Offener Brief
an die Vereinten Nationen
an den Generalsekretär, Hr. António Guterres
an den Hohen Kommissar für Menschenrechte, Hr. Volker Türk
an den Menschenrechtsausschuss, den Menschenrechtsrat
und seinen Präsidenten, Hr. Václav Bálek
an die Generalversammlung und ihren Präsidenten, Hr. Dennis Francis
an den Sicherheitsrat
Sehr geehrter Herr António Guterres, sehr geehrter Herr Volker Türk, sehr geehrter Herr Václav Bálek, sehr geehrter Herr Dennis Francis und sehr geehrte Mitglieder der Vereinten Nationen und insbesondere des Sicherheitsrates,
Die seit dem 4. Oktober 2023 zum wiederholten Male stattfindende Aggression der Türkei gegen die Autonome Administration von Nord- und Ost-Syrien (AANES) und die in der Region lebende und sich selbst verwaltende kurdische, arabische, armenische, tscherkessische, turkmenische und assyrische Bevölkerung, nehmen wir als Frauenbewegungen und Frauenorganisationen in Nord- und Ost-Syrien zum Anlass und wenden uns mit diesem offenen Brief dringlich an Sie, sowie an alle Völker der Vereinten Nationen. Wir fordern Sie dazu auf, im Sinne der völkerrechtlichen Prinzipien und der Zielsetzung der Vereinten Nationen Verantwortung zu übernehmen und sich umgehend dafür einzusetzen, dass der türkische Staat seine aktuellen Angriffshandlungen beendet.
Im ersten Satz der Präambel der UN-Charter ist schriftlich bezeugt, dass »die Völker der Vereinten Nationen fest entschlossen sind, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren.« Diese »Geißel des Krieges« erleben wir als in Nord- und Ost-Syrien lebenden Frauen aktuell wieder in dramatischem Ausmaß.
Am 4. Oktober 2023 erklärte die Türkei in einer öffentlichen Erklärung des Außenministers der Autonomen Administration von Nord- und Ost-Syrien den Krieg, sie droht mit umfangreichen Angriffen auf die Infrastruktur der Region. Die Türkei bezieht sich in der Begründung ihrer Aggression auf einen am 1. Oktober durchgeführten Angriff der PKK in Ankara und unterstellt der Autonomen Administration von Nord- und Ost-Syrien Verbindungen zu den Tätern.
Auch in der Vergangenheit nutzte die Türkei immer wieder Anschläge zu Legitimation ihres Angriffskrieges auf die autonome Region in Nord- und Ost-Syrien, so z.B. einen von bis heute unbekannten Kräften verübten Bombenanschlag im bevölkerten Stadtzentrum von Istanbul im November 2022.
Sie verschleiert damit ihre eigene politische Absicht, die Region in Nord- und Ost-Syrien zu destabilisieren, zu entvölkern und zu besetzen und will in diesem Zusammenhang begangene Menschenrechts- und Kriegsverbrechen rechtfertigen. Seit der Revolution 2012 nutzt sie jede Möglichkeiten, um den Aufbau eines alternativen demokratischen Gesellschaftsmodells in Nord- und Ost-Syrien, in dem sich auch die kurdische Gesellschaft selbst verwalten kann, zu verhindern.
Aktuell verübt die Türkei seit ihrer Erklärung am 4. Oktober mit ihren Angriffshandlungen gegen die Menschen in Nord- und Ost-Syrien wiederholt Menschenrechts- und Kriegsverbrechen. In Form von Luft- und Drohnenangriffen und mit schweren Waffen führte sie bisher über 70 vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung, zivile Objekte, Dörfer, Wohn- und Arbeitsstätten und lebensnotwendige Infrastruktur durch, mit dem Ziel, die Bevölkerung sowohl psychologisch als auch physisch durch die Verwehrung einer Grundversorgung von Strom, Wasser und Lebensmitteln zu zermürben. Sie verstößt damit eindeutig gegen das humanitäre Völkerrecht, so z.B. gegen den in den Genfer Abkommen als auch den im Römischen Statut formulierten Schutz der Zivilbevölkerung und von Verletzten und Kranken.
Die Türkei führt regelmäßig Angriffe auf Krankenhäuser und Einrichtung der Gesundheitsversorgung aus. Zuletzt wurden jeweils durch Luftangriffe am 06.10.23 zwei für die Coronapandemie ausgestattete Krankenhäuser, die auch eine allgemeine Gesundheitsversorgung der Bevölkerung leisten, im Dorf Giri Fara bei Derik und in der Stadt Kobane zerstört.
Die Türkei greift gezielt Einrichtungen des Schutzes geflüchteter Menschen an. So wurde am 05.10.2023 die Umgebung des Flüchtlingscamp Washokani im Westen der Stadt Al-Hasakah innerhalb weniger Stunden mehrfach bombardiert. Daraufhin stellten alle 12 humanitäre Organisationen im Camp ihre arbeiten ein. Sie evakuierten ihre Mitarbeiter und ließen die Bevölkerung schutzlos zurück.
Die Türkei greift gezielt Objekte an, die lebensnotwendig für die Zivilbevölkerung sind, dazu gehört insbesondere die Trinkwasserversorgung. Am 05.10.23 erfolgte z.B. ein Angriff auf die Al-Hamma Wasserstation, die ein großes Gebiet der Stadt Al-Hasakah mit Wasser versorgt und am 06.10.23 ein Angriff auf die Khana Sere Wasserstation in der Region Derik.
Die Türkei greift gezielt Einrichtungen zur Herstellung von Nahrungsmittel, Erntebestände und landwirtschaftliche Gebiete an. Z.B. wurde am 04.10.23 eine Farm in Msheirefa Hama, nördlich der Stadt Al-Hasakah und am 06.10. ein Getreidesilo in Amude mittels Drohnen angriffen.
Die Türkei greift insbesondere die Energieversorgung (Strom, Gas und Ölanlagen) für die Zivilbevölkerung an, die auch notwendig sind z.B. für den Betrieb von Pumpanlagen der Wasserversorgung und die Herstellung von Lebensmitteln. Seit dem 4.10. wurden mehr als 30 Anlagen mittels Angriffen von Drohnen und Kampfflugzeugen zerstört oder beschädigt. Darunter z.B. am 05.10.2023 ein Kraftwerk in Tirbespiye und am 06.10.23 eine Transformatorenstation in Qamishlo, die bis dahin die Stromversorgung der örtlichen Mehlfabrik sicherte.
Die Türkei greift gezielt bevölkerte Orte, Dörfer, Wohn- und Arbeitsstätten an, z.B. wurde am 05.10.2023 eine Schule Dad Ebdal in Zirgan von Drohnen beschädigt. Am 04.10.2023 erfolgte ein Angriff mit Drohnen auf eine Ziegelei in der Stadt Al-Hasakah und am 06.10.2023 auf eine Textilfabrik in Amude. In der Region Derik, Kobane, Amude und Til Tamr erfolgten mehrfache Luftangriffe sowie der Beschuss mit schweren Waffen auf bewohnte Dörfer.
Neben diesen aktuellen Angriffen sehen wir uns in der Verantwortung darauf hinzuweisen, dass bis heute der Schutz der Zivilbevölkerung in den durch die Türkei völkerrechtswidrig besetzten Gebieten in Efrîn und Serê Kaniyê nicht gewährleistet ist. Die Plünderung und Zerstörung durch dort eingesetzte bewaffneten Banden, Folter und gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Gewalt, insbesondere gegen Frauen, das Verschwinden von Menschen und die Ansiedlung von ursprünglich nicht dort lebenden Bevölkerungsgruppen sind Beispiele für Menschenrechts- und Kriegsverbrechen, die zum Alltag der Bevölkerung in diesen Gebieten gehören. Wir wissen um mehr als 250 Frauen, die seit 2018 in der besetzten Region Efrîn verschleppt wurden. Dort erfolgen auch immer wieder Angriffe auf bevölkerte Gebiete. So bombardierte die türkische Armee und Söldner z.B. am 05.10.2023 mehrere Dörfer in Shara und Sherawa.
Als Frauenbewegung und Frauenorganisationen sprechen wir uns nicht nur gegen die Menschenrechts- und Kriegsverbrechen der Türkei an der Bevölkerung aus, sondern wir verweisen auch auf die Gefahr der Einschränkung der Rechte von Frauen und die Zerstörung eines Gesellschaftsmodells, das wie kein anderes eine politische und gesellschaftliche Teilhabe und die Freiheit von Frauen garantiert.
Vor 20 Jahren haben wir begonnen, uns hier in Nord- und Ost-Syrien als Frauen zu organisieren und seit der Revolution 2012 übernehmen wir als Frauen Mitverantwortung im Aufbau eines demokratischen Systems, dessen Basis die Freiheit der Frauen umfasst. Wir sind zu einer starken, multiethnischen Frauenbewegung gewachsen. Wir haben selbstverwaltete Frauenstrukturen und Räte aufgebaut und in der Gesellschaft ein Bewusstsein erreicht, dass ein Leben, in der die Frauen nicht frei sind, nicht mehr denkbar ist. Und wir beteiligen und engagieren uns täglich in politischen Gremien und gesellschaftlichen Institutionen dafür, diese Strukturen und die Situation von Frauen weiter zu verbessern.
Das so in Nord- und Ost-Syrien entstandene System ist mit der Anerkennung der Rechte von Frauen, ihrer gesellschaftlichen und politischen Beteiligung einmalig im Mittleren Osten und ein großartiger Gewinn für alle Frauen und die gesamte Bevölkerung in der Region.
Wir haben uns als Frauen mit großen Opfern am Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) beteiligt, weil es unsere natürliche Verantwortung war und ist, unsere Gesellschaft und alle hier lebenden Völker zu schützen. Aber auch, weil es für uns als Frauen existentiell um die Verteidigung unseres Lebens und unserer Freiheit geht. Weil wir es als notwendig betrachten, die Errungenschaften der Frauenbewegung und unseren Kampf vor den physischen Angriffen und der rückschrittlichen, fundamentalistischen Ideologie des IS zu schützen.
Die aktuelle Kriegserklärung und die Angriffe des türkischen Staates gegen die AANES und ihre Infrastruktur sind ebenso Angriffe gegen die starke Frauenbewegung in der Region. Sie entspringen einem auch durch die politische Führung der Türkei vertretenden fundamentalistischen und misogynen Weltbild. Sie sind eine Fortsetzung und Intensivierung der seit über drei Jahren andauernden Drohnenangriffe der Türkei, mit denen bis heute gezielt mehr als 30 führende Frauenpersönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und den Verteidigungskräften sowie aus der Zivilbevölkerung ermordet wurden.
Darunter waren zum Beispiel am 08.08.22 fünf junge Frauen in einem UN-geförderten Bildungszentrum, am 27.09.2022 Zeyneb Mihemed, Ko-Vorsitzende des Gerechtigkeitsbüros der Autonomieverwaltung der Region Cizîrê, am 20.06.2023 die Ko-Vorsitzende der Selbstverwaltung im Kanton Qamişlo, Yusra Darwish und ihre Stellvertreterin Liman Shiwesh und zuletzt am 15.09.2023 die YPJ-Kommandantin Shervin Serdar, die einen wichtigen Beitrag in den Kämpfen gegen den IS z.B. in den Offensiven von Minbic, Raqqa und Deir ez-Zor leistete.
Eine durch die aktuellen Angriffe bezweckte Destabilisierung der Region ebnet auch den Weg dafür, dass der IS sich in der Region wieder neu aufbauen, reorganisieren und verankern kann. Damit wäre wiederholt nicht nur die Sicherheit von uns Frauen, sondern der gesamten Weltgemeinschaft gefährdet.
Weil die Durchsetzung des Völkerrechts und die Ahndung von Menschenrechts- und Kriegsverbrechen allein den als Staaten vertretenden Völkern und Mitgliedern der UN vorbehalten bzw. an die Ratifizierung des entsprechenden Übereinkommens gebunden ist, bleibt es uns als Frauenbewegung und Frauenorganisationen, und auch den Vertretern und Vertreterinnen der Autonomen Administration von Nord- und Ost-Syrien verwehrt gegen die begangenen Menschenrechts- und Kriegsverbrechen der Türkei rechtlich vorzugehen. Für unser Recht auf Frieden auf der Basis der Grundsätze von Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit und für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts können wir selbst also nur mit unserer Stimme eintreten.
Bis heute ist keiner der Staaten der Vereinten Nationen bereit, die eigenen politischen Beziehungen und Vorteile durch eine deutliche Haltung bzw. eine Anklage gegen den türkischen Staat auf die Probe zu stellen und den moralischen, schützenswerten Prinzipien des Völkerrechts den ihnen eigentlich innewohnenden Vorrang zu geben.
Gerade dieses andauernde Schweigen der internationalen Gemeinschaft und der Vereinten Nationen, vor allem die Straflosigkeit der völkerrechtswidrigen Besatzungspolitik ermutigen und ermöglichen es dem türkischen Staat seit Jahren auch aktuell seine Menschenrechts- und Kriegsverbrechen fortzuführen.
Mit diesem offenen Brief fordern wir Sie deshalb auf, auf Basis der in der UN-Charta formulierten Zielsetzungen umgehend Verantwortung zu übernehmen und sich dafür einzusetzen, dass die Türkei ihre aktuellen Angriffshandlungen beendet.
Wir fordern sie auf, die Türkei für ihre Menschenrechts- und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.
Und wir fordern eindringlich die Einrichtung einer Flugverbotszone über Nord- und Ost-Syrien, um zukünftige Aggressionen der Türkei und in diesem Zusammenhang stattfindende Kriegsverbrechen zu verhindern sowie den systematischen Einsatz von Kampfdrohnen für extralegale Hinrichtung von Aktivistinnen, Politikerinnen und führenden Frauenpersönlichkeiten, die sich für Frieden, für die Freiheit von Frauen, für Selbstbestimmung und den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft in Nord- und Ost-Syrien einsetzten, zu stoppen.
Wir appellieren dafür wiederholt an die internationale Gemeinschaft, die Mitglieder und Institutionen der Vereinten Nation und explizit an den UN-Sicherheitsrat, seiner Verantwortung im Schutz der Menschen vor Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen nachzukommen und entsprechend dieser zu handeln!
09.10.2023, Nord- und Ost-Syrien
Frauenbewegung Kongra Star
Rat der Frauen von Nord- und Ost-Syrien
Verband der Armenischen Frauen
Zentrum zur Forschung und zum Schutz der Frauenrechte
Verband der Assyrischen Frauen in Syrien
Rat der Frauen Syriens
Verband der Ezidischen Frauen in Rojava
Frauenvereinigung Zenobiya
Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023