt und es wird ihnen vorgeworfen, dass sie mit gegnerischen Parteien zusammenarbeiten. Auf diesem Problemfeld werden nicht nur die regionalen Grenzen, sondern auch die internen Grenzen verschärft. Mit anderen Worten: Die Grenzen stehen den Besatzer-Ländern offen, während sie für Aktivist:innen und Journalist:innen immer schwerer passierbar werden.

Jetzt, da die Proteste und Sorgen in Süd-Kurdistan ein gefährliches Ausmaß erreicht haben, sind viele Menschen bereit, sogar wichtige Grundsätze aufzugeben – selbst das Statut der KRG –, um aus diesem Stillstand herauszukommen. Die Verzweiflung hat viele andere in der Gesellschaft dazu veranlasst, alles zu ignorieren und auf einen Retter zu warten. Denn sie vertrauen nicht darauf, dass die derzeitige politische Elite die Aufgabe der Reform und des radikalen Wandels bewältigen kann. Aber die Frage ist: Gibt es einen Ausweg? Wenn nicht, müssen wir – anstatt auf unseren Retter zu warten – einen neuen Weg finden, damit unser Leben von morgen nicht mehr so ist wie das von heute.

 

 Fußnoten

1 Baath-Regime im Irak: Herrschaft der Baath-Partei über 40 Jahre (1963–2003), die mit dem Sturz des Regimes unter Staatspräsident Saddam Hussein durch den Angriff der US-Alliierten 2003 endete

 2 Flugverbotszonen im Norden und Süden des Iraks wurden nach Angriffen der irakischen Luftwaffe vom Februar 1991 auf die kurdische und schiitische Zivilbevölkerung eingerichtet. Die Region nördlich des 36. Breitengrades wurde im April 1991 von den Golfkriegsalliierten zur Flugverbotszone erklärt.


Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023