Bericht der Frauendelegation in die kurdischen Gebiete in der Türkei
»Ihre Geschichten mit uns tragen und den Kampf verdoppeln«
Julie Ward (kollektive Arbeit der autonomen Delegation)
Während der Menschenrechtswoche im Dezember 2023 schloss ich mich einer autonomen Delegation von Personen aus verschiedenen europäischen Ländern an, die an einer von der kurdischen Frauenbewegung organisierten Informationsreise teilnahmen. Unser Ziel war es, die Situation der kurdischen Bevölkerung und weiterer ethnischer und religiöser Minderheiten in der Türkei zu beobachten, die unter einem zunehmend autoritären Regime leben.
Während unseres Besuches haben wir zahlreiche Zeugenaussagen von Verbänden, Organisationen und Einzelpersonen über weit verbreitete Rechtsverletzungen gesammelt. Unsere Delegation, die sich aus Rechtsexpert:innen und Menschenrechtsaktivist:innen zusammensetzte, widmete ihre Aufmerksamkeit der Situation der politischen Gefangenen und insbesondere der anhaltenden Inhaftierung und Isolation des Repräsentanten des kurdischen Volkes, Abdullah Öcalan, der sich seit nunmehr 25 Jahren in Isolationshaft auf der Insel İmralı befindet. Als autonome Delegation waren wir auch über die Situation der kurdischen Frauen und der Frauen weiterer ethnischer und religiöser Minderheiten besorgt.
Die Zeugenaussagen, die wir gehört haben, haben unsere Befürchtungen bestätigt, dass die türkische Regierung systematisch die Grundrechte von kurdischen und anderen politischen Gefangenen verletzt – insbesondere die von Abdullah Öcalan und den anderen Gefangenen auf İmralı. Das Isolationsregime, das sowohl auf İmralı als auch in anderen türkischen Gefängnissen angewandt wird, bedeutet oft, dass Menschen über Jahre und sogar Jahrzehnte hinweg 23 Stunden am Tag in Einzelhaft gehalten werden. Wir sind uns bewusst, dass nach internationalen Standards eine längerfristige oder gar unbegrenzte Isolation eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung und somit eine Form der Folter darstellt.
Die Praxis der türkischen Behörden, Gefangene zu isolieren, geht mit anderen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen einher, wie der Verbüßung von Haftstrafen in Gefängnissen, die weit von der Familie entfernt sind, dem Verbot von Familienkontakten, der Verweigerung des Zugangs zu Rechtsanwält:innen, unabhängigen Dolmetscher:innen und zu Programmen und Dienstleistungen, die die geschlechtliche und kulturelle Identität der Gefangenen berücksichtigen. Besonders besorgniserregend ist die Situation von Gefangenen, die an physischen oder psychischen Krankheiten leiden. Wir haben vor Ort erfahren, dass kranke Gefangene unter unhygienischen Bedingungen festgehalten werden und nicht einmal die grundlegendste medizinische Versorgung erhalten. Nach international geltendem Recht dürfen Personen, bei denen eine Behinderung oder eine schwere psychische Erkrankung diagnostiziert wurde und deren körperlicher oder geistiger Zustand sich durch die Inhaftierung verschlechtern könnte, nicht inhaftiert werden. Besonders besorgniserregend ist auch die Situation inhaftierter Frauen, insbesondere von Müttern mit stillenden oder kleinen Kindern. Wir wissen, dass es üblich ist, dass sich 50 Gefangene eine Toilette teilen müssen; diese Situation ist für die physische und psychische Gesundheit der Frauen besonders schädlich. Die Delegation kam zu dem Schluss, dass Tausende von Gefangenen in der Türkei einen triftigen Grund für eine sofortige Freilassung aus medizinischen Gründen haben.
Wir haben von Familien gehört, denen der Zugang zu den sterblichen Überresten ihrer im Gefängnis verstorbenen Angehörigen verwehrt wurde, und von Diktaten, die es verbieten, Gedenkfeiern oder Beerdigungen in Übereinstimmung mit der Kultur und den Traditionen des kurdischen Volkes abzuhalten. In vielen Fällen wird dies durch Polizeipräsenz erzwungen.
Alle genannten Praktiken sind durch internationale Bestimmungen und Konventionen verboten und haben dazu geführt, dass zahllose kurdische Gefangene in der ganzen Türkei und auch international mit Hungerstreiks gegen ihre Situation protestieren.
Wir als Delegation haben überzeugende Beweise dafür gesehen, dass das türkische Justizsystem außergerichtlich zur politischen Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung eingesetzt wird. In Bakur1, einem Gebiet mit überwiegend kurdischer Bevölkerung, werden demokratisch gewählte Kommunalpolitiker:innen weiterhin gewaltsam durch von der AKP eingesetzte Verwalter ersetzt. Diese Verweigerung der elementarsten demokratischen Prozesse hält seit mehreren Jahren an. Kurdische Rechtsanwält:innen berichteten uns auch von verschiedenen Formen gerichtlicher Schikanen, mit denen ihre Arbeit erheblich erschwert wird.
Wir trafen Menschen aus allen Lebensbereichen, auch solche, die im Bereich der kurdischen Sprache und Kultur tätig sind, die in ständiger Angst leben, unter dem Vorwand des »Verdachts der Zusammenarbeit mit einer terroristischen Organisation« verhaftet und inhaftiert zu werden. Die Delegation verurteilte unmissverständlich, dass die Türkei den Vorwurf des »Terrorismus« als Mittel zur Unterdrückung des politischen Willens des kurdischen Volkes und zur ethnischen Säuberung benutzt.
Die anhaltende Inhaftierung und Isolation Öcalans und aller politischen Gefangenen in der Türkei muss im Zusammenhang mit den anhaltenden Angriffen der Türkei auf die Selbstverwaltung in Rojava gesehen werden. Die Frontlinien dieses Krieges haben sich innerhalb der Grenzen des türkischen Staates in Form einer zunehmenden Unterdrückung der kurdischen Bürger:innen der Türkei verschoben. Die Situation wird nicht einfacher durch die Haltung vieler europäischer Länder, die wiederholt nichts gegen die katastrophale Menschenrechtslage in der Türkei unternommen haben und weiterhin zusehen, wie die Türkei ihre Gefängnisse mit Journalist:innen, Akademiker:innen, Mitarbeiter:innen der Zivilgesellschaft und politischen Dissident:innen füllt, während sie sich an Flüchtlingsdeals und Waffenhandel beteiligt.
Durch die Zusammenarbeit mit kurdischen Frauenorganisationen verstehen wir, wie Frauen zwei miteinander verbundene Fronten erleben: die Gewalt und den kulturellen Genozid, dem sie als Kurdinnen in der Türkei ausgesetzt sind sowie die Frauenfeindlichkeit, die andauernde Bedrohung durch Gewalt und Feminizide, denen sie als Frauen ausgesetzt sind. Der Austritt der Türkei im März 2021 aus der Istanbul-Konvention ist eine klare Botschaft an die türkische Bevölkerung und die internationale Gemeinschaft, dass die türkische Regierung die Rechte der Frauen nicht respektiert. Dies steht in krassem Gegensatz zu den Werten der kurdischen Freiheitsbewegung und ihrer Ausrichtung auf die Befreiung der Frau.
Wir hörten während unserer Reise unzählige Zeugnisse von Frauen, die bedroht, belästigt, ohne Anklage über lange Zeiträume festgehalten, inhaftiert und gefoltert wurden, nur weil sie ihr Leben lebten, ihre Kultur teilten, versuchten, »verschwundene« Verwandte wiederzufinden und sich für ihre eigenen Grundrechte und die anderer einsetzten. Unsere Delegation traf Mütter, die ihre Kinder im Gefängnis oder durch staatliche Gewalt verloren haben und die ihren tiefen Verlust und Schmerz mit uns teilten. Als Frauendelegation versprachen wir, ihre Geschichten mit uns zu tragen und unsere Anstrengungen zu verdoppeln, um die internationale Solidarität mit dem kurdischen Kampf zu stärken.
1 »Bakur« ist kurmancî für »Norden«. Kurdische Bezeichnung für Nord-Kurdistan, die kurdischen Gebiete innerhalb der türkischen Grenze.
Kurdistan Report 232 | März / April 2024
Aktuelle politische Lage
Kurdistan und der Mittlere Osten: Jüngste Entwicklungen und demokratische Lösungsperspektiven
Ali Çiçek
Mit dem seit Anfang Oktober 2023 andauernden Krieg in Gaza und Israel ist der sogenannte »Nahostkonflikt« wieder ins Zentrum der internationalen Öffentlichkeit und Politik gerückt. Es wird vor einer Kettenreaktion und einem Flächenbrand in der Region gewarnt. Angesichts von über 25.000 toten Zivilist:innen in Gaza durch die genozidalen Angriffe der israelischen Armee mehren sich die Stimmen für ein Ende des Gaza-Krieges und verschiedene regionale und internationale Akteure legen Pläne für einen nachhaltigen Frieden im Mittleren Osten vor. Kaum berücksichtigt werden hierbei jedoch die historischen und gesellschaftlichen Realitäten der Region. Die Warnung des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan, dass es »die größte Katastrophe für eine Gesellschaft ist, die Kraft zu verlieren, über sich selbst nachzudenken und selbstständig zu handeln1«, ist angesichts der jüngsten Entwicklungen und Diskussionen rund um den Gaza-Krieg besonders treffend. Denn für die nahöstlichen Gesellschaften ist die jüngste Eskalation die Fortsetzung eines seit bereits langem andauernden Krieges und Konflikts. So herrscht vor allem in Kurdistan und Palästina seit hundert Jahren ein ununterbrochener Krieg.
Der Mittlere Osten als Zentrum des Dritten Weltkrieges
Die gegenwärtigen Krisen und Kriege vor allem im Mittleren Osten, aber auch auf internationaler Ebene werden von der kurdischen Freiheitsbewegung im begrifflichen und theoretischen Rahmen des »Dritten Weltkrieges« eingeordnet: »Wenn wir das orientalistische Paradigma zerschlagen, sehen wir, dass das Ende des Kalten Krieges für den Mittleren Osten gleichbedeutend mit dem Sprung des heißen Krieges auf eine höhere Stufe ist. Dass der Golfkrieg im Jahr 1991, ein Jahr nach dem Ende des Kalten Krieges, erfolgte, bestätigt diese Ansicht2.« In diesem Krieg ändert sich zwar die Priorisierung von geographischen Gebieten, jedoch wird der Krieg in verschiedenen Formen in vielen Regionen gleichzeitig geführt. Manchmal steht die Diplomatie (soft power), manchmal die Gewalt (hard power) im Vordergrund. Auch der seit 2022 andauernde Krieg in der Ukraine fügt sich in dieses Bild. Mit dem Angriff Russlands gegen die Ukraine hat der Dritte Weltkrieg zum ersten Mal die Grenzen des Mittleren Ostens verlassen. Die jüngsten Entwicklungen in Gaza-Israel deuten jedoch darauf hin, dass das Zentrum des Krieges wieder der Mittlere Osten sein wird. Dieser seit fast 35 Jahren andauernde Dritte Weltkrieg kann auch als ein globaler – Neuordnungsprozess definiert werden, der seit dem Zerfall der Sowjetunion andauert. In diesem Rahmen beruhen Strategien wie das »Greater Middle East Project« (GME) vor allem darauf, den Mittleren Osten von potenziellen Bedrohungen für die USA und den Westen zu säubern, die Energieressourcen und Energiekorridore zu kontrollieren und die Sicherheit Israels zu gewährleisten.
Der Dritte Weltkrieg lässt sich hierbei in vier Phasen unterteilen, in denen verschiedene Interessen und Akteure prägend waren und sind. Entsprechend der oben genannten Ziele begann die USA diesen Krieg mit dem Golfkrieg im Jahr 1991 und dem Ausbau ihrer militärischen und politischen Macht durch die Entsendung von zehntausenden Soldaten in die Region. In der zweiten Phase intervenierte die USA mit ihren Verbündeten in Afghanistan und im Irak. Das internationale Komplott3 gegen den Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan fällt ebenfalls in diesen Zeitraum. Dieser Komplott sollte den Einfluss der kurdischen Freiheitsbewegung im Mittleren Osten schwächen. Dies untermauert die wichtige geopolitische und geostrategische Rolle Kurdistans in diesem Krieg. Die dritte Phase wurde eingeleitet mit dem sogenannten »Arabischen Frühling«, im Zuge dessen die Völker des Mittleren Ostens zum ersten Mal in der Moderne als zentrales Subjekt die politische Bühne betraten. Dieser gesellschaftliche Aufstand, der am 17. Dezember 2010 in Tunesien begann, führte zu einer radikalen Veränderung der Machtverhältnisse in der Region. Seitdem befinden sich die bisherigen sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen in der Region in einem unumkehrbaren Veränderungsprozess. Die externen Interventionen globaler Mächte in die nach dem Arabischen Frühling entstandenen Konflikte und politischen Kämpfe haben die ohnehin schon komplexen regionalen Beziehungen weiter verkompliziert. Vor allem in Syrien, im Jemen, im Irak und in Libyen geht der erbitterte Kampf zwischen lokalen Mächten weiter, während auf der anderen Seite globale Mächte wie die USA, China und Russland gleichzeitig in einen erbitterten Machtkampf in der Region verwickelt sind. Diese Machtkämpfe vieler Akteure machen den Prozess – sehr kompliziert. Die vierte Phase des Dritten Weltkrieges wird hingegen vor allem von Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft über Energieressourcen und Energiekorridore geprägt. Und auch der gegenwärtige Krieg zwischen der Hamas und dem israelischen Staat ist als ein direkter Teil der Dritten Weltkriegs zu verstehen.
Energiekriege im Mittleren Osten
Im Kontext des globalen Neuordnungsprozesses bröckelt die US-Hegemonie und der Einfluss von – Staaten wie China, Russland, Indien etc. und Staatengemeinschaften wie z.B. den BRICS-Staaten wächst. In der Entwicklung einer multipolaren Weltordnung werden auch Handelswege und Energiekorridore neu gestaltet und die Länder des Mittleren Ostens wollen Teil dieses Prozesses, der Aushandlung neuer Haupthandelsrouten und Energiekorridore zwischen Asien und Europa, sein. Der Mittlere Osten ist also erneut zu einem Feld des Wettbewerbs zwischen den Hauptakteuren des globalen Systems, nämlich China, den USA und Russland, geworden. Im Gegensatz zu den ersten Phasen des Dritten Weltkrieges kann gegenwärtig (noch) nicht von einem militärischen Trend gesprochen werden. In den USA sehen wir die Tendenz, amerikanische Truppen abzuziehen und – Verteidigungsmechanismen durch lokale Akteure aufzubauen. Der Konflikt findet daher auf der Ebene des wirtschaftlichen Wettbewerbs statt. Die zentrale Frage der internationalen Akteure ist, ob China oder Indien der Hauptakteur in diesem Handel sein wird. Derzeit beabsichtigen die USA den Fluss von Waren und Dienstleistungen in den Westen über Indien gegen China zu sichern und Indien zu diesem Zweck zu stärken. China dagegen, das in der Vergangenheit wenig Interesse für den Mittleren Osten gezeigt hat, ist in letzter Zeit zu einem aufsteigendem Akteur in dieser Region geworden. Neben politischen Initiativen hat China inzwischen in weiten Teilen des Mittleren Ostens ernsthafte wirtschaftliche Investitionen getätigt, von Ägypten über Syrien bis hin zu den Golfstaaten. Die Energiesicherheit hat für China, das im letzten Jahrzehnt zum zweitgrößten Ölimporteur der Welt wurde, große Bedeutung gewonnen. Der Wettbewerb zwischen China und den USA um die Kontrolle über die weltweiten Energieressourcen und Transitrouten wird daher immer deutlicher. Der Kampf um Energieressourcen und Transitrouten zwischen China und den USA herrscht nicht nur im Mittleren Osten, sondern auch in Zentralasien, im Kaukasus, in Afrika und in Südamerika.
Konkreter Ausdruck dieses Wettbewerbs um den Mittleren Osten ist der Versuch die Auswirkungen des chinesischen Projekts einer modernen Seidenstraße im globalen Wettbewerb zu minimieren. Daher wurde auf dem letzten G20-Gipfel am 9. und 10. September 2023 in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi – von den beteiligten Ländern der India-Middle East-Europe Economic Corridor (IMEC4) angekündigt. Das Projekt soll von Mumbai in Indien über die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien und Jordanien zum israelischen Hafen Haifa, dann über Südzypern zum europäischen Kontinent in den griechischen Hafen Piräus und von dort durch Osteuropa zum deutschen Hafen Hamburg führen. Indien, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Italien, Frankreich, Deutschland, die USA und die EU – die Parteien dieses Abkommens – haben das Projekt mit der Unterzeichnung der Absichtserklärung auf den Weg gebracht. Dieses Projekt verringert die geopolitische Bedeutung der Türkei und verleitete türkische Staatsvertreter zu offenen Drohungen mit den Worten: »Die Türkei ist vielleicht kein Spielmacher in der Region, aber sie kann sie stören!« Hinter Konflikten wie z.B. dem Bergkarabach-Krieg stehen daher auch Bemühungen der türkischen Regierung, neue Handelswege über die Türkei und Zentralasien zu eröffnen.
Die Ausweglosigkeit des Nationalstaates
Während diese zwischenstaatlichen Konflikte und Kriege sich also um hegemoniales Machtstreben zur Sicherung von Energiekorridoren und -ressourcen drehen, sind die Leidtragenden die Gesellschaften in der Region. Um demokratische Lösungsperspektiven entwickeln zu können, müssen daher zuallererst die – Verantwortlichen für diesen Friedhof der Kulturen und Völker benannt und zur Rechenschaft gezogen werden. Für den kurdischen Vordenker Öcalan ist klar, dass die Quelle der – Ausweglosigkeit die Nationalstaaten an sich sind: »Wir können nicht genug über die Zumutung des Nationalstaates reden, der die nahöstliche Kultur wie mit dem Messer zerstückelt. Denn das unheilbarste der erlittenen Traumata wurde durch dieses Messer ausgelöst. (…) Die Wunde blutet noch immer weiter. Schauen wir auf den alltäglichen Konflikt zwischen Hindus und Muslim:innen in Indien, das Abschlachten in Kaschmir, im uigurischen Gebiet in China, in Afghanistan und Pakistan, das blutige Ringen der Tschetschen:innen und anderer in Russland, die Kämpfe in Israel/Palästina, Libanon und allen arabischen Ländern, die Konflikte von Kurd:innen mit Türk:innen, Araber:innen und Perser:innen, die konfessionellen Kämpfe im Iran, das ethnische Abschlachten auf dem Balkan, die Auslöschung von Armenier:innen, Griech:innen und Suryoye in Anatolien – lässt sich etwa leugnen, dass die unzähligen andauernden und komplett regellosen Konflikte und Kriege wie diese ein Produkt des kapitalistischen Hegemoniestrebens sind?«5
Die kulturelle Wirklichkeit der Region befindet sich im Widerspruch zu dem vom Westen importierten Nationalstaatsmodell. Ausgangspunkt dieser nationalstaatlichen Ordnung ist das vor über hundert Jahren am 16. Mai 1916 zwischen Großbritannien und Frankreich unterzeichnete Sykes-Picot-Abkommen zur Aufteilung des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg. Es waren die Kräfte der kapitalistischen Moderne, die den Mittleren Osten auf der Grundlage von – Nationalstaaten entworfen haben – ohne Berücksichtigung der Interessen und Belange der Völker der Region. Bei der Ausarbeitung der Grenzziehung berücksichtigten Großbritannien und Frankreich vor allem die reichen Wasser- und Erdölquellen der Region und negierten die Vielfalt der Völker. So ist die in Kurdistan und Palästina etablierte Ordnung ein Ausdruck dieses operativen Eingriffs der kapitalistischen Moderne. Die im Mittleren Osten etablierte Ordnung basiert auf der Verleugnung des Selbstbestimmungsrechts beider Völker. Daher haben sowohl positive, als auch negative Entwicklungen in Kurdistan und Palästina Auswirkungen auf die gesamte Region. Der Kampf beider Völker für demokratische und freiheitliche Errungenschaften erschüttert die genozidale und kolonialistische Ordnung im Mittleren Osten im Kern. Die Gründung des Staates Israel, die zu einer Eskalation des historischen arabisch-jüdischen Konflikts und zur Entstehung der Palästina-Frage führte, ist eng mit der Nahostpolitik der Kräfte der kapitalistischen Moderne verbunden. Denn einer der Grundpfeiler der etablierten Ordnung im Mittleren Osten ist die Existenz und Sicherheit des Staates Israel. Und auch die Entstehung der kurdischen Frage und die Tatsache, dass sie weiterhin ungelöst bleibt, ist ein Ergebnis des nationalstaatlichen Ansatzes. Weitere Probleme wie der Konflikt um Bergkarabach und der Genozid an den Armeniern beruhen ebenfalls auf dem nationalstaatlichen Ansatz.
Ohne die Überwindung von nationalstaatlichen Ansätzen im Mittleren Osten ist es nicht möglich diese Probleme nachhaltig zu lösen. Die jüngsten Entwicklungen in Gaza zeigen, dass die ungelösten Probleme jederzeit die gesamte Region in einen Krieg stürzen können. Dasselbe gilt auch für die sogenannte kurdische Frage. Die nationalstaatliche Mentalität und Politik des türkischen Staates gegen die kurdische Gesellschaft und Freiheitsbewegung verursachen dauerhaft Spannung, Konflikt und Krieg. Im Gegensatz zum israelisch-palästinensischen Konflikt ist die Dimension dieses Konfliktes noch vielschichtiger. So warnte Öcalan: »Wenn in Kurdistan die nationalistisch-etatistische Strömung die Oberhand gewinnt, entsteht nicht nur ein neuer Israel-Palästina-Konflikt, sondern gleich vier davon.« Diese Widersprüche in der Region verhalten sich wie ein aktiv werdender Vulkan, der im Begriff ist, auszubrechen. Die Nationalismen im Mittleren Osten haben in die Sackgasse geführt und viel Blut und Leiden beschert.
Die »Demokratische Konföderation des Nahen Ostens«
Eine Lösung des arabisch-israelischen Problems hängt, wie das der kurdischen Frage, in weiten Teilen von Frieden und Demokratisierung in der Region ab. Die Tatsache, dass die Probleme nicht mit dem Nationalstaat gelöst werden können, sondern dadurch vielmehr verschärft werden, zeigt sich am besten am arabisch-jüdischen Konflikt. Solange der Islam und das Judentum nicht aus dem Zusammenhang von Macht und Staat befreit werden, können sie nicht versöhnt werden. Solange sie darauf bestehen, Kräfte der Macht und des Staates zu sein, werden beide Kräfte ihre Existenz wie in der Geschichte auch heute darin finden, einander zu vernichten. Laut Öcalan muss daher jedes System, das im Mittleren Osten die Chance ergreifen will, eine Lösung zu bieten, zunächst eine erfolgreiche ideologische Auseinandersetzung mit Nationalismus, Sexismus, Religionismus und Positivismus führen. Notwendig ist die Entfaltung von vielfältigen nichtstaatlich orientierten, demokratischen Gesellschaftsaktivitäten und die Befreiung vom Individuum, das sich auf Macht- und Staatskultur konzentriert. Jenseits von staats- und machtorientierten Ansätzen sieht – Öcalan die Lösung in einer »Konföderation demokratischer Nationen«6, in der – alle kulturellen Identitäten als Mitglieder einer – egalitären, freien und demokratischen Gesellschaft ein friedliches Leben führen.
Diese »Demokratische Konföderation des Nahen Ostens« wird nicht als eine Utopie oder als ein politisches Programm für die Zukunft verstanden, sondern als ein Projekt, dass es Schritt für Schritt in allen Bereichen aufzubauen gilt. Sie verfügt über eine starke gesellschaftliche Basis, und auch die – Dynamiken der politischen Phase bieten das Potential für demokratische Aufbrüche. Dass demokratische Bewegungen und organisierte gesellschaftliche Kräfte mit kleinen und wirkungsvollen Zügen in kurzer Zeit etwas aufbauen können, was langfristig die Zukunft bestimmen wird, zeigt sich beim Aufbau des demokratischen Konföderalismus in Kurdistan und der seit über 10 Jahren etablierten neuen gesellschaftlichen Ordnung in der Demokratischen Selbstverwaltung der Region Nord- und Ostsyrien (Rojava).
Der Gesellschaftsvertrag – ein neuer Meilenstein in der Region
Dort wurde am 12. Dezember 2023 ein neuer Gesellschaftsvertrag7 ratifiziert. Dieser soll den – Entwicklungen der vergangenen elf Jahre gerecht werden und ist ein bedeutender Schritt in Richtung der Konsolidierung des demokratischen Gesellschaftsmodells in Rojava. Im Gesellschaftsvertrag werden alle ethnischen Identitäten, Religionen, Konfessionen, Sprachen, Kulturen und Weltanschauungen berücksichtigt. Während nationalistisch-etatistische Ansätze die Lösung in Trennung und Teilung propagieren, haben sich Völker mit dem demokratisch-konföderalen Ansatz einmal mehr auf ein gemeinsames Leben auf Basis von »Einheit in der Vielfalt« geeinigt. Dieser andauernde demokratische Aufbruch in – Nord- und Ostsyrien stellt nicht nur eine konkrete Perspektive für die Lösung der gesellschaftlichen Probleme in Syrien und eine Inspiration für widerständige Gesellschaften in der gesamten Region dar. Für die regionalen Nationalstaaten und internationalen Akteure, die auf der etablierten Ordnung beharren, stellt diese Perspektive auch eine Gefahr dar, denn sie zeigt wozu Gesellschaften, die die Kraft haben über sich selbst nachzudenken und selbstständig zu handeln8 fähig sind. So wundert es nicht, dass die von der türkischen Armee begangenen Kriegsverbrechen international auf taube Ohren stoßen. Und das obwohl der frühere türkische Geheimdienst-Chef und aktuelle – Außenminister Hakan Fidan Anfang Oktober vergangenen Jahres offen ankündigte, dass die gesamte Infrastruktur im Norden und Osten Syriens »legitimes« Angriffsziel der Sicherheitskräfte, des Militärs und des Geheimdienstes seien.
Kriegsverbrechen als außenpolitisches Paradigma
Die jüngsten Attacken des türkischen Staates in den verschiedenen Teilen Kurdistans sind Teil einer Gewaltchronik, die wir besonders seit 2015, also seit der Wahlniederlage der AKP-Regierung und der einseitigen Aufkündigung der Friedensgespräche mit der PKK, beobachten können. Die türkische Regierung beendete 2015 alle Verhandlungen mit Öcalan und der kurdischen Bewegung und setzt seither auf eine militärische Vernichtungspolitik. Mit der Kriegsentscheidung der Erdoğan-Regierung trat der »çökertme«-Plan (in etwa: »in die Knie zwingen«), sprich die politisch-militärische Offensive zur Zerschlagung der kurdischen Freiheitsbewegung, in Kraft. Die kurdische Frage wurde in diesem Rahmen nicht als ein gesellschaftliches Problem, sondern als Sicherheitsfrage behandelt. Nachdem der türkische Staat im Herbst 2016 mit Hilfe einiger NATO-Länder Drohnen-Technologie erwerben konnte, erklärte der damalige Innenminister Soylu im April 2017, dass in Kürze niemand mehr von der PKK sprechen würde.
Vor diesem Hintergrund begann der türkische Staat einen Krieg an mehreren Fronten gleichzeitig, der auch heute noch andauert: In Nordkurdistan wütet ein regelrechter türkischer Staatsterrorismus gegen die kurdische Gesellschaft und ihre politischen Institutionen, vor allem gegen die Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM). Über zehntausende Aktivist:innen, Politiker:innen, Frauenrechtler:innen und Journalist:innen befinden sich in politischer Haft. Die Kriegspolitik des türkischen Staates gegen die kurdische Freiheitsbewegung beschränkt sich jedoch nicht nur auf Nordkurdistan und die Türkei. Eine zentrale Dimension des »Zerschlagungsplans« ist die neue außenpolitische Doktrin der Türkei, den Krieg vor allem außerhalb des eigenen Staatsterritoriums zu führen. Zusätzlich zu Nordkurdistan eskaliert die Regierung unter Führung Erdoğans den Krieg in Südkurdistan (Nordirak) und in Rojava. In den letzten neun Jahren sind tausende kurdische Zivilist:innen und Mitglieder der Selbstverteidigungskräfte – diesen Angriffen zum Opfer gefallen, die vom türkischen Militär mit ihrem »Terrorismus«-Diskurs begründet werden. Völkerrechtswidrige Militäroperationen und Kriegsverbrechen sind in Kurdistan das – außenpolitische Paradigma der Türkei geworden.
Die Isolation kurdischer Politik
Eine weitere Dimension der seit 2015 andauernden Strategie des türkischen Staates ist die Isolation kurdischer Politik auf allen Ebenen. Sie wurde eingeleitet mit einer Totalisolation gegen den kurdischen Vordenker Öcalan auf der Gefängnisinsel İmrali. Seit dem 25. März 2021 wird ihm der Zugang zu allen Kommunikationsmitteln und der Kontakt zur Außenwelt, einschließlich zu seinen Anwältinnen und Anwälten und seiner Familie, verwehrt. Seit fast drei Jahren wird diese Form der Haft vom türkischen Staat als illegale Incommunicado-Haft9 praktiziert und steht politisch unter anderem für die Verweigerung eines Friedensprozesses und das Beharren auf der Vernichtung und Verleugnung kurdischer Existenz. Diese Isolation wird ausgehend von İmrali auf alle Gefängnisse und Bereiche des politischen Lebens in der Türkei angewandt. Und auch die Außenpolitik der Türkei hat zum Ziel Gebiete in Kurdistan, die sich entsprechend dem Paradigma des demokratischen Konföderalismus organisieren, zu isolieren. Sei es das anhaltende Embargo gegen die Revolution in Rojava, die Umzingelung des selbstverwalteten Flüchtlingslagers Mexmûr in Südkurdistan und die anhaltende Bedrohung des ezidischen Hauptsiedlungsgebietes Şengal; in all diesen Gebieten versuchen die Menschen die Prinzipien von radikaler Demokratie, Frauenbefreiung und Ökologie umzusetzen. Die Isolation zielt darauf ab diese Beispiele gesellschaftlicher Basisorganisierung zu ersticken und – von der Außenwelt abzuschirmen.
Erfolgreiche Selbstverteidigung gegen die zweitgrößte NATO-Armee
Während die Türkei mit allen Mitteln eines NATO-Staates, mit Kriegsverbrechen und mit Spezialkriegsmethoden ihre Angriffe gegen die kurdische Freiheitsbewegung intensivierte, ist es ihr nicht gelungen, die kurdische Guerilla zu brechen und handlungsunfähig zu machen. Auch das System von kasernierten Spezialeinheiten, Geheimdienstnetzen, paramilitärischen Kräften und einem dichten Netzwerk von Armeestützpunkten war nicht erfolgreich, die Kontrolle über die von der kurdischen Freiheitsbewegung kontrollierten Medya-Verteidigungsgebieten in Südkurdistan zurück zu erlangen. Sie liegt weiter in den Händen der kurdischen Freiheitsbewegung. Mehrere propagierte Militäroperationen blieben erfolglos und nun ist es die türkische Armee selbst, die eingekreist ist und schwere Verluste erleidet. Durch technische und taktische Neuerungen im Guerillakrieg konnte sich die kurdische Freiheitsbewegung der Hochrüstung der türkischen Armee durch die NATO mit Drohnen und neuen Hubschraubern anpassen. Die hohen Verluste der türkischen Armee durch Guerillaoperationen Ende Dezember 2023 und Anfang 2024 konnten selbst vom türkischen Staat nicht weiter verheimlicht werden und lösten eine Diskussion über Sinn und Zweck der grenzüberschreitenden türkischen Militäroperationen aus.
Auch die politischen Strukturen in den verschiedenen Teilen Kurdistans sind trotz starker Repression weiterhin in der Lage, ihre eigene Agenda zu bestimmen und mithilfe des – gesellschaftlichen Zusammenhalts dem regelmäßigem Beschuss durch die türkische Armee, dem Embargo und anderen Formen der Kriegsführung zu widerstehen.
Die Parallelität zwischen der Situation Öcalans und der kurdischen Gesellschaft
Die am 9. Oktober 2023 begonnene Kampagne »Freiheit für Öcalan und eine politische Lösung für die kurdische Frage« ist in diesem Kontext eine Fortführung des anhaltenden Widerstands der kurdischen Gesellschaft gegen die Isolations- und Zerstörungspolitik der Türkei. Sie ist ein strategisches Ziel der kurdischen Politik inİmitten des Dritten Weltkrieges im Mittleren Osten. Denn die Situation Öcalans ist engstens mit der Lösung der kurdischen Frage und Situation der kurdischen Gesellschaft verbunden. Er ist der Begründer und Vordenker der kurdischen politischen Bewegung und Vertreter von 50 Jahren politischer Geschichte Kurdistans. Daher beinhaltet die Frage seiner Freiheit nicht nur rechtliche und menschenrechtliche Aspekte, sondern vor allem politische. Die Isolation auf İmrali ist der Ausgangspunkt der türkischen Staatspolitik gegenüber der kurdischen Gesellschaft. Dieser Realität ist sich auch der türkische Staat bewusst, der die Situation auf İmrali der politischen Lage und den aktuellen Entwicklungen entsprechend willkürlich anpasst. Diese Parallelität zwischen Öcalans Situation auf İmrali und der Lage der kurdischen – Gesellschaft besteht seit Beginn seiner 25-jährigen Gefangenschaft. So war und ist eine Verschärfung der İmrali-Isolation gleichbedeutend mit einer Intensivierung des Krieges in Kurdistan. Phasen des Dialogs und der Verhandlungen mit Öcalan wirken sich wiederum auch positiv auf das Leben der kurdischen Gesellschaft aus. Daher wird der Grad, in dem die Isolation auf İmrali zurückdrängt werden kann, auch den Gesellschaften in Kurdistan mehr Luft zum Atmen verschaffen und eine politische Lösung der kurdischen Frage kann näher rücken.
Darüber hinaus wird die Freiheit des Architekten, der die stärkste radikaldemokratische, multiethnische und politisch offene Basisbewegung für den – Mittleren Osten anstieß und die politische Philosophie des Demokratischen Konföderalismus begründete, auch ein bedeutender Schritt in Richtung einer Demokratischen Konföderation des Nahen Ostens.
1 Abdullah Öcalan, Manifest der demokratischen Zivilisation (Vierter Band), Die demokratische Zivilisation: Wege aus der Zivilisationskrise im Nahen Osten, S. 314
2 ebd. S. 311
3 Illegale Entführung Abdullah Öcalans in Kenia am 15. Februar 1999 und seine bis heute andauernde Inhaftierung auf der türkischen Gefängnisinsel İmralı.
4 https://en.majalla.com/node/303536/politics/all-you-need-know-about-india-middle-east-europe-economic-corridor
5 Abdullah Öcalan, Manifest der demokratischen Zivilisation (Vierter Band), Die demokratische Zivilisation: Wege aus der Zivilisationskrise im Nahen Osten, S. 418
6 Abdullah Öcalan, Manifest der demokratischen Zivilisation (Vierter Band), Die demokratische Zivilisation: Wege aus der Zivilisationskrise im Nahen Osten, S. 424
7 https://nordundostsyrien.de/neuer-gesellschaftsvertrag/
8 Abdullah Öcalan, Manifest der demokratischen Zivilisation (Vierter Band), Die demokratische Zivilisation: Wege aus der Zivilisationskrise im Nahen Osten, S. 314
9 Der Zustand, der als Incommunicado-Haft und »absolute Nichtkommunikation« bekannt ist, ist eine Form der Folter, die gegen das türkische Verfassungsrecht, das Recht der Vereinten Nationen und die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt.
Kurdistan Report 232 | März / April 2024
Stephanie Barts neuer Roman beschreibt die 1970er Jahre aus der Sicht der RAF-Angehörigen Gudrun Ensslin
»Erzählung zur Sache«
Buchvorstellung von Elmar Millich
Mit dem Roman »Erzählungen zur Sache« ist Stephanie Bart ein Zeitsprung in die bleierne Zeit der 1970er Jahre gelungen. Auf 550 Seiten beschreibt sie aus der Sicht des prominenten RAF-Mitglieds Gudrun Ensslin deren Inhaftierung in Köln-Ossendorf und Stuttgart-Stammheim von ihrer Festnahme 1972 bis zur Todesnacht von Stammheim im Oktober 1977, in der sie zusammen mit Andreas Bader und Jan-Karl Raspe unter bisher ungeklärten Umständen zu Tode kam.
Nicht umsonst beginnt der Roman aber mit dem Angriff der RAF auf das US-Hauptquartier in Heidelberg im Mai 1972. Ihr Hauptziel war ein Computersystem, mit dem die US-Armee ihren Nachschub für die Flächenbombardierungen in Nord- und Südvietnam berechneten. In einer eigenwilligen Sprachform, die das ganze Buch durchzieht, wird hier die subjektive politische Motivation sichtbar, aus der die RAF ihren politischen Kampf entwickelt hatte in Solidarität mit den damaligen Befreiungskämpfen von Palästina bis Lateinamerika.
Bis auf einen weiteren Einschub, die Befreiung von Andreas Baader aus dem Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen 1970, beschreibt der Roman aber die Situation und den Kampf gegen die Haftbedingungen in den Gefängnissen und den Prozess gegen die RAF-Mitglieder in Stuttgart Stammheim. Erstmalig in der Geschichte der deutschen Justiz wurden international gewonnene Erkenntnisse über die persönlichkeitszerstörende Wirkung von Totalisolation gegen die Gefangenen der RAF eingesetzt. Der Roman legt minutiös dar, wie trotz nach außen demonstrierter Aufrechterhaltung des Rechtsstaatsprinzips Bundeskriminalamt, Bundesanwaltschaft und die Innenministerien in Bund und Ländern alle Fäden in der Hand hielten. Dagegen setzten die Gefangenen mehrere Hungerstreikkampagnen, die vom Staat mit Zwangsernährung gekontert wurden und im Tod von Holger Meins im November 1974 gipfelten.
Weiten Raum nimmt auch der Prozess in Stammheim ein, indem einzelne Prozesstage fast protokollarisch wiedergegeben werden. Systematisch versuchte der vorsitzende Richter Prinzing teils auf direkte Weisung der Bundesanwaltschaft die Rechte der Verteidigung – prominent vertreten u.a. durch Klaus Croissant, Otto Schily und Christian Ströbele – auszuhebeln. Auch Teile der Strafverteidiger wurden Opfer der staatlichen Verfolgungshysterie in Form von Kanzleidurchsuchungen und Anklagen.
Spannend macht das Buch, dass es komplett aus der (recherchierten) Sicht von Gudrun Ensslin erzählt wird und keinerlei ideologische oder sprachliche Kompromisse eingeht. Darauf weist die Autorin auch in einem Vorspann hin, um sich vor strafrechtlicher Verfolgung zu schützen. Der von Stephanie Bart vollführte Zeitsprung fünfzig Jahre in die Vergangenheit zeigt aber auch, wie sehr die Deutungshoheit über internationale Entwicklungen zunehmend beim Staat und den führenden Medien liegen und sich die Spielräume für die politische Linke in Deutschland verengt haben. Mittlerweile wird fast jeder dem Westen nicht genehme bewaffnete Widerstand im Trikont mit dem Label »terroristisch« gebrandmarkt, während staatliche Massaker und Kriegsverbrechen entweder unter den Tisch gekehrt oder schöngeredet werden.
Das Buch ist aber auch für Leser:innen des Kurdistan Report von Interesse, weil es eine Kontinuität des Widerstands gibt. Auch wenn sich die RAF formal erst 1998 auflöste, gab es seit dem Beginn der 1990er Jahren in Teilen des mit der RAF sympathisierenden sogenannten antiimperialistischen Lagers in Deutschland eine Umorientierung hin zur kurdischen Befreiungsbewegung. Als Beispiel sei hier Andrea Wolf (Ronahî) erwähnt, die 1998 bei der kurdischen Guerilla ums Leben kam, vom türkischen Staat ermordet.
Am Schluss dieser Rezension soll nicht verschwiegen werden, dass die Lektüre des Buches mehr Konzentration erfordert, als Vergnügen bereitet. Das liegt zum einen am Inhalt des Stoffes, aber auch an der Sprache, die bewusst keine unterhaltenden oder spannungsaufbauenden Stilmittel verwenden will. Stephanie Barts Werk ist eine Dokumentation deutscher Zeitgeschichte in Romanform.
Stephanie Bart, Erzählung zur Sache
Secession Verlag Berlin, 550 S.
28,00 €
Kurdistan Report 232 | März / April 2024
Der êzîdische Glaube und seine wichtigsten Feste zu Wintersonnenwende und Neujahr
Die Êzîd:innen und das Êzîdentum
Yilmaz Pêşkevin Kaba, êzîdischer Friedens- und Freiheitsaktivist, Fernsehmoderator (Çira TV)
Im April steht das êzîdische Neujahrsfest bevor. Dies soll Anlass für eine kleine Einführung in den êzîdischen Glauben und seine wichtigsten Feste sein.
»[…] dreimal am Tag wenden sie sich an die Sonne und beten. Ihre Gebete sind nicht wie unsere, einstudiert. Jeder der will, mag er Kind, jung oder alt, Emir oder Scheich sein, stellt sich vor die Sonne und erzählt ihr das, was in diesem Augenblick sein Herz spricht. Vielleicht sind dies die schönsten Gebete, die die Menschheit je hervorgebracht hat. Vielleicht entspringen die schönsten Lieder, die schönsten Dichtungen diesen Gebeten. Vielleicht wurzeln alle Legenden und Sagen Mesopotamiens in diesen Gebeten«. (Yaşar Kemal in seinem Roman »Die Ameiseninsel«)
Êzîd:innen sind eine kurdischsprachige (Kurmancî) Gemeinschaft. Ihr Glaube ist über 4.000 Jahre alt. Êzîd:innen sind Dualist:innen und glauben einerseits an einen Schöpfergott und andererseits an den Pfauenengel Tawisî Melek, das ausführende Organ des göttlichen Willens. Radikale und auch viele gemäßigte Muslime betrachten Êzîd:innen aufgrund einer Fehlinterpretation der Pfauenengel-Figur, als »Anbeter des Bösen«. Der Platz dieses Glaubens im irakischen Mosaik verschiedener Glaubens- und Religionssysteme ist daher oft umstritten. Obwohl viele Êzîd:innen kurdisch sprechen und sich die große Mehrheit von ihnen als der kurdischen Ethnie zugehörig versteht, unterscheiden sie sich auf Grund ihres Glaubens von der überwiegend sunnitischen kurdischen Bevölkerung. Vor dem Angriff des IS im Jahr 2014 lebten etwa 700.000 Êzîd:innen (Stand 2005) vor allem im Bezirk Şengal (arab. Sinjar), im Gouvernement Ninive im Nordirak. Seitdem ist ihre Zahl dort unter 500.000 gesunken.
Das Êzîdentum (kurd. Êzdiyatî) ist ein vor der aktuellen Zeitrechnung entstandener Glaube. Er ist vor allem sehr naturverbunden (Natur = kurd. Xweza), darum sind die Naturelemente von besonderer Bedeutung – vor allem die Sonne nimmt einen hohen Stellenwert ein. In dem Glauben gibt es nur einen Gott/eine Gottheit (kurd. Xwedê/Xweda). Vertreter Xwedês auf Erden – Mittler zwischen Xwedê und den Êzîd:innen – ist der Obererzengel Tawisî Melek (Engel Pfau / Gottes Engel). Die Entstehungsregion des Glaubens ist Mesopotamien, das Zweistrom-Gebiet um Firat (dt. Euphrat) und Dîcle (dt. Tigris).
Die Bezeichnung der Mitglieder der Glaubensgemeinschaft ist auf Kurdisch Êzdî/Êzîdî bzw. Ezda; es ist einer der vielen Namen Gottes/der Gottheit. Xweda/Xwedê ist »der, der sich selbst erschaffen hat«. Und Êzdî/Êzîdî bzw. Ezda heißt übersetzt »der, der mich erschaffen hat« (Ez–da)1. Das Wort Êzdî/Êzîdi heißt somit »die Anhänger Gottes / der Gottheit«. Das Wesentliche hier führt darauf zurück, dass Gott / die Gottheit alles und jedes und auch sich selbst erschaffen hat.
Ethik des Êzîdentums
Gott erschafft aus seinem Licht die Erde. Das hat zur Konsequenz, dass jedes Lebewesen einen Anteil des göttlichen Lichtes (nûr) in sich trägt. Dieses göttliche Licht kann aber nur durch Vernunft (aqil) entfaltet werden. Jedes Individuum trägt die Anlagen sowohl für das Gute als auch für das Böse in sich. Indem er ein selbstständig entscheidendes, denkfähiges Wesen ist, kann der Mensch durch seine Wahl- und Willensfreiheit die Welt gestalten und gute von bösen Taten unterscheiden.
Das Menschenbild der Êzîd:innen ist davon bestimmt, dass der Mensch für sein Wirken und Handeln selbst verantwortlich ist. Er hat von Gott / von der Gottheit die Gabe des Hörens, Sehens und Denkens erhalten. Mit diesen Anlagen hat er die Möglichkeit, den richtigen Pfad zu beschreiten. Unter den Êzîd:innen gilt die Auffassung, dass ein:e Êzîd:in ein guter Mensch sein kann, aber um ein guter Mensch zu sein, muss er nicht Êzîd:in sein. Das Êzîdentum hat auch keinen Absolutheitsanspruch – das bedeutet, es gibt nicht nur »eine Wahrheit«, sondern es gibt »viele Wahrheiten«. Ein Beispiel aus dem Alltag für dieses Denken ist der Ausspruch des Wunsches »Gott, schütze die 72 Völker und auch uns.« Die 72 Völker stehen für alle Glaubensgemeinschaften und Bevölkerungsgruppen. Ein anderes Beispiel ist die Handlungsempfehlung »Heger tu kesekî bibînî. Xêrekê vêre bigehînî. Nebêjê tu ji kîjan bawerî ye« – »Wenn Du jemandem begegnest, lass ihr eine gute Tat zukommen. Frag nicht danach, welchem Glauben sie angehört.«
Drei besonders wichtige Gebote und Tugenden sind rastî (Wahrheit/Gerechtigkeit), şermî (Schamgefühl) und nasîn (Kenntnis/Wissen). Rastî erfordert Aufrichtigkeit, immer ehrlich und gerecht zu sein. Şermî ist das Gebot des Respekts anderen gegenüber oder andersherum die Scham oder Sorge, jemanden nicht richtig zu behandeln, jemandem nicht angemessen und respektvoll gegenüberzutreten. Und nasîn ist die Mahnung, nach Wissen zu streben um klug handeln zu können; denn Unwissenheit und Dummheit führen zu Fehlern, so dass anderen geschadet werden könnte.
Weitere wichtige Prinzipien werden im Wesen des êzîdischen Obererzengels Tawisî Melek repräsentiert, das sind vor allem Mut und der Einsatz des eigenen Verstandes. Dazu gehört, das zu tun, was man selbst für richtig hält, die Konsequenzen aus dem eigenen Tun selbst zu tragen, für seine Taten selbst Rechenschaft abzulegen, sich eine eigene Meinung zu bilden, manchmal gegen den Strom zu schwimmen und Befehlen nicht blind zu folgen, selbstbewusstes Auftreten, stets kritisch zu bleiben und Dinge zu hinterfragen, Mitmenschen ein Vorbild zu sein und niemanden zu verurteilen.
Die Bedeutung des Fastens zur Wintersonnenwende
»Roj / rojî girtin« ist der Kurmancî-Begriff für »fasten«. Wenn wir ihn wörtlich übersetzen, so bedeutet er »die Sonne (fest)halten«. Die wörtliche Bedeutung zeigt, dass das Fasten für die Êzîd:innen begann, als sie merkten, dass die Tage kürzer und aus der logischen Schlussfolgerung die Nächte länger wurden. Es ist die Zeit vor der Wintersonnenwende.
Da die Êzîd:innen früher nicht wussten, dass dieser Vorgang normal ist, glaubten sie, dass das Böse anfing, das Gute anzugreifen. Das Licht symbolisiert das Gute, und die Dunkelheit das Böse. Als die Êzîd:innen den Rückzug der Sonne bemerkten, begannen sie zu Gott / zur Gottheit / zur Sonne2 zu beten, um den Niedergang des Guten zu stoppen.
Dann begannen sie zu Ehren der Sonne zu fasten – erst drei Tage und in der darauffolgenden Woche weitere drei Tage des Widerstands, da die Ausdehnung der Dunkelheit sich nicht verändert hatte. Die zweiten drei Fastentage begingen sie zu Ehren der Ahnen und Familienheiligen, aber vor allem der Wächter des Guten, die die Êzîd:innen Xwedan/Xwudan nennen. In der dritten Woche fasteten sie weitere drei Tage, bis sie merkten, dass die Dunkelheit nachließ. Am vierten Tag feierten sie, freuten sich und beteten zur allmächtigen Gottheit, die den Untergang des Guten/des Lichtes der Sonne gestoppt hatte. Dies ist der Feiertag »Cejna Êzî«.
Die Êzîd:innen sind der Überzeugung, dass sie vor allem durch das Fasten in der Zeit der Wintersonnenwende dazu beitragen, die Ausdehnung der Dunkelheit zu stoppen, indem sie die Sonne festhalten.
Die drei mal drei Fastentage beginnen jeweils in aufeinanderfolgenden Wochen am Dienstag und enden Donnerstag, jeweils von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang.
Die Sonnenverehrung ist eines der ältesten Elemente des êzîdischen Glaubens und reicht bis weit in die alte Geschichte Mesopotamiens zurück. Die täglichen Gebete der Êzîd:innen werden immer mit dem Gesicht Richtung Sonne verrichtet. In einem der sakralen Texte der Êzîd:innen heißt es: »Ich gelobe bei der Sonne, bei dem aufgehenden gelben Planeten, Şeşims, das Licht des Schöpfers«. Zugleich verdeutlicht die Sonne auch die Gleichheit aller Menschen und Lebewesen, da sie keinen Unterschied zwischen diesen macht und für alle ihre lebensnotwendige Wärme spendet, wie es in der êzîdischen Lehre heißt.
Çarşema Serê Nîsanê – das êzîdische Neujahr
Der Tag des »Çarşema Serê Nîsanê« fällt dieses Jahr auf Mittwoch, den 17.04.2024.
Çarşema Serê Salê / Çarşema Serê Nîsanê / Çarşema Sor – es gibt regional verschiedene Bezeichnungen für das êzîdische Neujahrsfest, dem Fest zur Entstehung der Erde und für Tawisî Melek. Die Bezeichnung bedeutet »erster Mittwoch des April«. »Çarşem« besteht aus kurdisch »çar« für Vier und »şem« für Woche, damit ist der vierte der Tag der Woche gemeint, das ist der Mittwoch. Kurdisch »sor« bedeutet rot. Öfters bezeichnet man diesen Tag auf Kurdisch auch als »Sersal« (kurd. »ser« Kopf/oben und »sal« Jahr), sinngemäß auf Deutsch also »Neujahr«.
Das êzîdische Neujahr wird am ersten Mittwoch im April (kurd. »Nîsan«) gefeiert, was nach êzîdischem Kalender stets auch der erste Tag im Monat April und des neuen Jahres ist. Da der êzîdische Kalender dem in Deutschland gültigen gregorianischen Kalender um 13 Tage nachgeht, wird das Neujahrsfest am ersten Mittwoch im Monat April gefeiert, der auf den 14. April oder einen der folgenden Tage im gregorianischen Kalender fällt. Der erste Tag im Monat »Nîsan« ist der »Çarşema Serê Salê / Çarşema Serê Nîsanê / Çarşema Sor«.
Der Feiertag ist nach êzîdischer Mythologie der Tag, an dem die Schöpfung der Erde vollendet wurde: Die Sonnenstrahlen erreichten zum ersten Mal die Erde, so dass sich das Firmament rot färbte. Daher kommt unter anderem die Bezeichnung »roter Mittwoch«. Des Weiteren war es der Tag, an dem der oberste êzîdische Erzengel Tawisî Melek (dt. »Gottes Engel«) erstmals auf die Erde kam. Tawisî Melek ist der Mittelpunkt der sieben Erzengel, er repräsentiert den Mittwoch, die Mitte der Woche bzw. die Mitte der sieben Erzengel. Der Mittwoch ist der Ruhetag der Êzîd:innen, ähnlich dem Sonntag für die Christen.
Die Urperle
An Çarşema Serê Salê / Çarşema Serê Nîsanê / Çarşema Sor wird auch jedes Jahr an die Urperle in Form von gefärbten Eiern erinnert. Der Tag des Neujahrsfestes ist zugleich Frühlingsbeginn. Die Farben der von neuer aufblühender Natur stellen dabei den Neuanfang des Lebens dar, die gefärbten Eier als Perle »Dur« den Neubeginn. Es ist möglich, das die christliche Tradition des Eierfärbens bei den Êzîd:innen entlehnt wurde3.
Die Urperle, aus der nach êzîdischer Vorstellung das gesamte materielle Sein hervorgegangen ist, wird in den sakral êzîdischen Texten als »Dur« bezeichnet. Das Wort ist auf Kurdisch wie auch auf Persisch und Paschtu (در) das gleiche und bedeutet Perle.
Die êzîdische Mythologie der Bedeutung der Urperle spiegelt sich auch in der kurdischen Sprache wider, da das Wort »Dur« auch für »Urknall« steht.
Bazinbar – Frühlingsband
Zum Çarşema Serê Nîsanê wird das »Bazinbar« (dt. »Armband« – wortwörtliche Übersetzung: Bazina bihar = Armband des Frühlings) von êzîdischen Würdenträgern oder von älteren Müttern an die Êzîd:innen verteilt. Zudem bringt der Würdenträger Wasser aus der Kaniya Spî (dt. »Weiße Quelle«) aus dem êzîdischen Heiligtum Lalişa Nûranî / Lalisch in Südkurdistan (Nord-Irak) mit.
Das Bazinbar ist ein aus Baumwollfäden geflochtenes Band. Dafür werden die êzîdischen Farben verwendet – entweder Weiß und Rot als Symbol der Reinheit und des Blutes/des Lebens aller Lebewesen, oder Grün, Rot, Gelb verwendet, die symbolisch für die Natur, das Blut bzw. das Leben und die Sonne stehen. Dieses Armband soll seine Träger:innen vor Unglück und Unheil schützen.
Fußnoten
1 Ezda ist das Herkunftswort, das in seiner wörtlichen Bedeutung heute eher veraltet ist und nur für die Bezeichnung der Êzîd:innen eine Rolle spielt. Für die Bedeutung »Der, der mich erschaffen hat« würde heute in der Alltagssprache »Min-da« verwendet.
2 Die êzîdische Gottheit darf sich nicht wie der jüdische, christliche oder islamische Gott vorgestellt werden. Es ist eine in allen Bestandteilen der Natur, in allem Lebenden sich zeigende Gottheit. Darum sei sie hier zur Verdeutlichung mit den verschiedenen Begrifflichkeiten gleichzeitig bezeichnet.
3 vgl. https://www.derstandard.at/story/1269448434970/wissen-das-osterei---eine-fuenftausendjaehrige-kulturgeschichte
Kurdistan Report 232 | März / April 2024
Eine ernste Gefahr für die demokratische Kraft im Nahen Osten
Die Einsamkeit der Kurd:innen
Kamuran Yüksek, ehemaliger Ko-Vorsitzender der Partei der Demokratischen Regionen (DBP)
Der Kampf der Kurd:innen, deren historische Heimat zwischen den Ländern Türkei, Iran, Irak und Syrien aufgeteilt ist, um die Anerkennung ihrer kollektiven Rechte dauert schon viele Jahre an. Dieser Kampf ist älter als die Gründung der vier Staaten. Er reicht bis in die letzten Jahrhunderte des Osmanischen Reiches (18.-19. Jahrhundert) zurück. Die Gewaltpolitik der jeweiligen Staaten und der Kampf der Kurd:innen für ihre Rechte haben Hunderttausende Menschen das Leben gekostet, viele weitere wurden vertrieben, inhaftiert, und es haben sich zahllose menschliche Tragödien ereignet.
Der Kampf der Kurd:innen basiert auf der Demokratisierung des Landes, in dem sie leben
Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahr 2003 erhielten die Kurd:innen im Irak einen Autonomiestatus de jure. Seit 2011 hat sich im Zuge der Entwicklungen des sogenannten »Arabischen Frühlings« im Nordosten Syriens eine de facto autonome Region unter kurdischer Führung etabliert. In der Türkei und im Iran kämpft die kurdische Bevölkerung weiterhin für ihre Rechte und ihre Freiheit.
Der Kampf der kurdischen Organisationen, die sich auf eine gemeinsame Ideologie berufen – insbesondere in der Türkei und in Syrien, in gewissem Maße auch im Iran und im Irak – basiert auf der Demokratisierung des Landes, in dem sie leben, auf der Idee des Zusammenlebens mit anderen Gemeinschaften in Toleranz und Frieden sowie auf dem Ziel der Befreiung der Kurd:innen und der Anerkennung ihrer kollektiven Rechte. Mit der Theorie der »demokratischen Nation« haben die Kurd:innen einen Weg geschaffen, ethnische und religiöse Spaltungen zu überwinden.
Der andauernde Kampf hat das kurdische Volk nicht nur der Erlangung eines offiziellen Status nähergebracht, sondern auch sehr wichtige Entwicklungen in Bezug auf das soziale Bewusstsein, die gemeinsamen Werte, das Verständnis von Freiheit, die demokratische Kultur und die Freiheit der Frauen bewirkt.
Insbesondere der türkische Staat betreibt eine Politik der gewaltsamen Unterdrückung
Alle vier Staaten verfolgen eine interventionistische Politik gegen den Kampf der Kurd:innen – oft mit einer gemeinsamen Strategie, aber auch im Rahmen ihrer eigenen Interessen. Insbesondere der türkische Staat betreibt, sowohl in der Türkei als auch in Nordkurdistan (im Südosten des türkischen Staatsgebiets) und den Nachbarländern, eine Politik der gewaltsamen Unterdrückung bis hin zum Faschismus gegen den kurdischen Freiheitskampf. Diese Unterdrückungs- und Gewaltpolitik umfasst das Ziel der Auslöschung der kurdischen Freiheitsbewegung, die Vertreibung der Kurd:innen aus ihren Herkunftsgebieten, die Abschaffung ihrer sozialen Einheit, die demographische Veränderung der kurdischen Gebiete und die schrittweise Beseitigung ihrer sozialen und ethnischen Eigenschaften.
Im Rahmen dieser Strategie wurden allein seit 2015 Zehntausende Personen inhaftiert, die politischen Parteien wie z.B. der HDP und der DBP und zivilgesellschaftlichen Organisationen angehören. In Kommunen, in denen Kurd:innen durch Wahlen Mandate erlangt haben, wurden staatliche Treuhänder eingesetzt, NGOs und Medien verboten. Tausende wurden gezwungen, als Geflüchtete in Europa und anderen Teilen der Welt zu leben. Viele Menschen wurden bei sozialen Protesten getötet.
In regelmäßigen Abständen greift die Türkei Energieanlagen, Produktionsstätten und Infrastruktur an
Doch damit nicht genug: Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung hat der türkische Staat in der Region Südkurdistan (Nordirak) mehr als 20 Militärstützpunkte errichtet und unter dem Namen verschiedener Institutionen Geheimdienstorganisationen angesiedelt. Mit Unterstützung der PDK1 werden Attentate auf Aktivist:innen verübt und Repression gegen die in der Region tätigen demokratischen kurdischen Organisationen ausgeübt. Gleichzeitig führt der türkische Staat intensive bewaffnete Angriffe gegen die de facto autonome Region in Nord- und Ostsyrien (verkürzt Westkurdistan / Rojava genannt) durch, die von Kurd:innen, Araber:innen, Assyrer:innen, Armenier:innen und weiteren Bevölkerungsgruppen gemeinsam verwaltet wird. So begann die türkische Armee im Januar 2018 eine Invasion gegen die Stadt Efrîn und am 9. Oktober 2019 gegen die Städte Serêkaniyê und Girê Spî. In der Folge wurden Tausende Menschen massakriert, Hunderttausende vertrieben, islamistische Milizen in den besetzten Regionen angesiedelt und somit die demografische Struktur der Region verändert. Neben diesen Angriffen verübt die Türkei in der Region Rojava mit unbemannten Drohnen Anschläge auf Zivilist:innen, Politiker:innen und Sicherheitskräfte, die sich für die Verteidigung der Bevölkerung einsetzen. In regelmäßigen Abständen greift die Türkei mit Kampfflugzeugen Energieanlagen, wirtschaftliche Produktionsstätten und andere zivile Infrastruktur an.
Der türkische Staat ist zu einem ernsthaften Sicherheits- und Stabilitätsproblem für die gesamte Region geworden
In jüngster Zeit, insbesondere seit dem 5. Oktober 2023, hat der türkische Staat erneut Kampfflugzeuge und unbemannte Drohnen eingesetzt und in zahlreichen Städten der Region Rojava, darunter Dêrik, Çilaxa, Tirbespiyê, Qamişlo, Amûdê und Til Temir, intensive Angriffe auf die Infrastruktur, z.B. Ölförderanlagen, Wasserstationen, Stromerzeugungs- und -verteilungsanlagen, Weizensilos und verschiedene wirtschaftliche Produktionsstätten durchgeführt. Bei all diesen Angriffen wurden Dutzende von Menschen getötet und die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern wie Trinkwasser und Lebensmitteln unterbunden. Auch die Versorgung mit Strom und Benzin wurde stark beeinträchtigt.
Mit diesen Angriffen wird versucht, die trotz der Bedingungen des syrischen Bürgerkrieges in der Region Rojava bis zu einem gewissen Grad geschaffene Sicherheit, politische und wirtschaftliche Stabilität zu schwächen, die Menschen durch die Erschwerung der Lebensbedingungen zur Migration zu zwingen und die Region durch das Brechen des kollektiven Widerstandes »besetzbar« zu machen. Mit dieser aggressiven Politik ist der türkische Staat zu einem ernsthaften Sicherheits- und Stabilitätsproblem geworden – nicht nur für Kurd:innen, sondern für die gesamte Region.
Die Aggression ist in der historischen Kurdenfeindlichkeit des türkischen Staates begründet
Diese Aggression ist in der historischen Kurdenfeindlichkeit des türkischen Staates begründet. Wie alle Regierungen, die an die Macht gekommen sind, setzt auch die AKP diese Politik als Staatsräson fort. Auch wenn AKP-Funktionäre das bestreiten, ist es doch die Realität. Erdoğan und seine AKP versuchen, durch die Unterstützung der Hisbollah in Nordkurdistan und der PDK in Südkurdistan zu zeigen, dass sie nicht allen Kurd:innen feindlich gegenüberstehen, aber das stimmt nicht. Die Unterstützung dieser Parteien zielt darauf ab, das kurdische Volk zu spalten und kurdische Akteure gegeneinander auszuspielen. Indem die AKP ein Bündnis mit der Hizbullah/Hüda Par in der Türkei und Nordkurdistan eingeht und diese unterstützt, will sie eine »kurdische Hamas« (wie die Hamas in Palästina) schaffen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Erdoğan die Autonome Region Kurdistan im Nordirak nicht verdauen kann und nach einer Gelegenheit sucht, sie zu zerstören. Erdoğan verfolgt mit seinen angeblichen Zuneigungsbekundungen gegenüber einigen Kurd:innen andere Ziele.
Darüber hinaus ist die AKP-Erdoğan-Aggression auch ideologisch motiviert. Die AKP folgt einer Ideologie, die auf der sogenannten »türkisch-islamischen Synthese« basiert. Sie hat in der Türkei eine chauvinistisch-nationalistische Mentalität vorangetrieben, indem sie nach und nach die staatlichen Institutionen dominiert, das Bildungssystem umgestaltet, die Presse, den Rundfunk und die Kommunikationsmittel monopolisiert und abweichende Meinungen auf unterschiedliche Weise neutralisiert hat.
Die AKP hat einen weiten Weg zurückgelegt, um ihre ideologischen Ziele zu verfolgen
Man kann sagen, dass die AKP in den 20 Jahren, in denen sie an der Macht ist, einen weiten Weg zurückgelegt hat, um ihre ideologischen Ziele zu verfolgen:
In Ergänzung zur Vorgehensweise innerhalb der Türkei engagiert Erdoğan sich im Nahen Osten und einigen afrikanischen Ländern, indem er offene sowie verdeckte Beziehungen und Partnerschaften mit zahlreichen radikalen Organisationen aufbaute, insbesondere mit der sunnitisch-islamistischen Muslimbruderschaft. In Ägypten, Libyen, Syrien, Jemen, Tunesien und vielen weiteren Ländern ist diese ein einflussreicher politischer Akteur. So ist die Unterstützung der Erdoğan-AKP für Mohammed Mursi und die Ikhwan-Bewegung in Ägypten, die Ennahda-Bewegung und Rached al-Ghannouchi in Tunesien, die Islah-Bewegung im Jemen und die Ikhwan-Gruppen in Syrien allgemein bekannt. Darüber hinaus ist auch eine verdeckte Unterstützung verschiedener salafistischer Gruppen in vielen Ländern nachweisbar, in Syrien sind das beispielsweise FSA, Jabhat al-Nusra und IS. Die Unterstützung dieser radikal-islamistischen Gruppen geht weit über Sympathiebekundungen oder politische Unterstützung hinaus und beinhaltet auch die aktive Nutzung staatlicher Institutionen, einschließlich militärischer, wirtschaftlicher und geheimdienstlicher Mittel. In diesem Zusammenhang zeigt sich deutlich, dass sie eine ideologisch motivierte Strategie verfolgt und mit einer neo-osmanischen Zielsetzung in der Politik agiert.
Im Wesentlichen wendet sich Erdoğan gegen die Grundprinzipien der Demokratie
Damit einher gehen ernsthafte Anstrengungen der Erdoğan-AKP gegen die Gruppen, die sich für Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Säkularismus in diesen Ländern einsetzen. Im Wesentlichen wendet sich Erdoğan gegen die Grundprinzipien der Demokratie, der Menschenrechte, des universellen Rechts und der Frauenbefreiung, nicht nur im Nahen Osten, sondern weltweit. Nach und nach zieht er sich aus internationalen Konventionen zurück, die auf diesen Werten beruhen oder erklärt offen, dass er sie nicht mehr als bindend ansieht. Im Nahen Osten bekämpft er diese Werte und diejenigen, die sie verteidigen, mit aller Härte.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht schwer, einen weiteren Grund für seine Politik der Unterdrückung, Gewalt und Zerstörung gegen die demokratischen und freiheitlichen kurdischen Strukturen zu finden: Erdoğan betrachtet die kurdische Freiheitsbewegung als Hindernis für seine ideologischen und politischen Ziele – sowohl innerhalb der Türkei, als auch in der gesamten Region. Es sind politische und gesellschaftliche Akteure wie z.B. die HEDEP2 in der Türkei, die Kurd:innen, die die autonome Region Rojava in Syrien prägen und viele weitere Gruppen, die sich die Werte, die durch die Kämpfe für Demokratie, Gleichheit und Freiheit geschaffen wurden, zu eigen machen und den Anspruch erheben, diese weiterzutragen. Sie folgen einer Ideologie, die Gleichberechtigung und gegenseitigen Respekt, Glaubensfreiheit, die Freiheit der Frauen und ökologische Werte verteidigt. Gerade im Nahen Osten ist die Existenz und das Paradigma der Kurd:innen als Gegenentwurf zur gegenwärtigen konservativen, dogmatischen und ethnisch-nationalistischen Realität sehr wichtig und wertvoll.
Derzeit findet im Nahen Osten ein heftiger Kampf zwischen diesen beiden Linien statt, in dem es ums Überleben geht. Und die Auswirkungen dieser Kämpfe, sowohl die positiven als auch die negativen, beschränken sich nicht auf den Nahen Osten, sondern haben das Potenzial, auch andere Regionen der Welt, u.a. die westlichen Industriestaaten zu beeinflussen. Um dies zu erkennen, genügt ein Blick auf die Situation, die der selbsternannte IS (Islamischer Staat) zwischen 2014 und 2020 hervorgebracht hat: Die Bedrohung durch den IS blieb nicht auf Syrien, den Irak oder den Nahen Osten begrenzt, sondern hatte weltweit spürbare Auswirkungen.
Angesichts der Zerstörung, die der IS im Nahen Osten angerichtet hat, darf nicht vergessen werden, dass er radikale und gewalttätige Gruppierungen, Aggression und Hass in Gesellschaften auf der ganzen Welt hervorgebracht hat. Dagegen mussten 74 Staaten eine militärische Koalition bilden und gemeinsam handeln. Gegen den sogenannten IS, der zu einer Gefahr für die ganze Welt geworden ist, haben die Kurd:innen im Irak und in Syrien gekämpft, um ihre eigene Existenz zu schützen und die Werte der Menschlichkeit zu verteidigen. Allein im Syrienkrieg haben mehr als 12.000 Kämpfer:innen der QSD3 ihr Leben geopfert, um den IS zu stoppen. Hunderte internationale Revolutionär:innen aus vielen Ländern sind in die autonome Region Rojava gekommen und haben an diesem Kampf teilgenommen, viele von ihnen haben ihr Leben geopfert. Die autonome Region Rojava hat mit ihrer Struktur, die Demokratie, Glaubensfreiheit, soziale Gleichheit und die Freiheit der Frauen beinhaltet, dazu beigetragen, dass die Hoffnung auf ein freies Leben im Nahen Osten und in der Welt wächst.
Die Angst der Kurd:innen vor einem bevorstehenden Völkermord ist nicht übertrieben
Die Aggressionspolitik des türkischen Staates gegen die Kurd:innen ist eine ernste Bedrohung für die Existenzgrundlage und das Überleben des kurdischen Volkes. Es ist keine Übertreibung, wenn die Kurd:innen einen bevorstehenden Völkermord befürchten.
In einer Epoche, die als Dritter Weltkrieg bezeichnet wird, in der das Völkerrecht und grundlegende moralische Grenzen überschritten werden, in der die regionale Kriegsgefahr durch den Krieg zwischen der israelischen Armee und der Hamas deutlich gestiegen ist, in der der Geist des Nationalismus und die Realität Erdoğans, der offen erklärt, dass er sich an keine Regeln und Abkommen halten muss, zusammenkommen, ist die Gefahr eines Massenmords, der in einem Genozid endet, nicht weit entfernt. Damit einher geht die Gefahr, dass die demokratischen und freiheitlichen (kurdischen) Akteur:innen liquidiert oder geschwächt werden, was die Vorherrschaft der nationalistischen, konservativen und radikalen Gruppen im Nahen Osten sichern würde. Die Situation in Syrien beispielsweise würde sich mit Sicherheit in diese Richtung entwickeln. Sollte sich die kurdisch geführte autonome Region in Syrien auflösen, werden entweder das Baath-Regime von Baschar al-Assad oder islamistische Gruppen, die von der Türkei und Katar unterstützt werden, wie z.B. IS und Al-Nusra dominieren. Dies würde sich auch negativ auf den Kampf für Demokratie in der Türkei, das Streben nach Freiheit im Iran sowie die Stabilisierung der Situation im Irak auswirken.
Das kurdische Volk verdient die Unterstützung der Weltgemeinschaft
Es ist nicht schwer, die Auswirkungen auf die ganze Welt und die sich daraus ergebenden Konsequenzen vorherzusagen. In diesem Fall müssen wir uns eine Frage stellen, deren Antwort klar ist: Wer profitiert von der Auflösung oder Schwächung der kurdischen Strukturen in Syrien, im Irak oder in der Türkei? Warum schweigen wir zu den Angriffen des türkischen Staates auf Rojava oder Südkurdistan, wenn die Antwort auf diese Frage klar ist? Ich bin mir sicher, dass wir alle die Konsequenzen sehen können. Doch leider herrscht in der Welt, auch in der europäischen Gemeinschaft, ein beunruhigendes Schweigen zu den Angriffen auf Rojava, die der türkische Staat seit dem 5. Oktober 2023 erneut intensiviert hat. Dieses Schweigen hat nicht nur faschistische Diktatoren wie Erdoğan ermutigt, sondern auch das kurdische Volk demoralisiert. Die Kurd:innen, die für ihre Rechte und die Freiheit der ganzen Welt kämpfen, die das Leben Zehntausender für diese Sache geopfert haben, die das Potential haben, die Demokratie im Nahen Osten weiterzuentwickeln, fühlen sich in diesem Kampf isoliert und allein gelassen.
In einer Welt der Allianzen, die menschliche Werte zugunsten ihrer eigenen Interessen missachten, braucht das kurdische Volk, das ums Überleben kämpft, die Unterstützung der Weltgemeinschaft, um erfolgreich zu sein. Ich möchte betonen, dass das kurdische Volk diese Unterstützung verdient und dass es eine humanitäre Verantwortung ist, zu helfen. Durch die Solidarität mit dem kurdischen Volk in unserer globalisierten Welt, in der Kommunikations- und Organisationsmöglichkeiten unbegrenzt sind, ist es möglich, die aktuellen Angriffe und die zukünftigen schrecklichen Pläne des türkischen Staates zu verhindern.
Alte Urteile über kurdische Parteien und Organisationen müssen überdacht werden
Vor dem Hintergrund all dessen, angesichts der realen Gefahr eines 3. Weltkrieges, ist es notwendig, die Denkmuster, Wahrnehmungen und Urteile, die in der Vergangenheit gebildet wurden, mit der heutigen Realität zu vergleichen. Die Parameter in der Welt und insbesondere im Nahen Osten haben sich verändert. Nichts ist mehr so wie vor 30 Jahren, oder selbst vor 20 oder 10 Jahren. Im letzten Vierteljahrhundert hat der Nahe Osten in jeder Hinsicht einen Umstrukturierungsprozess durchlaufen, der sich auf die ganze Welt auswirken wird. Angesichts der Rolle, die die Kurd:innen und die kurdischen Organisationen für die Demokratie im Nahen Osten spielen können, liegt es auf der Hand, dass die Weltgemeinschaft, die Einzelstaaten, die politischen und zivilen Akteure ihre alten Urteile über die verbotenen kurdischen Parteien und Organisationen, einschließlich der PKK, überdenken und ihre Haltung ändern sollten. Die Kurd:innen brauchen die Welt, um erfolgreich zu sein, aber die Welt muss auch erkennen, dass sie die Kurd:innen und den kurdischen Kampf zur Verteidigung der Demokratie und der menschlichen Werte braucht.
Fußnoten
1 Partiya Demokrata Kurdistanê, dt. Demokratische Partei Kurdistans, auch KDP abgekürzt
2 Die Partei wurde inzwischen gezwungen, sich umzubenennen, sie heißt nun DEM-Partei. Sie ist eine Nachfolgerin der von einem Verbot bedrohten HDP.
3 Quwetên Suriya Dimokratîk, Demokratische Kräfte Syriens, auch SDF abgekürzt
Kurdistan Report 232 | März / April 2024
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage
Die gesellschaftliche Frage1
Abdullah Öcalan
1. Das Problem von Macht und Staat
Ich muss nochmals betonen, dass einerseits Geschichte ›Gegenwart‹ ist, andererseits jedes Element der Gegenwart Geschichte. Der große Bruch zwischen Geschichte und Gegenwart folgt aus der Propaganda einer jeden aufsteigenden Zivilisation, durch welche sie sich zu legitimieren und sich den Schein der Ewigkeit zu geben versucht. Im wirklichen Gesellschaftsleben existieren keine solchen Brüche. Ein weiterer Aspekt, den ich betonen möchte, ist, dass die Konstruktion einer lokalen bzw. singulären Geschichte ohne ihre Universalisierung keinen Sinn ergäbe. Folglich ist das Problem von Macht und Staat, welches seit deren Errichtung existiert, mit sehr kleinen Differenzen auch ein gegenwärtiges. Diese Differenzen ergeben sich durch zeitliche und räumliche Veränderungen. Wenn wir den Begriffen Differenz und Transformation einen solchen Inhalt geben, wird der Wahrheitsgehalt unserer Interpretationen eindeutig größer. Man sollte sich der Nachteile bewusst sein, die die Unterschätzung von Differenzen, Transformation und Entwicklung mit sich bringt. Genauso wie eine fehlende universalgeschichtliche Perspektive verblendend wirkt, verschleiert ein Geschichtsverständnis, welches den Differenzen und der Transformation keinen Platz einräumt und die Geschichte als eine Art ewige Wiederholungskette behandelt, die Wirklichkeit. Es ist sehr wichtig, diese beiden Reduktionismen zu vermeiden.
Die erste Feststellung über Macht und Staat aus gegenwärtiger Perspektive ist, dass sie sich eine unheimliche Ausdehnung über und in der Gesellschaft verschafft haben. Bis zum sechzehnten Jahrhundert wurde Herrschaft in ihrer prächtigen und angsteinflößenden Art eher außerhalb der Gesellschaft konstruiert. Die Zivilisation wurde in verschiedenen Zeiten Zeuge von zahlreichen unterschiedlichen Herrschaftsformen. Der Staat als offizieller Ausdruck der Macht hatte seine Grenzen sorgfältig gezogen. Man hoffte: Je klarer die Grenzen zwischen dem Staat und der Gesellschaft gezogen würden, desto größer sollte ihr Nutzen sein. Selbst in Bezug auf Macht als ein innergesellschaftlicheres Phänomen waren die Grenzlinien klar erkennbar. Die Position der Frauen gegenüber den Männern, der Jungen gegenüber den Alten, der Stammesmitglieder gegenüber dem Stammesoberhaupt, der gläubigen Gemeinschaft gegenüber dem Vertreter der Religion bzw. der Konfession war durch sehr klare Regeln und Sitten bestimmt. Von ihren Tonfällen bis hin zu ihren Gangarten und Sitzweisen waren die Autorität von Macht und das Herrschen und Beherrschtwerden ausführlichen Regeln unterworfen. Zweifellos ist es nachvollziehbar, dass Macht und Staat, die sich der Gesellschaft gegenüber in Unterzahl befanden, ihre Autorität auf diese Weise errichteten, um ihr Dasein spürbar zu machen. Diese Regeln fungierten als Legitimationsmittel und boten entsprechende Bildung und Dienste.
Die tiefgreifende Transformation der Autorität von Macht und Staat in der europäischen Zivilisation beruhte auf ihrem Bedürfnis, alle Poren der Gesellschaft immer schneller zu durchdringen. Es kann von zwei Hauptfaktoren die Rede sein, die bei der horizontalen und vertikalen Expansion der Macht eine Rolle spielten. Der erste davon ist die Vergrößerung der auszubeutenden Massen. Ohne eine entsprechende Vergrößerung der Verwaltung war die Ausbeutung nicht mehr realisierbar. Genauso wie eine größer werdende Herde mehr Hirten braucht, stellt auch die Aufblähung der Staatsbürokratie einen eindeutigen Beweis für dieses Phänomen dar. Die Regierung, die nach außen hin ihre Verteidigungskräfte außerordentlich verstärkt hatte, spürte zudem im Inneren die Notwendigkeit, die Gesellschaft zu unterdrücken. Kriege haben schon immer Bürokratie erzeugt. Die Armee selbst ist die größte bürokratische Organisation. Der zweite Faktor bestand in dem größer werdenden Bewusstsein und dem zunehmenden Widerstand der Gesellschaft. Einerseits die Tatsache, dass die europäische Gesellschaft die tief verwurzelte Ausbeutung nicht erlebt hatte, andererseits ihr stetiger Widerstand zwangen die Macht und den Staat dazu, sich zu vergrößern. Der Kampf der Bourgeoisie gegen die Aristokratie und der der Arbeiterklasse gegen beide führten in Europa zu einem tiefer reichenden Aufbau von Macht und Staat. Die Staatswerdung der Bourgeoisie wahrscheinlich als der ersten Mittelklasse in der Geschichte führte eine große Änderung der Position der Macht und des Staates herbei. Die Staatswerdung einer aus dem Schoß der Gesellschaft stammenden Masse und die damit zusammenhängende Machtzunahme zwangen die Bourgeoisie zu einer Organisierung innerhalb der Gesellschaft.
Die Bourgeoisie als Klasse war zu groß, um ihre Herrschaft über die Macht und den Staat äußerlich zu etablieren. Es war klar, dass diese Klasse nach ihrer Staatswerdung sich im Inneren in einem gesellschaftlichen Konflikt wiederfinden würde. Der Klassenkampf kündigte diese Wahrheit an. Liberalismus ließ als bürgerliche Ideologie nichts unversucht, um eine Lösung dieses Problems zu finden. Was sich aber im Laufe der Zeit ereignete, waren eine Ausweitung des Staates und der Macht und eine Weiterentwicklung des bürokratischen Krebsgeschwürs. Je größer der Staat und die Macht in einer Gesellschaft sind, desto größer ist auch der Bürgerkrieg. Das grundsätzlichste Problem, das sich in der europäischen Gesellschaft entwickelte, war von Anbeginn an dieser Art. Die großen Kämpfe für Verfassung, Demokratie, Republik, Sozialismus und Anarchismus hingen eng mit der Entstehungsweise von Macht und Staat zusammen. Gegenwärtig stellen an eindeutige konstitutionelle Regeln gebundene Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie das beliebteste Gegenmittel gegen dieses Problem dar. Anstatt einer nachhaltigen Lösung wird vielmehr eine Überwindung der alten Kampfphase versucht, indem der Staat und die Gesellschaft zu einer Einigung bezüglich der Macht gezwungen werden. Das Problem von Macht und Staat wurde nicht gelöst, sondern es wurde ihm nur Nachhaltigkeit verliehen.
Wenn man das Ganze näher betrachtet, sieht man, dass mithilfe diverser Formen von Nationalismus, Sexismus, Religionismus und Szientismus Gesellschaft, Macht und Staat zunehmend ineinander verschränkt und durch die zu etablierende Vorherrschaft des Paradigmas, jeder sei sowohl Macht als auch Gesellschaft, sowohl Staat als auch Gesellschaft, das Fortbestehen des Nationalstaats gewährleistet werden soll. So wird einerseits im Inneren der Klassenkampf unterdrückt, andererseits nach außen die Verteidigungsposition stets offen gehalten. So glaubt man, die Lösung im bürgerlichen Nationalstaat gefunden zu haben. Dies ist die bedeutendste der weltweit eingesetzten Methoden zur Unterdrückung von Problemen anstatt ihrer Lösung. Die faschistische Qualität des nationalstaatlichen Daseins als maximaler Staat und Macht war am deutlichsten während des deutschen Faschismus zu sehen.
Das erste Exemplar des Nationalstaats zeigte sich im holländischen und englischen Widerstand gegen das spanische Reich. Der Nationalstaat verschaffte seiner eigenen Macht einen Legitimationsgrund, indem er die ganze Gesellschaft gegen eine äußere Macht mobilisierte. Die europäische Entwicklung hin zu nationalen Gesellschaften wies also anfangs relativ positive Züge auf. Allerdings kam dieser Nationwerdung bereits von Anbeginn an offensichtlich die Aufgabe zu, die Ausbeutung und Unterdrückung der einen Klasse durch die andere zu verschleiern. Der Nationalstaat trägt sicherlich den Stempel der Bourgeoisie. Er ist das Staatsmodell dieser Klasse. Später führten die Feldzüge Napoleons dazu, dass dieses Modell, das in Frankreich an Stärke gewonnen hatte, sich in ganz Europa ausbreitete. Die Rückständigkeit der deutschen und italienischen Bourgeoisien und die Schwierigkeiten, die sie bei ihren Bemühungen um die nationale Einheit erlebten, brachten eine nationalistischere Politik mit sich. Einerseits die äußere Besatzungsgefahr, andererseits die andauernden Widerstände der Aristokratie und der Arbeiterklasse brachten die Bourgeoisie dazu, sich an ein chauvinistisch-nationalistisches Staatsmodell zu klammern. Angesichts der Niederlage und Krise standen viele Länder, vor allem Deutschland und Italien, am Scheideweg: ›Entweder soziale Revolution oder Faschismus‹. Das faschistische Staatsmodell ging aus diesem Dilemma als Sieger hervor. Vielleicht haben Hitler, Mussolini und Konsorten verloren, aber ihr System setzte sich siegreich durch.
Der Nationalstaat lässt sich im Wesentlichen als Identifizierung der Gesellschaft mit dem Staat und des Staates mit der Gesellschaft beschreiben – was übrigens auch die Definition des Faschismus ausmacht. Natürlich kann weder der Staat zur Gesellschaft noch die Gesellschaft zum Staat werden. Nur totalitäre Ideologien können eine solche Behauptung aufstellen. Die faschistische Qualität dieser Behauptung ist allgemein bekannt. Der Faschismus als Staatsform ist stets ein Ehrengast des bürgerlichen Liberalismus. Er ist die Regierungsform in Krisenzeiten. Da die Krise strukturell ist, ist auch diese Regierungsform strukturell. Sie trägt den Namen nationalstaatliche Regierung. Sie stellt den Höhepunkt der Krise des Finanzkapitalzeitalters dar. Der Staat des kapitalistischen Monopols, das gegenwärtig auf globaler Ebene auf seinem Höhepunkt angekommen ist, ist in seiner reaktionärsten und despotischsten Phase im Allgemeinen faschistisch. Auch wenn vom Niedergang des Nationalstaats die Rede ist, wäre es naiv, zu glauben, an seiner Stelle würde eine Demokratie konstruiert werden. Vielleicht ist der Aufbau sowohl makro-globaler als auch mikro-lokaler faschistischer Formationen an der Tagesordnung. Im Nahen Osten, auf dem Balkan, in Zentralasien und Kaukasien ereignen sich beachtenswerte Entwicklungen. In Südamerika und Afrika stehen neue Erfahrungen unmittelbar bevor. Europa verfolgt die Strategie, sich durch Reformen vom nationalstaatlichen Faschismus zu entfernen. Wie es mit Russland und China weitergehen wird, ist noch ungewiss. Der Superhegemon USA steht im Austausch mit jeglicher Staatsform.
Das Problem von Macht und Staat befindet sich offensichtlich in einer seiner schlimmsten Phasen. Das Dilemma ›entweder demokratische Revolution oder Faschismus‹ ist an der Tagesordnung und seine Lösung nach wie vor lebenswichtig. Weder die regionale Organisation des Systems noch die zentrale UN-Organisation sind noch funktional. Das Finanzkapital, das in der globalsten Phase der Zivilisation seinen Höhepunkt erreichte, stellt diejenige Kapitalfraktion dar, die die Krise am meisten schürt. Das politisch-militärische Gegenstück zum Monopol des Finanzkapitals ist intensivierter Krieg gegen die Gesellschaft. Dies ist weltweit an vielen Fronten bereits Realität. Welche politischen und wirtschaftlichen Formationen aus der strukturellen Krise des Weltsystems hervorgehen werden, lässt sich nicht durch Prophezeiung, sondern durch intellektuelle, politische und moralische Bemühungen feststellen.
Im Zeitalter des Finanzkapitals, des virtuellsten Kapitalmonopols der kapitalistischen Moderne, ist die Gesellschaft einem historisch beispiellosen Zerfall ausgesetzt. Das politische und moralische Gefüge der Gesellschaft wurde zerschmettert. Was geschieht, ist ein ›Soziozid‹ – ein schwerwiegenderes gesellschaftliches Phänomen als Genozid. Die vom virtuellen Kapital beherrschten Medien fungieren als eine Waffe, die einen größeren Soziozid durchführt als im Zweiten Weltkrieg. Wie kann man die Gesellschaft gegen die Medien verteidigen, die sie mit ihren Nationalismus-, Religionismus-, Sexismus-, Szientismus- und Artismuskanonen (Sport, Serien usw.) vierundzwanzig Stunden am Tag unter Beschuss nehmen?
Die Medien sind wie eine Art zweite analytische Intelligenz in der Gesellschaft wirksam. So wie die analytische Intelligenz an sich weder gut noch böse ist, sind auch die Medien an sich ein neutrales Mittel. Wie bei jeder anderen Waffe auch, wird ihre Rolle von denjenigen bestimmt, die sie einsetzen. Die Hegemonialmächte verfügen nicht nur stets über die effektivsten Waffen im wörtlichen Sinne, sondern sie herrschen auch über die Waffe der Medien. Da sie die Medien wie eine zweite analytische Intelligenz einsetzen, gelingt ihnen die Neutralisierung der gesellschaftlichen Widerstandsfähigkeit. Mithilfe dieser Waffe wird eine virtuelle Gesellschaft konstruiert. Die virtuelle Gesellschaft stellt eine weitere Form des Soziozids dar. Auch der Nationalstaat zählt zu den Formen des Soziozids. In beiden Fällen wird die Gesellschaft ihrer Gesellschaftlichkeit beraubt und in ein Werkzeug des sie lenkenden Monopols verwandelt. Die Unterschätzung der gesellschaftlichen Natur ist äußerst gefährlich; der Raub ihrer Gesellschaftlichkeit setzt die Gesellschaft unbegrenzten Gefahren aus. Wie das Zeitalter des Finanzkapitals kann auch das des virtuellen Monopols nur mit einer Gesellschaft koexistieren, die aufgehört hat, sich selbst zu sein. Das gleichzeitige Entstehen dieser beiden Phänomene ist kein Zufall, da sie miteinander verbunden sind. Die Gesellschaft, die der Nationalstaat ihrer Gesellschaftlichkeit beraubte (damit sie sich für den Nationalstaat hält) sowie die von den Medien verführte Gesellschaft sind im wahrsten Sinne des Wortes besiegte Gesellschaften, aus deren Trümmern man andere Sachen konstruiert. Es steht außer Zweifel, dass wir eine solche gesellschaftliche Ära erleben.
Wir leben nicht nur in der problematischsten Gesellschaft, sondern auch in einer, die ihren Individuen nichts bietet. Die Gesellschaften, in denen wir leben, haben nicht nur ihr moralisches und politisches Gefüge verloren, sondern werden zudem in ihrer Existenz bedroht. Sie sind nicht nur mit einem Problem konfrontiert, sondern der Gefahr ihrer Vernichtung ausgesetzt. Wenn die Probleme sich gegenwärtig trotz der ganzen Wirkmächtigkeit der Wissenschaft vergrößern und vertiefen und in eine Art Krebs verwandeln, dann stellt der Soziozid nicht nur eine Hypothese, sondern eine reelle Gefahr dar. Die Behauptung, die Macht des Nationalstaats beschütze die Gesellschaft, schafft die allergrößte Illusion und lässt diese Gefahr Schritt für Schritt wahr werden. Die Gesellschaft ist nicht nur mit Problemen, sondern mit ihrer eigenen Vernichtung konfrontiert.
Fußnote
1 Aus: Soziologie der Freiheit. (= Manifest der demokratischen Zivilisation, Band III). Münster 2020. S. 124-129.
Kurdistan Report 232 | März / April 2024