Rückblick auf die internationale Konferenz der Akademie der Demokratsichen Moderne
Die »Art of Freedom – Strategien der Organisierung und des kollektiven Widerstands«
Ali Çiçek
Über 180 Personen aus 5 Kontinenten, 30 Ländern und verschiedenen Organisationen, Bewegungen und Parteien reisten vom 17. bis 19. November 2023 nach Basel zur Konferenz »The Art of Freedom – Strategien der Organisierung und des kollektiven Widerstands«, die von der »Akademie der demokratischen Moderne« veranstaltet wurde. Angesichts der sich verschärfenden Krise der kapitalistischen Moderne und ihrer vielfältigen Erscheinungsformen wurden vor allem Auswege und Lösungsansätze diskutiert. Insbesondere diskutierten die Delegierten verschiedene Aspekte des Widerstands gegen das kapitalistische System und tauschten ihre Erfahrungen und Strategien aus, um gemeinsam über die Stärkung ihrer Praxis und des gemeinsamen Kampfes nachzudenken.
Die Konferenz konzentrierte sich auf verschiedene Themen und Herausforderungen, mit denen antisystemische Kräfte im 21. Jahrhundert international konfrontiert sind: Selbstbestimmung und Autonomie, Aufbau von Gegenmacht und die Falle der liberalen Demokratie, Autonomie der Jugend, Frauenbefreiung, Ökologie und radikale Demokratie, die Frage der Organisierung und die Bedeutung des Internationalismus. Diese Konferenz kam mit ihrem Einsatz für die Notwendigkeit des Internationalismus genau zum richtigen Zeitpunkt. In ihren Beiträgen betonten die verschiedenen Redner:innen die Notwendigkeit, von den Widerstandspraktiken und Erfahrungen anderer Bewegungen zu lernen. Die politischen Entwicklungen der letzten Monate, wie z.B. die Kriege in Palästina und Kurdistan, zeigen deutlich, dass internationale Netzwerke von Bewegungen notwendig sind, um die kapitalistische Moderne und den Imperialismus herauszufordern. In diesem Sinne wurde auf dieser Konferenz betont, wie wichtig es ist, ein neues Verständnis von Politik zu entwickeln, das der patriarchalen und nationalstaatlichen Struktur der kapitalistischen Moderne entgegenwirkt. So erklärt der kurdische Vordenker Abdullah Öcalan in seinen Verteidigungsschriften, dass antisystemische Kräfte ihre politischen Aufgaben nicht denen überlassen dürfen, die die Pluralität der Politik zerstören und die Politik für ihre Macht missbrauchen: »Da die Macht versucht, jede soziale Einheit und jedes Individuum zu erobern und zu kolonisieren, muss die Politik danach streben, jede Einheit und jedes Individuum zu gewinnen und zu befreien.« In den verschiedenen Beiträgen der Konferenz wurde deutlich, dass in verschiedenen Teilen der Welt solche Ansätze bereits existieren und den Aufbau einer radikalen Demokratie von unten vorantreiben.
Die Konferenz bestand nicht nur aus Vorträgen, Diskussionsrunden und Workshops, in denen revolutionäre Strategien diskutiert wurden, sondern auch aus einem Austausch in Gemeinschafts- und Kulturaktivitäten. Die Delegierten aßen gemeinsam und tanzten zu traditioneller Musik. Der Konferenzraum war mit Postern von Kämpfen aus der ganzen Welt geschmückt. Auf diese Weise waren die Teilnehmer:innen nicht nur im Kampf, sondern auch in der Freude und gegenseitigen Wertschätzung der Kulturen und Lebensweisen der anderen geeint, strebend nach einem wirklich ganzheitlichen Internationalismus.
Perspektiven der (nationalen) Selbstbestimmung und Autonomie im 21. Jahrhundert
Tatsächlich ging es im ersten Panel genau um die Perspektiven der nationalen Selbstbestimmung und Autonomie im 21. Jahrhundert. Mahmut Şakar, einer der Anwälte von Abdullah Öcalan, eröffnete die Debatte mit einer Rede über die Bedeutung davon, Selbstbestimmung durch das Paradigma von Öcalan neu zu denken. Er erklärte, dass der Kampf für die Befreiung Kurdistans aus einer klassischen dekolonialen Perspektive heraus begann, die die nationale Befreiung durch die Staatsmacht anstrebte, bevor der Befreieungskampf sich zu einer modernen Linie von Freiheit und Autonomie jenseits staatlicher Gebilde entwickelte, was die gegenwärtige Haltung der PKK darstellt. Die grundlegende Bedeutung der PKK innerhalb der kurdischen Freiheitsbewegung liegt in der Tatsache, dass sie dabei geholfen hat, sowohl die Wahrnehmung der kurdischen Frage als auch mögliche Lösungsansätze zu verändern. Als Öcalan in den 1970er Jahren erklärte, Kurdistan sei eine internationale Kolonie, schlossen sich die jungen Menschen aus den armen, werktätigen, bäuerlichen und unterdrückten Schichten Kurdistans ihm und der PKK an. In dieser Zeit waren der realsozialistische Kampf, die Jugendbewegungen und die nationalen Befreiungskämpfe die Kontexte, aus denen die PKK ihre Inspiration bezog. Öcalan sagt: »Wenn es den Realsozialismus nicht gegeben hätte, wäre eine Organisation wie die PKK vielleicht nicht gegründet worden.“
Dennoch fügt er hinzu, dass die PKK zwar vom Realsozialismus beeinflusst wurde, aber »die gesamte Realität der PKK nicht durch den Realsozialismus erklärt werden kann«. Dies lässt sich durch die gemischte und eklektische Koexistenz von nationalstaatlicher Ideologie und demokratisch-sozialistischer Ideologie innerhalb der Partei verstehen. »Uns fehlte die Fähigkeit, den Revisionismus des Realsozialismus zu bekämpfen. Wir konnten nur mit primitiven nationalistischen und sozialchauvinistischen Ideologien erfolgreich kämpfen.« Öcalan beschreibt das Hauptproblem bei der Gründung der PKK darin, dass sie »in Bezug auf die nationalstaatliche Ideologie mehrdeutig« war. Das Hauptaugenmerk seiner Schrift liegt auf dem 500-jährigen hegemonialen Prozess, den er als kapitalistische Moderne bezeichnet, und den Auswirkungen dieses Prozesses auf unser Denken und Handeln. Mit der Feststellung, dass eine der drei Säulen der kapitalistischen Moderne der Nationalstaat ist, versucht er, ein neues Modell von einer Nation und eine Lösung zu finden. Gegen die nationalstaatliche Mentalität und ihre Religion des Nationalismus schlägt Öcalan das Paradigma des demokratischen Konföderalismus als Alternative zum nationalstaatlichen Modell vor. Die Grundaussagen des Paradigmas Öcalans zur Lösung der nationalen Probleme und zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechts lassen sich wie folgt ausdrücken: »Das Modell der Demokratischen Nation ist eine Strategie zur Entkolonialisierung durch die Schaffung eines freien Individuums und einer freien Gesellschaft«. Das Modell der demokratischen Autonomie erfüllt die Aufgabe, eine Kraft gegen den Kolonialismus zu werden, indem ein neues Volk und eine neue Gesellschaft geschaffen wird, und zwar entgegen der vom Kolonialismus geschaffenen.
Diese Perspektive öffnete den Zugang zu anderen Erfahrungen der nationalen Befreiungskämpfe. Zunächst die der Menschen im Baskenland, deren Geschichte von zwei Vertretern von Askapena erzählt wurde, die über den Befreiungskampf in Euskal Herria (Baskenland) sprachen. Ziel des Vortrags war es, die neue Phase zu verstehen, in der das Baskenland von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ereignissen geprägt ist. Nach einer Einordnung des Widerstandskampfes in den spanischen und französischen Prozess der Nationalstaatenbildung, der sich durch unterschiedliche Strategien vollzog – die eine basierte auf militärischer Unterdrückung, die andere wurde durch assimilatorische Praktiken aufgezwungen – konzentrierten sich die Redner auf die verschiedenen Strategien, die im Laufe der Jahrhunderte zur Verteidigung ihrer sprachlichen und kulturellen Identität sowie ihrer wirtschaftlichen und politischen Autonomie eingesetzt wurden. Der Widerstand gegen die spanischen und französischen Invasionen nahm je nach historischer Phase die Form von verschiedenen Arten von Kämpfen an: Bauernaufstände zur Verteidigung des kollektiven Eigentums an kommunalen Ländereien (matxinadak), die Salzschlacht in Bizkaia, der Matalaz-Aufstand in Zuberoa, bewaffnete Aufstände zur Durchsetzung der Gewohnheitsrechte und der Selbstverwaltung, massenhafter Ungehorsam gegen die Einberufung in die spanische oder französische Armee, bewaffneter Widerstand gegen den spanischen faschistischen Aufstand und Widerstand gegen die Nazis und die Francoisten im Nordbaskenland sowie die Selbstorganisation des Volkes für die Wiederherstellung der baskischen Sprache und Kultur. Mit der Gründung der ETA in den 1960er Jahren verschmolz die nationale Befreiung mit dem Kampf für die soziale Befreiung, der sich in einem Kampf für die Unabhängigkeit und den Sozialismus ausdrückte. Die Kämpfe der letzten Jahrzehnte haben verschiedene Phasen durchlaufen, aber insbesondere im letzten Jahrzehnt gab es einen drastischen Strategiewechsel, der ein Engagement in der institutionellen Politik mit sich brachte, was zu mehreren Spaltungen in der Unabhängigkeitsbewegung führte und sie in viele verschiedene Organisationen mit unterschiedlichen Taktiken zersplitterte.
Dieses Bild deckt sich mit dem der Vertreterin der katalanischen Organisation Endavant, die die Geschichte des Unabhängigkeitskampfes des katalanischen Volkes schilderte. Sie sagte, dass der Konflikt zwischen der katalanischen Gesellschaft und dem spanischen Staat, wie die meisten nationalen Konflikte, ein Phänomen unserer Zeit sei, das in den letzten 300 Jahren der Moderne angesiedelt sei, in denen sich zeitgenössische nationale Identitäten herausgebildet hätten. Sie erläuterte die Zusammenhänge zwischen dem lang anhaltenden Widerstand gegen die Assimilationspolitik des spanischen Staates unter Franco und der post-francoistischen Teilung Kataloniens in drei autonome Gemeinschaften, die sich laut Verfassung nicht verbünden dürfen. In Katalonien löste die Wirtschaftskrise von 2008 zwei Reaktionen der Bevölkerung aus. Zum einen die 15M-Bewegung, die sich gegen die Sparpolitik nach der Krise wandte, und zum anderen das Wiederaufleben des Wunsches nach Unabhängigkeit. Beide entstanden aus Frustration über den Mangel an Möglichkeiten zur Umgestaltung des Regimes von 1978, das behauptete, Spanien zu demokratisieren. Fälle von Korruption, Bankenrettung, Privatisierung, Rechtsverletzungen, soziale Kontrolle und die Ablehnung des neuen Autonomiestatuts waren der Nährboden für diese Frustrationen. Die staatliche Repression, die mangelnde Organisation des Volkes, die fehlende Vorbereitung auf die Repression sowie der Wille, die radikalsten Elemente der Bewegungen zu beseitigen, verhinderten zusammen jedoch die Möglichkeit eines transformativen politischen Wandels. Die Reflektion über die Strategie ist noch offen, ebenso wie das Nachdenken über die Idee der katalanischen Nationalität selbst. Nationale Identitäten sind nichts anderes als ein Ausdruck kollektiver Identifikation, die von einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt hervorgebracht wird. Sie existieren nicht immer, sie sind nicht ewig vorhanden und sie sind kein natürliches Phänomen. Der spanische Nationalismus hingegen sieht sich selbst in diesem Sinne. Als Nationalismus der unterdrückenden Nation hat er versucht, selbstverständlich zu werden und sich durchzusetzen. Im Gegensatz dazu begreifen die Katalan:innen die Differenz als »katalanisch sein«: Sie hat weder einen Anfang noch ein Ende, noch ist sie schriftlich oder katalogisiert. Es ist ein subjektives Element, offen für alle, die katalanisch sein möchten.
Zum Abschluss des ersten Panels sprach ein Delegierter des Kollektivs Walaboomuu über den volks- bzw. gesellschaftszentrierten Panafrikanismus und den Kampf der Oromo. Die Oromo seien ein agro-pastoralistisches Volk, das derzeit im äthiopischen Staat ansässig ist, wobei kulturelle und sprachliche Oromo-Gruppen auch im kenianischen Staat leben. Die Oromo seien ein kuschitisches Volk, das zur afroasiatischen Sprachgruppe gehört und das Afaan Oromo spricht. Historisch gesehen sei die Oromo Gesellschaft nach dem Gadaa-System organisiert gewesen, einem althergebrachten System der sozialen Demokratie, das auch Teil der alten kuschitischen Konföderation oder des Königreichs war. Es werde erzählt, dass das Gadaa-System mehr als 3500 Jahre alt sei. Der traditionelle spirituelle Glaube der Oromo sei Waaqeefata – ein monotheistisches Glaubenssystem, das den Glauben an einen Schöpfer mit der natürlichen Welt durch das Prinzip von Safuu, dem Moralkodex und der Philosophie der Oromo, verbinde. Unter der Gadaa seien die Oromo selbst eine demokratische konföderale Nation gewesen, die zwar ein symbolisches »Oberhaupt« der Gesellschaft, den Abba Muddaa, hatte, aber in verschiedenen, demokratisch regierten Gebieten in ganz Oromia lebte. In dieser Zeit hätten sich die Oromo mit ihrem Clan und den dazugehörigen Stammesverbänden identifiziert. Die nationale Identität der Oromo und die Praxis, die Oromo als nationale Einheit zu identifizieren, habe sich als Reaktion auf die abessinische1 Kolonisierung entwickelte. Die Oromo als nationale Identität habe in den 50er, 60er und 70er Jahren durch Volksbewegungen an Popularität gewonnen und sei durch die Gründung der ersten Avantgardeorganisation, der Oromo-Befreiungsfront (OLF, Oromo Liberation Front), gefestigt worden. Doch nach Unterdrückung, Kriminalisierung und Krieg wurde der Vorschlag zur Lösung der Situation aufgregriffen, einen volkszentrierten Panafrikanismus aufzubauen, der die demokratische Konföderation wiederbelebt, um die Zukunft der Oromo zu sichern. Bis heute seien die Oromo aus dem traditionellen panafrikanischen Diskurs ausgeklammert worden, der sich ausschließlich darauf stütze, dass die Identität der afrikanischen Völker in ihren jeweiligen Nationalstaaten liege. Das Beharren der Oromo, als demokratische Nation und nicht als Provinz ihres Kolonialherrn Äthiopien anerkannt zu werden, und ihre Selbstkritik an ihrem früheren reaktionären Streben nach Selbstbestimmung durch einen neuen Nationalstaat könnten den Weg für eine revolutionäre Einführung des Paradigmas des demokratischen Konföderalismus in der Region ebnen.
Zwischen der Macht des Volkes und liberaler Demokratie – Fallen und Notwendigkeiten im Kampf um Befreiung
Die verschiedenen Perspektiven zur Entwicklung der Selbstbestimmung von Nationen und Völkern zeigen nicht nur unterschiedliche Ansätze in verschiedenen Teilen der Welt, sondern machen auch deutlich, dass verschiedene Kämpfe mit der gleichen Gefahr des Rückfalls in eine etatistische2 oder reformistische Perspektive konfrontiert sind, die die sozialen Probleme nicht lösen kann. Aus diesem Grund zielte das zweite Panel darauf ab, die Fallstricke und Notwendigkeiten im Befreiungskampf zu erörtern und dabei die Widersprüche zwischen dem Aufbau der Macht des Volkes und der Teilnahme an der liberalen Demokratie zu berücksichtigen.
Der erste Vortrag wurde von Potere al Popolo (PaP) gehalten, einer politischen Basispartei in Italien, die sich auf ihre Beiträge im Bereich der gegenseitigen Hilfe und der Macht des Volkes konzentrierte. Der Beitrag begann mit einem Überblick über den sozialen und politischen Kontext in Italien, erläuterte die Familie als soziale Zelle, auf der jegliche Sozialhilfe basiert und beschrieb die Beziehung zwischen aufkommenden sozialen Bewegungen und neuen Wellen von Populismus und Faschismus in der politischen Atmosphäre zwischen 2009 und 2011. Anschließend wurde die Ausrichtung von PaP auf gegenseitige Hilfe als Antwort auf die soziale Zersplitterung erörtert, um aufzuzeigen, dass es möglich ist, die sozialen Bedürfnisse und das Leben anders zu organisieren. Um »die soziale Macht zu akkumulieren und sie in politische Macht umzuwandeln« hat PaP im Jahr 2015 begonnen, einen »institutionellen Raum« zu eröffnen. Die Wahlen 2018 haben nicht zum Einzug von Potere al Popolo ins Parlament geführt, was eine Selbstkritik auslöste, die von der Tatsache ausging, dass es unmöglich ist, sich einen revolutionären Prozess als etwas anderes vorzustellen, als eine Übertragung von Legitimität, die dem »Sozialismus von unten« den Vorrang gibt.
Anschließend erläuterte eine Vertreterin des Red Nacional del Comuneras (Nationales Netzwerks der Kommunen in Venezuela) ihre Sichtweise auf die liberale Demokratie, die Macht des Volkes bzw. der Gesellschaft und den Weg der direkten demokratischen Kommunen, wie sie in Venezuela praktiziert werden. Die Perspektive wurde deutlich erklärt: »Unsere Kommunen entstehen nicht in einem Prozess, in dem alle befreundet sind oder sich kennen und dann die Idee haben, etwas zu erschaffen – es ist so, dass Menschen aller politischen Richtungen und Hintergründe zusammenkommen, um etwas zu schaffen, weil es notwendig ist. […] Wir sind in unserer politischen Arbeit an einem Punkt angelangt, an dem wir beschlossen haben, eine Gesellschaft der Gemeinschaft ohne einen Staat aufzubauen.« Diese Perspektive eines radikalen, autonomen und von unten nach oben gerichteten Kommunalismus ist nicht ohne Widersprüche zu der Kommunistischen Partei und ganz allgemein zu dem Staat, vor allem jetzt, da die Linke im Land an der Macht ist, die dennoch versucht, diesen pluralen Erfahrungen ihre zentralistische Richtung aufzuzwingen, indem sie beispielsweise ein Ministerium speziell für die Kommunen einrichtet. Der Weg scheint also noch offen für kreative Lösungen, mit der Unterstützung internationaler Netzwerke und dem Austausch konkreter Erfahrungen.
Als nächstes sprach die Vertretung der Sudanesischen Kommunistischen Partei, ausgehend von der Geschichte der Kolonialisierung und Versklavung des sudanesischen Volkes. Als die Sudanes:innen gegen den britischen Kolonialismus kämpften, seien die Mittel der nationalen Befreiungsbewegung vielfältig gewesen und hätten bewaffneten Widerstand, Stammesaufstände, Streiks in den Städten, im Militär und in den Bildungseinrichtungen sowie literarische, kulturelle und politische Aktivitäten umfassten, die zur Gründung des Graduate Club und politischer Parteien führten. Die Gründung des Nationalstaates erfolgte jedoch nach dem Modell des Kolonisators. Mit der Oktoberrevolution von 1964 sei es gelungen, die Regierung zu stürzen, die der Westen zusammen mit einigen regionalen Akteuren zu flicken versucht hatte, und sie habe den sudanesischen Wunsch nach Freiheit, Demokratie und ziviler Herrschaft bewiesen. Die Bedeutung der Oktoberrevolution läge darin, dass sie zu einem anhaltenden Kampf des Volkes für die Wiederherstellung einer demokratischen zivilen Regierung im Sudan wurde, da sie die erste Revolution des Volkes in der Region war, die die Militärherrschaft stürzte. Trotz der Verschwörung des Imperialismus und der arabischen Reaktion gegen dieses Ziel hätten die Sudanes:innen mit der Revolution im Dezember 2019 ihre Ziele nicht nur in Bezug auf die Demokratie nach oben geschraubt, sondern auch das strategische Ziel in der Losung von Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit zusammengefasst. Die bürgerliche Herrschaft sei die Entscheidung des Volkes und die Revolutionscharta für die Volksmacht, sie bekräftige die Notwendigkeit eines radikalen, revolutionären Wandels, um die Ziele der Revolution zu erreichen, indem sie die Autorität der Massen bestätige, Gerechtigkeit anzustreben. Die Charta der Volksmacht zeichne sich dadurch aus, dass sie das Ergebnis ernsthafter und langer Diskussionen an der Basis unter Beteiligung der Massen sei. In dem Dokument wird der Aufbau der Basis als notwendige Grundlage für die Schaffung der Grundlagen eines partizipativen politischen Prozesses von der Basis aus betont, da diese Gemeinschaften ein echtes Interesse an der Verwirklichung der Ziele der Revolution hätten.
Die Konferenz erhielt auch eine Videobotschaft von Abahlali BaseMjondolo (AbM), einer sozialistischen Bewegung in Südafrika. Diese Bewegung wurde 2005 von Hüttenbewohner:innen gegründet, die es leid waren, von den Kräften des dortigen Systems zurückgewiesen zu werden. Die Menschen in Durban, die in verschiedenen Hütten leben, kamen zusammen, um zu diskutieren und Wege zu finden, wie sie sich gegen das System zur Wehr setzen können. Damals waren die Aktionen noch nicht formalisiert: Die einzige Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, bestand darin, durch Proteste oder Märsche auf die Straße zu gehen. Bei der Macht des Volkes geht es für die AbM nicht nur um die Anzahl der Menschen, die auf die Straße gehen, sondern um die Einbeziehung aller, unabhängig von Alter, Geschlecht, Status etc., die die Gesellschaft progressiv verändern und die Lebensbedingungen verbessern wollen. Die Macht des Volkes kommt für die AbM noch vor der Politik und beginnt damit, die materiellen Bedingungen der anderen zu erkennen, um für beide Seiten vorteilhafte Lösungen zu finden. AbM hat einen Zweigstellenrat, der von der Bevölkerung gewählt wird, einen Provinzrat, der von der Bevölkerung in den Zweigstellen gewählt wird, sowie einen Nationalrat, der von den Zweigstellen gewählt wird. Die Bewegung glaubt an ein von unten nach oben organisiertes System, bei dem die Basis Entscheidungen trifft und nichts ohne die Basis diskutiert wird. Daher wurde die Bewegung von der Basis aufgebaut. Für sie braucht es, um die Macht des Volkes und Demokratie aufzubauen, eine Anerkennung der Rechte aller Menschen und nationalen Gruppen auf Selbstbestimmung. Es sei notwendig, die Sprachen und fortschrittlichen Traditionen aller afrikanischen Völker und ihr Recht auf eine unabhängige Entwicklung ihrer Kultur zu respektieren. Ihre Strategie umfasse den Stolz darauf, Afrikaner:in zu sein, und die Anerkennung der fortschrittlichen Elemente im afrikanischen Nationalismus und in der Bewegung der Panafrikanischen Einheit. Nicht nur für die demokratische Revolution in Südafrika kämpften die Menschen des Landes sondern auch für die afrikanische Revolution als Ganzes, indem sie die Progressivität fördern, indem sie Nationalismus und Internationalismus als ihre Säulen begreifen.
Dieser Vortrag bildete den Abschluss des ersten, intensiven Konferenztages.
Vielfältige Workshops
Am Vormittag des zweiten Tages fanden fünf Workshops zu verschiedenen Themen statt, die darauf abzielten, das Verständnis dafür zu vertiefen, was für eine theoretische und praktische Erneuerung der Systemopposition erforderlich ist. Diese waren:
1. Geschichte und Widerstand: Die verborgenen Blüten der demokratischen Moderne (Initiative Geschichte und Widerstand)
2. Frauenbefreiung und demokratischer Sozialismus aus der Perspektive der Jineolojî (Jineolojî Komitee Europa)
3. Transnationaler Klassenkampf im 21. Jahrhundert (Transnational Social Strike Platform)
4. Demokratischer Jugendkonföderalismus: Die Jugend im Kampf gegen die kapitalistische Moderne (Youth Writing History)
5. Lokale Demokratie und mehr als menschliches Regieren (Vikalp Sangam aus Indien)
Die Diskussionen reichten von epistemologischen Problemen bei der historischen und sozialen Erforschung des »demokratischen Flusses«, der durch die gesellschaftliche Historie fließt, bis hin zur Notwendigkeit, unsere Auffassung von Wahrheit und Geschichte zu dekolonisieren und die patriarchalische Mentalität der Herrschaft überall zu überwinden. Die tägliche Praxis selbstverwalteter Dorfkonföderationen und die Kämpfe indigener Arbeiter:innen wurden diskutiert. Das Thema des Ursprungs der Kapitalakkumulation wurde erörtert und die gegenwärtige Phase von internationalen Konflikten als Beginn eines »Dritten Weltkrieges« wurde debattiert.
Der von der Jugend organisierte Workshop brachte seine Sichtweise über die Notwendigkeit einer Avantgarde der Jugend für revolutionäre Bewegungen ein, um patriarchalische und gerontokratische Formen der Unterdrückung und Herrschaft überwinden zu können.
Darüber hinaus gab es die Gelegenheit, mit einem Vertreter von Vikalp Sangam (Indien) eine ökologische Perspektive der Beziehungen zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Leben zu diskutieren, wobei der Schwerpunkt darauf lag, dass diese Beziehungen auf dieselbe demokratische Weise definiert werden sollten, wie wir auch unsere (menschlichen) Gemeinschaften organisieren wollen. Auf diese Weise könnten wir die Entfremdung von der Natur überwinden, die die vorherrschende Weltanschauung kennzeichnet und die die Grundlage für unsere Entfremdung von der Natur in der kapitalistischen Moderne bildet.
Aufbau der demokratischen Autonomie in Nordkurdistan – Erfahrungen und Reflektionen
Am Nachmittag des zweiten Tages fand eine Podiumsdiskussion über den Aufbau der demokratischen Autonomie in Nordkurdistan statt. Die kurdischen Referent:innen schilderten ausführlich, wie in Nordkurdistan Kommunen, Räte, Akademien und Kooperativen gegründet wurden und wie ein alternatives Gesellschaftssystem entstand. Heute habe der Türkische Staat den Prozess des Aufbaus von Kommunen, autonomen Institutionen und Kooperativen in Nordkurdistan weitgehend zerstört. Insbesondere habe der Staat das Instrument der Zwangsverwaltungen eingesetzt. Zum einen wurden die von der HDP gewählten Vertreter:innen abgesetzt und inhaftiert und zum anderen wurden sie durch türkische Staatsbeamt:innen ersetzt.
Die Idee des Sozialismus: Auf dem Weg zu einer Erneuerung
Am letzten Tag der Konferenz ging es darum, theoretische und organisatorische Perspektiven für den Widerstand und die Revolution im 21. Jahrhundert zu skizzieren. In Anlehnung an den Slogan der Frauenbewegung Kurdistans, »das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Frauenrevolution sein«, wurde das erste Panel mit einem Vortrag eines Mitglieds des Netzwerks »Women Weaving the Future« eröffnet.
Sie argumentierten, dass die wesentlichen Ziele der Frauenrevolution »die Überwindung der Klassengesellschaft, der auf Kriegen basierenden Gesellschaft, des Kolonialismus und des Imperialismus, die die Ursache dafür sind, der wirtschaftlich-kulturellen Rückständigkeit und der weit verbreiteten Ausbeutung« sind. Das vergangene Jahrzehnt sei geprägt von großen Frauenbewegungen in der ganzen Welt gewesen, von Argentinien bis Indien, von Kurdistan bis zum Sudan, vom transnationalen Streik bis zum Frauenwiderstand in Afghanistan und von der weltweiten Verbreitung der Philosophie »Jin, Jiyan Azadi«. All diese Beispiele des Kampfes zeigten uns das Jahrhundert, in dem wir lebten, und die Perspektiven, die wir verfolgen sollten, indem die internationalistischen Verbindungen zwischen den Frauenorganisationen gestärkt werden, um gegen die Mentalität der Herrschaft, gegen Hierarchien, aber auch gegen Zersplitterung und Isolation zu kämpfen. Die Perspektive eines Weltfrauenkonföderalismus sei der Horizont, in die die verschiedenen Formen des Kampfes und der Organisierung eingebracht werden könnten, die ihre Einheit in einem »Regenbogen der Vielfalt« finden könnten. »Wenn es Unzulänglichkeiten oder Fehler gibt, wird die Praxis ihre Antworten aufzeigen und hervorbringen. Was wir hier tun, ist nicht nur, das Problem in seinen weitesten Umrissen darzustellen, sondern auch zu versuchen, sich den grundlegenden Lösungen und Werkzeugen zu nähern«, erklärte sie. Mit dieser Perspektive sei die Frauenbefreiung eine der Säulen des neuen Verständnisses des demokratischen Sozialismus in der Befreiungsbewegung Kurdistans.
Ein Vertreter der Akademie der Demokratischen Moderne (ADM) hat das Sozialismusverständnis der kurdischen Freiheitsbewegung genauer umrissen:
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärte der Anführer des kurdischen Befreiungskampfes Abdullah Öcalan, dass »auf dem Sozialismus zu bestehen, bedeutet, auf dem Menschsein zu bestehen«. Einer der wichtigsten Kritikpunkte am Realsozialismus sei seine Unfähigkeit, die kapitalistische Moderne angemessen zu definieren und eine eigene Moderne als Alternative zu ihr zu entwickeln. Öcalan erklärte, die Analyse des Kapitalismus durch den Realsozialismus sei zu eng und einseitig. Der Realsozialismus analysiere vorallem die Dimension der Ausbeutung durch den Kapitalismus nur als das Gesetz des maximalen Profits. Dies sei eine wichtige Dimension der kapitalistischen Moderne, jedoch nicht die einzige. Die demokratische Moderne hingegen sei die Moderne des demokratischen Sozialismus. Kapitalismus und Sozialismus blieben abstrakte Begriffe und könnten sich nicht verwirklichen, wenn sie nicht im Kontext der Moderne betrachtet würden. Mit anderen Worten: Der Bereich, in dem die demokratisch-sozialistische Ideologie Gestalt annehme, sei die demokratische Moderne mit ihren drei Dimensionen der radikalen Demokratie, der Frauenbefreiung und der Ökologie. Wenn sie von demokratischer Moderne sprächen, dann verwendeten sie diesen Begriff nicht anstelle des demokratischen Sozialismus. Die demokratische Moderne und der demokratische Sozialismus seien miteinander verwoben. Der demokratische Sozialismus werde durch die demokratische Moderne mit Leben gefüllt und durch sie zur Praxis. Die demokratische Moderne ermögliche die Verwirklichung des demokratischen Sozialismus. Wenn in diesem Rahmen die Revolution nicht als ein spontanes Ereignis betrachtet werde, sondern als eine Veränderung der Mentalität und der materiellen Bedingungen – hervorgerufen durch eine bewusste und organisierte Kraft, die in allen Verhältnissen arbeite – dann brauchten alle Gesellschaften, alle unterdrückten Gruppen, insbesondere Frauen, Jugendliche und Arbeiter:innen eine revolutionäre Organisation.
Die Frage der Organisation von unten nach oben und des Internationalismus
Im letzten Panel »Die Frage der Organisation und des Internationalismus« wurden Erfahrungen aus Indien, Kolumbien, den Philippinen und Kurdistan ausgetauscht.
Der Vertreter der Nationalen Demokratischen Front der Philippinen (NDFP) erläuterte, dass der bewaffnete Widerstand trotz 300 Jahren Kolonialisierung und brutaler Unterdrückung der revolutionären Bewegungen weitergehe. Trotz alledem gebe es derzeit in einem beträchtlichen Prozentsatz der Dörfer organisierte Komitees, die darauf abzielten, Bündnisse zwischen Arbeiter:innen und Bäuer:innen zu schließen. In den Worten des Vertreters: »Es handelt sich um eine demokratische Revolution, weil sie in erster Linie den Kampf der Bäuer:innen um Land gegen den einheimischen Feudalismus erfüllen will und darüber hinaus die demokratischen Rechte der breiten Volksmassen gegen den Faschismus verteidigen will.« Er betonte auch die internationale Dimension des Freiheitskampfes auf den Philippinen mit den Worten: »Die Unterstützung der Kämpfe anderer Völker gegen den Imperialismus ist auch eine Erfüllung unserer internationalistischen Pflicht (…). Inmitten der heutigen Krise des Imperialismus und der imperialistischen Angriffskriege halte ich es für zwingend notwendig, dass unter revolutionären und antiimperialistischen Kräften ein gemeinsames Verständnis darüber geschaffen wird, wer unsere Feinde und wer unsere Freund:innen sind. Dies wird als Grundlage für ein gemeinsames Vorgehen gegen den Imperialismus dienen.«
Die kolumbianische Vertreterin des Congreso de los Pueblos (Kongress der Völker) teilte mit, dass es in Abya Yala 5,7 Millionen Indigene gibt, die zu 800 indigenen Völkern gehören, sowie Völker afro-diasporischer Herkunft. Die Politik des Nationalstaates homogenisiere die Gesellschaften und führe einen ständigen Kampf gegen diese polyethnische und polykulturelle Gesellschaft. Deshalb sei es wichtig, die »Kosmologien« der Gemeinschaften und ihre Formen der Selbstproduktion, der Organisation und des Schutzes wahrzunehmen und zu verstehen. Das Konzept »poder popular« (span. für Macht des Volkes) basiere auf der Idee, dass sich die Arbeiterklasse und die Basis organisieren und mobilisieren sollten, um die Gesellschaft zu verändern und ein gerechteres System aufzubauen. Ihre Praxis ziele auf den Aufbau einer selbstorganisierten Wirtschaft (z. B. Kooperativen), digitaler Souveränität, alternativer Kommunikationsnetze (vor allem Radio), künstlerischer und kultureller Netze und politischer Bildung (Volksuniversitäten). Die Strategie der bäuerlichen Selbstverwaltung beinhalte die Bildung von unbewaffneten Selbstverteidigungskräften, die sich aus Delegierten der lokalen Vereinigungen zusammensetzen. Die Referentin definierte das Konzept der »poder popular« wie folgt: »Ende des letzten Jahrhunderts sind einige Teile der Linken von der Idee der Machtübernahme zur Idee des Aufbaus einer Volksmacht übergegangen. Volksmacht ist in der lateinamerikanischen Linken ein zentrales Konzept, das sich auf die aktive und direkte Beteiligung des Volkes an politischen und sozialen Entscheidungen bezieht. Dieses Konzept wurde vor allem vom Marxismus gefördert, einer ideologischen Strömung, die mehrere revolutionäre Bewegungen in Lateinamerika beeinflusst hat. Es handelt sich keineswegs um eine geschlossene Ideologie, sondern vielmehr um ein offenes Konzept für die Bewegungen, das sich auf ihre revolutionäre Strategie bezieht«. Die Bedeutung des Dialogs zwischen verschiedenen Konzepten wurde ebenfalls diskutiert. Auch wenn es unterschiedliche Ansätze gebe, solle man sich auf die Gemeinsamkeiten konzentrieren, um einen internationalen Kampf für Freiheit zu entwickeln: »Der demokratische Konföderalismus und die Volksmacht haben keine gemeinsame Analyse des Staates, aber sie haben gemeinsame Praktiken. Beide versuchen, der Gesellschaft einen Raum der Selbstverwaltung zu eröffnen, damit sie kollektiv ihre Fähigkeit zurückgewinnen kann, auf ihre eigenen Bedürfnisse zu reagieren. Über die Unterschiede hinaus kann ein Dialog der Praxis den globalen Kampf für Freiheit stärken.«
Die Delegierten aus Südafrika und Indien stellten die Global Tapestry of Alternatives (GTA) vor. Dabei handelt es sich nicht um eine Organisation, sondern um einen Prozess des Zusammenwirkens dezentraler Bewegungen. Ziel sei es, Räume für Zusammenarbeit, Lernen und Austausch zu schaffen, Alternativen sichtbar zu machen und Solidarität anzubieten. Die Organsation werde von mehr als 75 Netzwerken, Bewegungen und Organisationen unterstützt. »Wir müssen sowohl Widerstand gegen das derzeitige kapitalistische, patriarchalische und rassistische System leisten als auch echte Utopien und transformative Alternativen (wieder)erschaffen«, sagte der GTA-Vertreter. Es wurde auch genauer diskutiert, was mit dem Begriff »Alternative« gemeint ist. Einerseits seien Alternativen solche, die die derzeit vorherrschenden Strukturen und Verhältnisse der Unterdrückung und Untragbarkeit (wie Patriarchat, Kapitalismus, Anthropozentrismus, Rassismus und Kastensystem) in Frage stellten. Und andererseits auch Wege zu direkten und radikalen Formen politischer und wirtschaftlicher Demokratie, lokaler Eigenständigkeit, sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit, kultureller und wissensbasierter Vielfalt und ökologischer Resilienz ebneten. Als notwendige Grundlage für den Internationalismus wurde die Bedeutung von Werten und einer Ethik der transformativen Alternativen hervorgehoben. Das Ziel dieses Prozesses müsse es sein, Erzählungen über radikale Alternativen zu synthetisieren, die sich gegenseitig ergänzen, aber auch konstruktiv herausfordern sowie ein plurales Denken und ein organisches Wachstum mit tiefem Respekt für die Vielfalt der Wege des Wissens, des Seins und des Handelns schaffen. Die GTA-Vertreter:innen erklärten in diesem Zusammenhang: »Auf der ganzen Welt gibt es große Möglichkeiten und Hoffnung. Die Menschen leisten Widerstand und schaffen gleichzeitig etwas«.
Fazit
Abschließend haben wir während der Konferenz einmal mehr gelernt, dass der Kampf für Freiheit weltweit ist und viele verschiedene Gesichter hat: In Kurdistan ist dies der Aufbau der demokratischen Autonomie und der demokratischen Nation; in anderen Teilen der Welt gibt es andere Ansätze, wie das Konzept des »nationalen Aufbaus« im Baskenland, »poder popular« in Teilen Lateinamerikas oder andere Ansätze für radikale Demokratie weltweit. Wenn wir erkennen, dass die Krise einen globalen, systemischen und strukturellen Charakter hat, erfordert der Ausweg auch globale, systemische und strukturelle Interventionen. Die Konferenz »The Art of Freedom« war ein wichtiger Schritt nach vorn beim Aufbau von solidarischen Beziehungen und Allianzen auf der Grundlage von Freiheit, Gleichheit und Demokratie, die lokale und zeitliche Grenzen überwinden. Gemeinsam freuen wir uns darauf, die politischen, intellektuellen und moralischen Aufgaben zu erfüllen, die notwendig sind, um den heutigen Kampf für Freiheit zu führen.
Zudem hat die Konferenz einen wichtigen kollektiven Raum geschaffen, um gemeinsame Herausforderungen zu identifizieren, Antworten zu finden, Fragen zu stellen und einen intellektuellen Austausch über Praxis und Konzepte zwischen verschiedenen Bewegungen zu ermöglichen. Die Aufgabe besteht nun darin, diesen Raum zu konsolidieren und zu erweitern. In diesen drei Tagen wurden die Stimmen der sozialen Kämpfe für Freiheit lauter und es wurde deutlich, dass eine andere Welt nicht nur möglich, sondern angesichts der globalen Situation auch dringend notwendig ist.
Die Akademie der Demokratischen Moderne wird die Beiträge der Konferenz im Jahr 2024 in einem Sammelband veröffentlichen.
Fußnoten
1 Laut Wikipedia: 980 v.u.Z. gegründetes Kaiserreich Äthiopiens, 1974 durch Militärrat abgelöst.
2 Basierend auf dem Staat und seinen Strukturen.
Kurdistan Report 233 | Mai / Juni 2024
Abdullah Öcalan
Eine illustrierte Biografie
Unter Verwendung autobiografischer Texte zeichnet die Graphic Novel das Leben des kurdischen Freiheitskämpfers Abdullah Öcalan von seinen Kindheits- und Jugend- tagen über seine Politisierung als Student und die Gründung der PKK bis zu den Gefängnisjahren auf der Insel İmrali nach.
Der in Kurdistan hochgeachtete Öcalan, der von seinen Anhänger:innen liebevoll »Apo« genannt wird, führte den kurdischen Freiheitskampf aktiv als Vorsitzender der PKK von deren Gründung 1978 bis zu seiner von der NATO orchestrierten Verschleppung und Inhaftierung im Jahr 1999 an. Seit 25 Jahren befindet er sich auf der Gefängnisinsel İmrali in Isolationshaft, wo er zahlreiche Bücher geschrieben hat, die weltweit Beachtung fanden. In der vorliegenden illustrierten Biografie, die anlässlich seines 75. Geburtstags erscheint, erfahren wir in Öcalans Worten, wie seine Kindheit im kurdischen Südosten der Türkei verlief und wie er Ende der 1960er-Jahre politisiert wurde. Anhand seiner Lebensgeschichte erfahren die Leser:innen von der brutalen Unterdrückung, die das kurdische Volk erlitten hat.
Das Buch geht auch auf die von Öcalan entwickelten, für den heutigen Kampf wesentlichen Theorien ein, wie das Primat der Frauenbefreiung und das Konzept des demokratischen Konföderalismus, und gibt schließlich einen Einblick in das beeindruckende radikaldemokratische Gesellschaftsprojekt in Rojava.
Sean Michael Wilson & Keko:
Abdullah Öcalan.
Eine illustrierte Biografie
18,00 Euro
Hrsg. in der International Initiative Edition
Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«
1. Auflage, März 2024
ISBN 978-3-89771-394-9
© UNRAST Verlag, Münster 2024
Kurdistan Report 233 | Mai / Juni 2024
Aktuelle politische Lage
Die Bedeutung der aktuellen Entwicklungen in Südkurdistan
Ferda Çetin, Journalist
Der globale Hegemonialkrieg, auch als Dritter Weltkrieg bezeichnet, findet in voller Intensität statt. Das Zentrum dieses Krieges liegt zweifellos in Kurdistan und dem gesamten Mittleren Osten. In Syrien und im Irak hat sich der Krieg verschärft; in Rojava und Südkurdistan hat er einen anderen Charakter angenommen.
Es handelt sich eher um einen ideologischen und systemischen Krieg als um einen Krieg um territoriale Herrschaft. Die USA, Großbritannien, Frankreich und die EU, sind mit den Kurd:innen in der Anti-IS-Koalition ein Bündnis eingegangen, zeigen auf politischer Ebene jedoch eine antikurdische Haltung. Die westlichen Staaten betrachten Öcalans demokratischen Konföderalismus als gefährlich und verwerflich. Öcalans Konföderalismus, der nicht etatistisch und machtorientiert ist, sondern auf Selbstverwaltung und Gesellschaftlichkeit basiert, wird als ein gefährliches System angesehen, das sich jenseits akzeptierter Kriterien der kapitalistischen Moderne bewegt.
Diese Gegnerschaft ist keine einfache gewöhnliche Ablehnung. Die UNO, die USA, Deutschland, Großbritannien und Frankreich, die mit Al-Qaida verhandeln und das Taliban-Regime in Afghanistan anerkennen, erkennen die kurdische Selbstverwaltung in Syrien politisch nicht an. Was noch schwerwiegender ist: sie unterstützen die Türkei in ihrem Krieg gegen Rojava. Die Öffnung des irakischen und syrischen Land- und Luftraums für die türkische Armee, die Bombardierung von ziviler Infrastruktur in Rojava auf Befehl des türkischen Außenministers Hakan Fidan und die systematische Bombardierung von Şengal und Mexmûr in Südkurdistan durch türkische Flugzeuge sind keine Angriffe, die die Türkei aus eigener Kraft durchführt. Es sind Angriffe, die mit Wissen und Billigung der UNO, der NATO, der USA, Großbritanniens und der Europäischen Union durchgeführt werden.
Dieser Krieg tritt nun in eine neue Phase ein
Die Besuche der türkischen Außen- und Verteidigungsminister sowie des Leiters des türkischen Geheimdienstes MİT in Bagdad und Hewlêr (arab. Erbil) in den letzten zwei Monaten sowie ein gemeinsames Treffen von Kommandeuren der türkischen Armee und der PDK1-Peşmerga in Behdînan2 deuten darauf hin, dass in naher Zukunft ein Angriff auf die Guerillagebiete erfolgen wird. Auch Äußerungen Erdoğans und des türkischen Verteidigungsministers offenbaren Hinweise auf einen Angriff der Türkei auf Südkurdistan und Rojava in naher Zukunft. Nach den Verhandlungen wurde bekannt, dass auch der irakische Staat einer solchen Operation zugestimmt hat. Erdoğans Besuch in Bagdad im April wird vermutlich im Rahmen der letzten Vorbereitungen für einen möglichen Angriff stattfinden.
Der irakische Staat und die derzeitige Regierung sind jedoch nicht monolithisch und einheitlich. Die Regierung in Bagdad hält ein Gleichgewicht zwischen dem von den USA und Großbritannien beeinflussten Flügel und den vom Iran kontrollierten Teilen der irakischen Politik; aber es gibt auch lokale Kräfte, Politiker:innen, Sektenanführer und Gruppen, die dieses Gleichgewicht beeinflussen. Es heißt, dass Nouri al-Maliki, der Anführer der sogenannten »Rechtsstaat-Allianz«, Hadi Amiri, der Anführer der [irakischen] Fatah, und Qays Xezali, der Anführer der Asaibu Ahlil Haq-Miliz seien gegen die türkische Besetzung des irakischen Territoriums und eine neue Operation. Es ist jedoch bemerkenswert, dass diese Akteure und viele andere Gegner der Türkei, die in der irakischen Politik einflussreich sind, nicht auf die Bekanntmachung eines Übereinkommens durch Hakan Fidan nach dessen Besuch in Bagdad am 14. März 2024 reagiert haben. Trotz ihrer Widersprüche haben die beiden Flügel, die sich die Macht im Irak teilen, keine ernsthafte Reaktion auf das Abkommen der Türkei mit dem Irak gezeigt.
Diplomatische Kriegsvorbereitungen
Die zunehmenden diplomatischen Gespräche auf hoher Ebene zwischen dem Irak und der Türkei, das Projekt der »Entwicklungsroute« (Iraq Development Road Project), das Verbot der PKK durch die irakische Nationale Sicherheitsbehörde erfolgen auf Wunsch und mit Zustimmung des Iran und der USA; und der Iran, der mit den USA um Einfluss im Irak und in Syrien ringt, hat derzeit keine Einwände gegen die Kooperationsabkommen der Türkei mit dem Irak.
Während des Besuchs des iranischen Präsidenten Ibrahim Raisi in Ankara am 24. Januar 2024 wurden Themen wie die Festlegung einer gemeinsamen Politik in Syrien, die Stationierung der irakischen Armee in den Medya-Verteidigungsgebieten unter dem Deckmantel der »Sicherheit der irakischen Grenze« und die Realisierung des Projekts »Entwicklungsroute« zwischen der Türkei und dem Irak besprochen und miteinander abgestimmt.
Die vom Irak und der Türkei gemeinsam geplante »Entwicklungsroute« ist im Wesentlichen – wie auch der neue Wirtschaftskorridor (IMEC), der auf dem G20-Gipfel in Neu-Delhi am 9. und 10. September 2023 vereinbart wurde – ein amerikanisch-europäisches Projekt, allerdings in kleinerem Maßstab. Das IMEC-Projekt, das einer Route Indien-Vereinigte Arabische Emirate-Saudi-Arabien-Jordanien-Israel-Zypern-Europa folgen soll, ist ein wichtiges Projekt des Westens, denn es ist seine Antwort auf Chinas Projekt der »Neuen Seidenstraße« und sichert ihm eine Einflusssphäre. Das wichtigste strategische Ziel dieses neuen Wirtschaftskorridors ist, neben den wirtschaftlichen Interessen, die Entwicklung des China-Russland-Iran-Blocks zu verhindern und dessen Einflusssphäre zu begrenzen. Die Route des IMEC-Projekts lässt Pakistan, Iran, die Türkei und den Irak außen vor. Darum hat sich der türkische Staat entschieden gegen diese neue Alternativroute zwischen Indien und Europa ausgesprochen, und Tayyip Erdoğan hat das Projekt für inakzeptabel erklärt. Auch der Angriff der Hamas auf Israel soll von der Türkei geplant worden sein, um dieses Projekt zu verhindern, darauf gibt es zahlreiche Hinweise.
Es steht nicht im Widerspruch zur bisherigen Politik der USA (und Großbritanniens), dass sie als eigentliche treibende Kraft des IMEC-Projekts eine »Entwicklungsroute« zwischen der Türkei und dem Irak entwickeln. Während die USA die Annäherung ihrer wichtigen regionalen Partner Irak und Türkei fördern, kalkulieren sie, dass der iranische Einfluss in dem Maße zurückgedrängt wird, wie sich die türkisch-irakischen Beziehungen entwickeln. Die Besetzung irakischen Territoriums durch die Türkei und die Errichtung von 87 Militärbasen, die rücksichtslose Nutzung des irakischen Bodens und Luftraums, die täglichen Massaker an der Zivilbevölkerung durch die Bombardierung der Dörfer in Südkurdistan, Şengal und Mexmûr sowie der Guerillagebiete geschehen, wie schon gesagt, nicht aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln, sondern mit Billigung und Unterstützung der USA, der EU und der UNO. Der Hauptgrund, warum die Türkei und die AKP/MHP-Regierung ohne weiteres so skrupellos sein können, liegt darin, dass die Toleranz des Westens gegenüber dem NATO-Mitglied Türkei in direktem Zusammenhang mit dem Projekt der »Entwicklungsroute« steht. Die USA und die NATO ziehen deutlich den türkischen Einfluss im Irak und in Syrien der Verbreitung von Öcalans Idee des demokratischen Konföderalismus und dem Einfluss der PKK im Mittleren Osten vor.
Sowohl die USA als auch der Iran sind Partner des türkischen Staates in Syrien und im Irak. Beide verfolgen die Strategie, die Türkei auf ihrer Seite zu halten und im Gegenzug die Angriffe auf das kurdische Volk und seine politischen Vertreter:innen zu dulden. Dieser scheinbare Widerspruch ist charakteristisch für den Dritten Weltkrieg. Die gegnerischen Kräfte bekämpfen sich nicht an der Front, sondern gehen zeitweilige Bündnisse ein, wenn es ihren Interessen dient. All diese Bedingungen erlauben es der Türkei jedoch nicht, in Syrien und im Irak zu tun, was sie will. Im Gegenteil, im Mittleren Osten und im arabischen Raum gab und gibt es eine große Unzufriedenheit mit dem Osmanischen Reich und seiner Nachfolgerin, der Türkischen Republik. Die Idee der strategischen Rivalität ist sehr lebendig. Es ist für die Türkei nicht möglich, eine ähnliche De-facto-Situation wie auf Zypern zu schaffen, indem sie ihre Besetzung Syriens und des Irak als vollendete Tatsache betrachtet und im Laufe der Zeit ausweitet. Das liegt daran, dass die Überzeugungen, Traditionen und die politische Ausrichtung der nahöstlichen Gesellschaft von einer Soziologie genährt werden, die Viktimisierung, Ungerechtigkeit und Tyrannei nicht akzeptiert wie die zypriotische Gesellschaft, sondern Wut und Rachegefühle am Leben erhält. So wie diese historische Tradition und soziologische Wahrheit ein entscheidender Faktor für den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches war, so ist sie auch nicht gleichgültig gegenüber der neo-osmanischen Politik der Erdoğan-Diktatur.
Kollaboration der PDK und des Barzanî-Clans
Die PDK und die Familie Barzanî spielen eine aktive Rolle als lokaler Faktor bei der Ausweitung des türkischen Einflusses im Mittleren Osten und der türkischen Besatzung im Irak und in Syrien. Die türkischen Behörden erklären inzwischen offen, dass sie in allen Angelegenheiten mit der PDK und der Barzanî-Familie zusammenarbeiten. Diese offene Kooperation stößt jedoch in der südkurdischen Gesellschaft und bei den politischen Parteien auf große Ablehnung. Die schwere Niederlage der PDK bei den letzten irakischen Wahlen ist ein Ausdruck der gesellschaftlichen Reaktion. Die Entscheidung des irakischen Bundesgerichts vom 20. Februar, die Quote von 11 Abgeordneten, die zuvor ein Monopol der Barzanîs war, als verfassungswidrig aufzuheben und der darauffolgende Boykott der Regionalwahlen durch die PDK haben die politische und wirtschaftliche Krise der Partei weiter vertieft. Die Herrschaft der PDK, die seit ihrer Gründung das Parlament und die Autonomieregierung Südkurdistans nach Belieben missbraucht, wird von der Gesellschaft, der YNK3 und der Verwaltung in Bagdad nicht akzeptiert. Die PDK ist sich bewusst, dass sie bei einer Wahl, die unter freien und fairen Bedingungen stattfände, in die Minderheit geraten würde und vermeidet daher die Teilnahme an den Wahlen.
Derzeit tagt das Parlament von Südkurdistan nicht, seine Aktivitäten wurden ausgesetzt. Daher gibt es auch keine Regierung, die vom Parlament kontrolliert werden könnte. In Südkurdistan unterliegen das Präsidentenamt, das Premierministerium, die Leitung des Geheimdienstes und das Militär nicht der klassischen Funktionsweise eines Staates, sondern wurden in Privatbesitz umgewandelt, den die Familie Barzanî unter sich aufteilt. Der Barzanî-Clan, der auf solch ein Niveau heruntergekommen ist und in den Augen der Gesellschaft an Ansehen verloren hat, stellt Familieninteressen, Privateigentum, Geld und Handel über alle heiligen Dinge und versucht, seine Macht auf Kosten der kurdischen Kultur und Kurdistans aufrechtzuerhalten.
Die tiefe politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Krise der PDK vollzieht sich trotz der gemeinsamen Unterstützung durch die USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und die Türkische Republik. Die Schwächung und der Niedergang der PDK bedeutet eindeutig auch eine Schwächung der Türkischen Republik und der Erdoğan-Diktatur. Die Kollaboration der PDK, die die Weltmächte und Regionalstaaten zum Vertreter und Ansprechpartner des kurdischen Volkes machen wollten, ist gescheitert. Dieser Situation ist sich der türkische Staat bewusst. Deshalb versucht er, die Regierungen in Bagdad und Silêmanî4 so weit wie möglich zur Zusammenarbeit zu bewegen, um die Isolation der PDK und der Barzanîs zu durchbrechen. Tayyip Erdoğan und Hakan Fidan drohen der YNK-Führung ganz direkt. Die Türkei blockiert Flüge zum Flughafen Silêmanî und setzt ihre Politik fort, die YNK mithilfe von Morden durch MİT-Agenten in Silêmanî auf PDK-Linie zu bringen.
Gegenüber der Regierung in Bagdad verfolgt der türkische Staat eine sanftere Überzeugungspolitik. Themen wie die »Entwicklungsroute«, die Energie- und Ölpartnerschaft, die gemeinsame Nutzung der Wasserressourcen auf türkischem Territorium durch beide Länder werden genutzt, um die Liquidierung der PKK und die türkische Besetzung irakischen Territoriums zu legitimieren.
Wachsender Widerstand
Während der türkische Staat diese Initiativen fortsetzt, führt die PKK-Guerilla seit November revolutionäre Operationen in den Medya-Verteidigungsgebieten durch und fügt der türkischen Armee schwere Verluste zu. Diese Nachrichten, die die türkische Armee und die türkischen Medien zu verschleiern versuchen, erreichen die Öffentlichkeit durch Videos und Fotos, die von Gerîla TV und den kurdischen Medien veröffentlicht werden. In der Erklärung von Murat Karayılan vor den Newroz-Feierlichkeiten hieß es, die Guerilla verfüge nun über ein System zur Neutralisierung von UCAVs5 (bewaffnete unbemannte Luftfahrzeuge) und anderen Drohnen, mit dessen Hilfe seit dem 13. Februar fünfzehn Kampfdrohnen abgeschossen worden seien. Mit der Nachricht wurden auch Bilder der abgeschossenen UCAVs veröffentlicht. Das Ausbleiben einer Reaktion seitens der türkischen Regierung, des türkischen Militärs und der türkischen Medien hängt mit den Auswirkungen dieser neuen Entwicklung zusammen. Im Rahmen der Kampagne für die Freiheit Abdullah Öcalans fanden die Demonstrationen am 15. Februar in den vier Teilen Kurdistans und in Europa, die von Frauen angeführten Demonstrationen am 8. März und die Newroz-Feiern mit größerer Beteiligung als in den Vorjahren statt.
Das kurdische Volk hat mit diesen demokratischen Protesten eine kollektive und offene Willenserklärung abgegeben; es hat sich erneut zu Öcalan, der PKK und der Guerilla bekannt. Angesichts dieser Willensbekundung sollten vor allem die UNO, die USA, Großbritannien und die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Respekt zeigen; sie sollten die Sprache, die Kultur, den Willen zur Selbstverwaltung und das Recht auf ein freies Leben des kurdischen Volkes nicht ihren wirtschaftlichen und politischen Interessen opfern.
Fußnoten
1 PDK - Partiya Demokrata Kurdistanê, Demokratische Partei Kurdistans, auf Deutsch häufig KDP abgekürzt
2 Region in Südkurdistan / Nordirak
3 YNK – Yekîtiya Nîştimanî ya Kurdistanê, Patriotische Union Kurdistans, auf Deutsch häufig PUK abgekürzt
4 Silêmanî (arab. Sulaimaniya) gilt als »Hauptstadt« der von der YNK verwalteten Gebiete in Südkurdistan.
5 »Unmanned Combat Aerial Vehicle«, umgangssprachlich Kampfdrohne
Kurdistan Report 233 | Mai / Juni 2024
Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage
Die gesellschaftliche Frage1
Abdullah Öcalan
Der erste Teil des Textes ist im Kurdistan Report 232 abgedruckt².
2. Das gesellschaftliche Problem von Moral und Politik
Die Nachteile, die sich durch die Aufteilung des gesellschaftlichen Problems in einzelne Probleme ergeben, sind mir bekannt. Auch wenn diese Methode, die die eurozentrische Wissenschaft entwickelte, indem sie der analytischen Intelligenz keine Grenzen setzte, einige Errungenschaften aufzuweisen hat, lässt sich nicht leugnen, dass sie die Gefahr des Totalitätsverlustes der Wahrheit in sich birgt. Ihre Nachteile stets vor Augen und mir des Risikos, das gesellschaftliche Problem in einzelne ›Probleme‹ aufzuteilen, bewusst, werde ich diese Methode weiterhin anwenden. Später im Epistemologie-Teil werde ich andere Herangehensweisen diskutieren.
Nicht ohne Grund wurden im ersten Kapitel über die gesellschaftliche Frage Macht und Staat behandelt. Der Hauptgrund dafür ist, dass sie die Hauptquelle der Probleme bilden. Die Macht- und Staatsverhältnisse und -apparate, die mit ihrer ganzen Schwere über und – seit dem sechzehnten Jahrhundert – in der Gesellschaft wirksam wurden, haben im Wesentlichen die Funktion inne, die geschwächte und ihrer Selbstverteidigungsfähigkeit beraubte Gesellschaft für die Ausbeutung durch das Monopol vorzubereiten. Diese Definition von Macht und Staat ist von großer Bedeutung. Die Behauptung, Macht und Staat seien ausschließlich die Gesamtheit der Gewaltapparate und -verhältnisse, birgt eine ernsthafte Unzulänglichkeit in sich. Meines Erachtens ist es die wichtigste Rolle dieser Apparate, die Gesellschaft zu schwächen und ihrer Selbstverteidigungsfähigkeit zu berauben. Diese Rolle nehmen sie wahr, indem sie das ›Daseinsmittel‹ der Gesellschaft, d.h. ihr moralisches und politisches Gefüge, stetig schwächen und ihnen verunmöglichen, zu funktionieren und ihre Rolle zu spielen. Die Gesellschaft kann nicht weiterexistieren, ohne den Bereichen der Politik und Moral zur Existenz zu verhelfen.
Die grundsätzliche Rolle der Moral ist es, die Gesellschaft mit Regeln auszustatten, derer sie zum Weiterbestehen und Überleben bedarf, und ihr die Fähigkeit zu verleihen, diese umzusetzen. Eine Gesellschaft, die ihre Existenzregeln und die Fähigkeit, sie umzusetzen, eingebüßt hat, ist nichts als eine Tierherde und kann unter diesen Umständen einfach ausgenutzt und ausgebeutet werden. Die Rolle der Politik ist es, die für die Gesellschaft notwendigen moralischen Regeln zu bieten und zudem ständig die Mittel und Methoden zur Befriedigung der grundsätzlichen materiellen sowie geistigen Bedürfnisse der Gesellschaft zu diskutieren und zu entscheiden. Die Gesellschaftspolitik führt mit den auf dieser Grundlage entwickelten Diskussions- und Entscheidungsfähigkeiten zu einer lebhafteren und aufgeschlosseneren Gesellschaft und bildet den wesentlichsten Existenzbereich der Gesellschaft, der sie die Fähigkeit, sich selbst zu verwalten und ihre Angelegenheiten selbst zu lösen, verleiht. Die unpolitische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die einem enthaupteten Huhn ähnlich hin und her rennt, ehe ihr Tod eintritt. Der effektivste Weg, um eine Gesellschaft funktionsunfähig zu machen und zu schwächen, ist, sie der Politik (mit dem islamischen Ausdruck: der Scharia), also ihrer Gesellschaftlichkeit und der zur Befriedigung ihrer materiellen sowie geistigen Bedürfnisse notwendigen Diskussions- und Entscheidungsorgane, zu berauben. Kein anderer Weg kann für die Gesellschaft zu so großen Nachteilen führen.
Aus diesem Grund ersetzten die Macht- und Staatsapparate und -verhältnisse zunächst die gesellschaftliche Moral durch das ›Recht‹, ihre Politik durch ›Staatsverwaltung‹. Die Moral- und Politikfähigkeit der Gesellschaft, ihre beiden grundsätzlichen Daseinsstrategien, zu verhindern und sie durch das Recht und die Verwaltung der Herrschaft zu ersetzen, bilden jederzeit grundsätzliche Aufgaben von Macht und Staat. Wenn diese Aufgaben nicht erfüllt werden, können weder Kapitalakkumulation noch Ausbeutungsmonopole existieren. Jeder einzelne Moment der fünftausendjährigen Zivilisationsgeschichte ist voller Angriffe, die darauf abzielen, die Moral- und Politikfähigkeit der Gesellschaft zu brechen und sie durch das Recht und die Verwaltung der Kapitalmonopole zu ersetzen. So sieht die nackte Zivilisationsgeschichte mit ihren wahren Beweggründen aus und eine richtige Geschichtsschreibung ist nur möglich, wenn diesen Beachtung geschenkt wird. Im Kern aller gesellschaftlichen Kämpfe in der Geschichte steckt diese Tatsache. Soll die Gesellschaft gemäß ihrer eigenen Moral und Politik leben oder lässt man sie gemäß dem Recht und der Verwaltung der ungebändigten Ausbeutungsmonopole wie eine Tierherde vegetieren? Mit den Worten, die unfassbare ›krebsartige Vergrößerung‹ des Rechts und der Verwaltung von Macht und Staat stelle die Hauptursache der Probleme dar, möchte ich eben diese Tatsache ausdrücken.
Es gilt einen weiteren Aspekt zu erhellen. Wenn die Hierarchie zum ersten Mal etabliert wird und ›Erfahrung‹ und ›Expertise‹ gesellschaftliche Bedeutung erlangen, wird von ihnen – unabhängig davon, ob man sie Staat oder Autorität nennt – ein Nutzen erwartet. Dass die Gesellschaft den Staat und die Autorität (Macht) nicht als gänzlich negativ betrachtet, rührt von diesen Erwartungen her. Die Gesellschaft erwartet von der Macht und dem Staat Erfahrung und Expertise und bildet sich ein, dadurch werde sie sich ihre Angelegenheiten erleichtern. Die Gründe, aus denen sie die Existenz des Staates erträgt, sind diese beiden Faktoren. Erfahrung hat nicht jeder. Auch Expertise kommt nicht jedem zu. Der Staat und die Autorität, die im Laufe der Geschichte diese berechtigte Erwartung ausnutzten, verwandelten allerdings die Verwaltung in einen Bereich, in dem die inkompetentesten, unerfahrensten und jeglicher Expertise fernen Personen beschäftigt werden, in dem gefaulenzt wird, anstatt das Recht umzusetzen, intrigiert wird, anstatt erfahrungsbasiert zu arbeiten. Große Degenerationen und Katastrophen hängen eng mit diesen großen Abweichungen und Verkehrungen zusammen.
Dass die Bourgeoisie, die historisch vor allem einen Ausdruck der krebsartigen Entwicklung der Mittelklasse darstellte, sich mitten in der Gesellschaft, in ihrem ›Schoß‹, positionierte, ihre egoistischsten Interessen als ›Recht‹ und ihre äußerst degenerierte Verwaltung als ›konstitutionelle Regierung‹ präsentierte und aus diesem Grund die Macht und den Staat in unzählige ›Apparate‹ und angebliche Expertisefelder aufteilend vermehrte, war eine regelrechte Katastrophe. Die Gesellschaft kam vom Regen in die Traufe.
Die grenzenlosen Diskussionen des Liberalismus, dieser Finesse der Vernunft der Bourgeoisie, über Themen wie ›Republik‹, ›Demokratie‹, ›Verfassung‹, ›Verkleinerung der Verwaltung‹, ›Einschränkung von Macht und Staat‹ verschleiern nicht nur die Wahrheit, sondern sind zudem noch Träger von gegenteiligen Inhalten. Die Fähigkeit der Bourgeoisie, die Verfassung, Republik und Demokratie zu entwickeln, die Verwaltung zu verkleinern und die Macht und den Staat einzuschränken, ist nicht einmal so groß wie die der Mittelklasse in der Antike. Denn, was diese edlen Begriffe dysfunktionalisiert, ist die materielle Beschaffenheit der Mittelklasse, ihre Existenzweise. Wie soll die Gesellschaft, die im Altertum über sich einen König oder eine Dynastie mit Ach und Krach ertragen konnte, die grenzenlos gewordenen bürgerlichen Apparate und Dynastien ertragen können? Absichtlich verwende ich den Begriff ›bürgerliche Apparate und Dynastien‹. Denn beides teilt denselben Ursprung. Die Bourgeoisie übernahm ihre ganze Verwaltungs- und Regelungskunst von ihren Vorgängern, den großen aristokratischen und monarchischen Dynastien. Sie besitzt keine Fähigkeit zur Selbstschöpfung. Die krebserregende Auswirkung der Macht- und Staatsverhältnisse sind auf die Klassennatur der Bourgeoisie zurückzuführen. Die Natur der Mittelklasse ist faschismusgeladen.
Folglich gehört es zu den grundsätzlichsten Problemen, dass die Bourgeoisie die moralischen und politischen Gefüge der Gesellschaft verkrüppelt und dysfunktionalisiert. Zweifellos lassen sich die moralischen und politischen Gefüge und Bereiche nicht gänzlich vernichten. Solange die Gesellschaft existiert, werden auch Moral und Politik existieren. Da aber Macht und Staat aufhören, Expertise- und Erfahrungsfelder zu sein, können Moral und Politik nicht mehr ihre kreative und funktionale Fähigkeit wahrnehmen. Es ist offensichtlich, dass die Macht- und Staatsapparate und -verhältnisse (Medien, Nachrichtendienste und spezialisierte OperationstrupDer erste Teil des Textes ist im Kurdistan Report 232 abgedruckt².pen jeglicher Art, ideologische Lehren usw.) heute der Gesellschaft, die sie bis in ihre feinsten Poren durchdrungen haben, die Kehle abschnüren und sie in eine Lage versetzen, in der sie sich nicht mehr wiedererkennen, keine ihrer moralischen Prinzipien umsetzen, über ihre grundsätzlichsten Bedürfnisse weder politisch diskutieren noch Entscheidungen treffen (demokratische Politik) können. Dass die viel diskutierten und wahren herrschenden Mächte der Gegenwart, die ›globalen Konzerne‹, also die ewigen Monopole, den größten Kapitalboom der Geschichte in dieser Ära erzielten, hängt eng damit zusammen, dass die Gesellschaft in diese Lage versetzt wurde. Ohne den Verfall und die Zersplitterung der Gesellschaft könnte man auf virtuellem Wege, d. h. ohne jemals irgendein Produktionsmittel zu berühren, niemals aus Geld so viel mehr Geld machen. Die Gewinne der Monopole im Laufe der Geschichte und ihre gegenwärtig exorbitanten Gewinne, als wüchse Geld auf Bäumen, werden dadurch erzielt, dass Dasein und Gehirn der Gesellschaft leergefegt werden. Denn »Geld wächst nicht auf Bäumen!«
Ich muss wiederholen, dass nicht nur die grenzenlos vermehrten Macht- und Staatsapparate und -verhältnisse die Gesellschaft in diese Lage versetzen, sondern dass mithilfe der Medien, die eine zumindest genauso effektive Hauptquelle der Hegemonie darstellen, gleichzeitig die ideologische Eroberung der Gesellschaft vollzogen wird. Ohne sie durch die Ablenkung mittels Nationalismus, Religionismus, Sexismus, Szientismus und Artismus (die Industrialisierung der Kunst und insbesondere des Sports) zu verblöden, könnte weder alleine durch die Macht- und Staatsapparate und -verhältnisse ein derartiger gesellschaftlicher Verfall erzeugt werden, noch könnten die virtuellen globalen Konzerne (gemeint ist das Finanzkapital, das Geldkapital) und die historischen Monopole die Gesellschaft ihrer Gesellschaftlichkeit berauben und sie einer grenzenlosen Ausbeutung aussetzen, die einem Soziozid gleichkommt.
1 Aus: Soziologie der Freiheit (= Manifest der demokratischen Zivilisation, Band III). Münster 2020. S. 129-133.
2 https://kurdistan-report.de/index.php/archiv/2024/114-kr-232-maerz-april-2024/1558-die-gesellschaftliche-frage
Kurdistan Report 233 | Mai / Juni 2024
Der Kampf für die Freiheit von Abdullah Öcalan und von Nelson Mandela – ein Vergleich
Die Bedeutung internationalistischer Kämpfe
Sinan Önal, Politikwissenschaftler, Abgesandter des Kurdischen Nationalkongresses (KNK)
Die Freiheit von Abdullah Öcalan ist wichtig, denn sie symbolisiert das Selbstbestimmungsrecht der kurdischen Nation. Der Kampf für die Freiheit von Nelson Mandela in Südafrika hatte eine vergleichbare Bedeutung.
Der weltweite Internationalismus erlebt seit Oktober 2023 neuen Aktivismus. Das kurdische Volk und seine internationalen Freund:innen und Unterstützer:innen, derer wir viele durch ihren engagierten Einsatz für die Bürger- und Freiheitsrechte aller Unterdrückten weltweit kennen, fordern seit einem Vierteljahrhundert, seit 1999, lautstark die Freiheit für Öcalan, den inhaftierten kurdischen Vordenker, auf dem die Hoffnung der Kurd:innen auf Befreiung ruhen.
Mit Apellen, die mit den Aktivitäten des neu gegründeten globalen Aktionsnetzwerks »Freiheit für Öcalan und eine politische Lösung für die kurdische Frage«1, hören wir in den letzten 25 Jahren nicht zum ersten Mal die Forderung nach Öcalans Freiheit. Die beteiligten Aktivist:innen, Nichtregierungsorganisationen und politischen Parteien haben seit Jahren an Treffen teilgenommen, auf Podien gesessen und an Demonstrationen teilgenommen. Nach fünfundzwanzig Jahren unermüdlichen Kampfes, endloser juristischer Bemühungen und Kampagnen in der Türkei, in Europa und auf allen anderen Kontinenten und der immer schlimmer werdenden Unterdrückung des kurdischen Volkes durch das brutale Erdoğan-Regime in der Türkei ist sich dieses Netzwerk der internationalen Solidarität sehr bewusst, dass der Weg zur Freiheit lang ist und mit täglicher Planung und Umsetzung kreativer und aufrüttelnder Aktivitäten einhergehen muss.
Bekanntlich sind Öcalan und die Kurd:innen nicht die ersten, die diesen Weg gegangen sind, den der südafrikanische Sozialist, Nationalheld und Befreiungskämpfer Nelson Mandela den »langen Weg zur Freiheit« genannt hat. Weder Öcalan noch Mandela oder Sêrok Apo und Madiba, um ihre im Volk verwendeten Namen zu nennen, noch die anderen Persönlichkeiten nationaler Befreiungskämpfe waren jemals gänzlich allein. Dank der internationalen Solidarität, die den beiden Vorkämpfern von demokratischen Kreisen, Sozialist:innen, Gewerkschafter:innen, Feministinnen und anderen auf der ganzen Welt entgegengebracht wurde, blieben und bleiben sie mit einem globalen kämpfenden Netzwerk verbunden.
Haft und Widerstand
Mandela verbrachte 27 Jahre im Gefängnis; Öcalan hat nun sein eigenes Vierteljahrhundert der Inhaftierung unter auffallend ähnlich schlechten Umständen, bis hin zum »Incommunicado«-Foltersystem2 erlebt. Es ist die größte Grausamkeit, die in den letzten Jahrtausenden in der zivilisierten Welt an gefangenen Menschen verübt wurde.
Öcalan hat sich nur selten zu seinen Haftbedingungen geäußert. Im Dezember 2010 schrieb er in einem Brief an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) darüber, wie er sich gegen die Isolationshaft gewehrt und sie überlebt hat; es ist der letzte Brief, den die Gefängnisverwaltung von İmralı ihn hat verschicken lassen. Seitdem ist er unter strengsten Bedingungen in absoluter Isolation inhaftiert. »In all meinen bisherigen schriftlichen und mündlichen Beiträgen habe ich mein persönliches Leben im Gefängnis nur am Rande erwähnt. Abgesehen von allgemeinen Gesundheitsproblemen und dem Umgang mit der Gefängnisverwaltung habe ich nie erklärt, wie ich der Isolation widerstanden habe, die von diesem System speziell für mich vorbereitet und angewandt wurde, noch wie ich die Einsamkeit ertragen habe. Am interessantesten ist wohl, wie ich meine Lebenserfahrungen gegen diese absolute Einsamkeit und Stagnation eingesetzt habe.« Er fährt in demselben Brief damit fort, seine Bedingungen mit einem alten Beispiel von Gefangenschaft und Folter zu beschreiben, indem er seinen Willen, seine Hartnäckigkeit auf dem Weg zur Wahrheit, seine Widerstandsfähigkeit und seine anhaltenden Bemühungen gegen die Isolationshaft darstellt: »Mythologische Götter hätten wahrscheinlich keine so harte Strafe ersonnen, wie mich an die Felsen von İmralı zu ketten.« Er bewertet seine Situation als Gefangener und Geisel des türkischen Regimes als noch schlimmer als das Beispiel der in der Prometheus-Sage des antiken Griechenlands, nach der Zeus Prometheus zur Bestrafung an die Felsen des Kaukasus kettete. Und seiner Kraft zum Widerstand entsprechend richtet er seine unendlichen Bemühungen auf das »Sein und die Wahrheit«, um das Manifest der Freiheit für das kurdische Volk und die ganze Welt zu schreiben – eine Methode des Widerstands- und Überlebenskampfes gegen die Isolationsfolter.
Und in diesen beiden historischen Fällen, in Südafrika und Kurdistan, hat die Inhaftierung dieser herausragenden politischen Persönlichkeiten tiefgreifende Auswirkungen auf das rechtliche und politische Gefüge ihrer jeweiligen Länder gehabt. Wenn Öcalan also als der »Mandela des Mittleren Ostens« bezeichnet wird, ist das keine bloße Rhetorik. Vielmehr besteht eine tiefe Solidarität zwischen den beiden nationalen Befreiungskämpfen, die sich in ihren Kämpfen gegen Apartheid und Kolonialismus und in ihren Forderungen nach Befreiung, Demokratie, Vielfalt und Gerechtigkeit ähnlich sind. Ebenso besteht eine Ähnlichkeit in der Art und Weise, wie repressive Maßnahmen, die speziell auf die einzelnen Galionsfiguren im Zentrum des Kampfes zugeschnitten sind, dann zur Unterdrückung all derer eingesetzt werden, die für eine bessere Gesellschaft kämpfen. Und auch in der entscheidenden Rolle, die die internationale Solidarität dabei spielt, die Vordenker darin zu unterstützen, auf dem Pfad des Kampfes zu bleiben.3
1993, drei Jahre nach dem Ende seiner eigenen Inhaftierung, sprach Mandela auf der Internationalen Solidaritätskonferenz. Wir können uns nur vorstellen, welche Worte Öcalan an seine eigenen internationalen Freund:innen und Unterstützer:innen richten würde, wenn er heute frei wäre und sich dem weltweiten Freiheit-für-Öcalan-Netzwerk anschließen könnte4. Da Öcalan jedoch nach wie vor in Einzelhaft sitzt, und zwar unter extremen Bedingungen, die laut Mandelas Rechtsvertretung sogar die Haftbedingungen des südafrikanischen Politikers übertreffen5, möchte ich im Folgenden aus Mandelas Rede zitieren.
Internationale Solidarität
An sein eigenes Netz von internationalen Unterstützer:innen gewandt, sagte Mandela: »Ihr seid die Freund:innen aus fünf Kontinenten, die die Hoffnung am Leben erhalten haben. Ihr habt euch die Notlage unseres Volkes, unsere Hoffnungen, unsere Träume und unseren Kampf zu Herzen genommen und zu eurer eigenen Sache gemacht. Ihr habt Bande der Freundschaft geknüpft, die unzerstörbar sind. Ihr habt euch geweigert, die Welt die durch die Apartheid verursachte Tragödie ignorieren zu lassen.«6
Diese Worte zeigen, wie internationale Solidarität und Zusammenschlüsse wie das weltweite Netzwerk »Freiheit für Öcalan« dazu beitragen, die Hoffnung für all jene inhaftierten politischen Gefangenen aufrechtzuerhalten, die Nachrichten und Sonnenstrahlen nur in Bruchstücken von außen erhalten können. Sie zeigen, dass die internationalen Mächte, die die Türkei seit langem in ihrem brutalen Krieg gegen die Kurd:innen unterstützen, nicht in der Lage sind, die Bande der Solidarität zu durchtrennen oder Öcalan in der Stille seiner langjährigen Isolation verschwinden zu lassen. Diese Zusammenschlüsse helfen dem Inhaftierten, einen Fuß nach dem anderen auf den langen Weg in die Freiheit zu setzen, und sie helfen uns, die Verbindungen, Beziehungen und Plattformen aufzubauen, die so wichtig sind, um Öcalans Vision einer freien, demokratischen Gesellschaft in der Türkei, der gesamten Region des Mittleren Ostens und Nordafrikas und darüber hinaus voranzubringen. Von seiner Gefängniszelle aus inspiriert er weiterhin Bewegungen und historische Momente, die eine echte Veränderung der Welt bewirken.
Die Bedeutung von Öcalans Freiheit für den Freiheitskampf im Mittleren Osten und darüber hinaus
Öcalans Freiheit zu fordern bedeutet insofern, die Vorreiter:innenrolle von Frauen zu fordern, die direkte partizipative Demokratie auf der Grundlage von Volksversammlungen zu gewährleisten, Bildungseinrichtungen und Wissenschaft von den Ketten des Kapitalismus zu befreien, ein neues Bildungssystem auf der Grundlage freier Akademien aufzubauen, Machtstrukturen und Nationalstaaten in Frage zu stellen, neue alternative Lebens- und Existenzsysteme zu schaffen, den ›demokratischen Konföderalismus‹ und die ›demokratische Nation‹ zu verteidigen, seine brillanten Beiträge zum Kanon der Freiheits- und Befreiungsliteratur der Menschheitsgeschichte.
Wir erleben eine große Krise des kapitalistischen Weltsystems, insbesondere seit den letzten zehn Jahren. Der zunehmende und sich verschärfende Autoritarismus auf der Welt sowie der Monopolismus, der alles im Rahmen der Interessen der korporatistischen Wirtschaft sieht, machen das Leben unerträglich. Aus diesem Grund entstehen im Gegensatz dazu große internationale Antikriegs- und freiheitsuchende Volksbewegungen, die sehr wichtig sind und noch Menschlichkeit zeigen.
Die weltweite Kampagne für die Freiheit Öcalans wird zunehmend zu einer der populärsten von all diesen basisdemokratischen, nach dem Graswurzelprinzip ausgerichteten, globalen Aktivismen. Denn die Freiheit Öcalans wird das Ende der vier großen autoritären Regime bedeuten, die ihm zufolge gemeinsam die Sackgasse des Israel-Palästina-Konflikts bedingen7. Wir haben im letzten Jahr den Jin Jiyan Azadî-Aufstand im Iran gesehen, wir sehen den großen Widerstand gegen den Baathismus und gegen den Dschihadismus in Rojava, im Norden und Osten Syriens, wir sehen den Kampf gegen die Gründerideologie des Kemalismus und gegen die neoliberale autoritäre AKP und Erdoğan in der Türkei, und wir sehen, wie der Kampf in Südkurdistan gegen die nepotistischen und korrupten Regierungen geführt wird. Es ist Öcalan selbst, seine Bücher, sein entschlossener Kampf, die den verschiedenen Gemeinschaften Kurdistans die Entschlossenheit und den Willen für all diese Kämpfe geben. Deshalb ist es nicht nur für die Kurd:innen, sondern für die ganze Welt wichtig, seine Freiheit zu fordern.
Hoffnung!
Es ist wichtig, dass die ganze Welt seine Freiheit fordert, denn was dieses System, in dem wir leben, vergessen machen will, ist die Hoffnung. Keine Hoffnung! Was wir an Öcalan sehen, ist die Tatsache, dass es Hoffnung gibt. Hoffnung besteht in dem Maß, in dem man kämpft, Hoffnung besteht in dem Maß, in dem man seine tägliche Existenz auf der Grundlage der Freiheit verwirklicht. Hoffnung gibt es nur, wenn wir das kollektiv, international, auf globaler Ebene umsetzen. Und sein Paradigma gibt uns Hoffnung. Wir sehen es in Rojava, in Syrien, in Nordkurdistan, in der Türkei, in Rojhilat, im Iran, in Başur, im Irak, überall dort, wo die kurdische Diaspora heute über die ganze Welt verstreut ist, und im Widerstand der Völker zusammen mit dem gesamten weltweiten Internationalismus. Adorno, der bahnbrechende Sozialwissenschaftler der Frankfurter Schule, stellte einmal die Frage, ob es ein richtiges Leben im falschen geben könne. Ja, im »falschen Leben« kann richtig gelebt werden: durch Kampf, Widerstand und Internationalismus. Dies ist die Antwort auf diese verblüffende Frage, die Öcalan in seinen zehntausend Seiten langen, im Gefängnis verfassten Manuskripten gibt.
Um auf den Vergleich zwischen Mandela und Öcalan zurückzukommen – niemand kann wissen, was die Zukunft bringt: Wir wissen nicht, wann der Tag kommen wird, an dem Öcalan freigelassen wird und seine Vision einer besseren Gesellschaft einen weiteren Sprung nach vorne macht. Deshalb kämpft das globale Kampagnennetzwerk weiter an allen Fronten, sucht nach Rechtsmitteln, fordert politischen Druck und ruft zu Protesten auf. All dies ist auf die Unterstützung internationaler Aktivist:innen und Organisationen angewiesen, und sie alle können dazu beitragen, Öcalans persönliche Freiheit zu erreichen.
Hier geht es um Öcalans persönliche Freiheit, denn politisch sind seine Ideen nach wie vor frei, reisen um die Welt und inspirieren Menschen auf fünf Kontinenten. Der Türkei ist es nicht gelungen, seine Stimme hinter den Gefängnismauern zum Schweigen zu bringen. Aber auch wenn Öcalans Ideen mehr Menschen als je zuvor inspirieren, ist das kurdische Volk ernsthaften, existenziellen Bedrohungen ausgesetzt, und seine demokratische Vision stößt auf gewaltsamen Widerstand. Auch hier muss die internationale Bewegung ihren Teil dazu beitragen, diese Bewegung am Leben zu erhalten. Aber wir müssen auch weiter zusammenarbeiten, um Öcalan selbst zu befreien. Nicht nur wegen der unmenschlichen Folter, unter der er leidet, sondern auch, weil seine Befreiung einen wahrhaft großen Schritt auf dem langen Weg zu Freiheit und Befreiung bedeuten würde. Es ist ein Weg, den wir alle gemeinsam gehen müssen, in internationaler Solidarität und unablässig organisiertem politischem Aktivismus.
Den Weg der Freiheit weitergehen
Ich möchte an ein Zitat von Mandela erinnern, dass er nach seiner eigenen Befreiung in seiner Biografie niederschrieb: »Ich bin den langen Weg zur Freiheit gegangen. […] Ich habe das Geheimnis entdeckt, dass man nach dem Erklimmen eines großen Berges feststellen muss, dass es noch viele weitere Berge zu erklimmen gibt. Ich habe hier einen Moment inne gehalten, um mich auszuruhen, um einen Blick auf die herrliche Aussicht zu werfen, die mich umgibt, um auf den Weg zurückzublicken, den ich zurückgelegt habe. Aber ich kann nur kurz rasten, denn mit der Freiheit kommt die Verantwortung, und ich wage es nicht, zu verweilen, denn mein langer Weg ist noch nicht zu Ende.«8
Beim Kampf um Öcalans Freiheit geht es nicht nur um die Freilassung eines Mannes aus dem Gefängnis: Sie ist nur ein Hügel unter vielen auf dem langen Weg in die Freiheit, der zu bewältigen ist. Die Bewegung, die Öcalan von seiner Gefängniszelle aus anführt, hat bereits bemerkenswerte Siege und Triumphe errungen. Auch er muss eines Tages in der Lage sein, diese Triumphe aus der Perspektive der Freiheit zu betrachten und gleichzeitig in eine bessere Zukunft für Kurdistan zu blicken. Um dies zu erreichen, bedarf es der unermüdlichen internationalen Solidarität und des Kampfes, während wir an der Seite eines Mannes stehen, der alles für eine bessere Welt gegeben hat.
Abschließend ist festzuhalten, wie wertvoll das Potenzial eines solchen Netzwerkes und einer solchen Kampagne ist, nämlich ein großes Bewusstsein dafür zu schaffen, die Türkei vor Schlimmerem zu bewahren und die gesamte Opposition zum Aufbau einer Friedensbewegung zu inspirieren, um so einen demokratischen Wandel in der Türkei zu ermöglichen, so wie in Südafrika. Schließen möchte ich mit einem letzten Zitat von Öcalan, einem kurzen Gedicht, das er in seiner Zelle im İmralı-Gefängnis über Derweş und Edûlê schrieb. Dieses Gedicht basiert auf einer großen Heldensage und ist ein Aufruf an uns, diese in unserer Bewegung neu zu denken und zu aktualisieren. In der Tat ist es ein Aufruf zu internationalem gemeinschaftlichen Handeln:9
Ich wünschte, ich wäre mit Derwêşê Evdî
im Şengal-Gebirge!
Dass ich mich in die Mosul-Ebene stürze
auf dem Rücken von weißen Pferden!
Dass ich Derweş auf meine Schulter nahm
als er erschossen wurde
in die Berge Kurdistans!
Ich wünschte, ich hätte ihm gesagt: »Schau!
Edûlê ist hier zu Tausenden
Die Zwölf sind zu Tausenden hier!
Ruh dich aus auf diesen Bergen.
wo die Throne der Göttinnen stehen!«
Der Tod ...
Woher er auch kommt ...
und wie auch immer er kommt
Trauere nicht mehr!
Bewusstes Kurdentum und das freie Leben
Sie sind die ewige Wahrheit, ich wünschte, ich hätte es gesagt!
Fußnoten
1 https://medyanews.net/international-campaign-for-ocalans-freedom-launches-with-74-press-conferences-worldwide/
2 https://www.un.org/en/un-chronicle/nelson-mandela-rules-protecting-rights-persons-deprived-liberty
3 https://newint.org/features/2020/06/11/mandela-middle-east
6 http://www.mandela.gov.za/mandela_speeches/1993/930219_solidarity.htm
7 https://medyanews.net/ocalans-vision-for-lasting-peace-in-middle-east/
8 https://platformonline.uk/posts/what-the-world-reaction-to-mandelas-death-tells-us-about-good-leadership
9 https://www.helbestakurdi.com/helbest/abdullah-ocalan--ji-bo-derwese-evdi.html
Kurdistan Report 233 | Mai / Juni 2024
Die Landwirtschaft in Nord- und Ostsyrien seit der Revolution
»Es ist besser, wenn du mir Fischen beibringst, als wenn du mir einen Fisch bringst«
Ein Interview mit Leyla Saroxan, Mohamed Dehir (Ko-Vorsitzende), Ahmed Yunus (stellvertretender Ko-Vorsitzender)
In der DAANES (Demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien) steht die Landwirtschaft seit der Revolution vor großen Herausforderungen. Im Gespräch mit Vertreter:innen der Behörde für Landwirtschaft und Bewässerung in Nord-und Ostsyrien werden die Schwierigkeiten und die Lösungsmöglichkeiten diskutiert, denen sich die Landwirtschaft nach dem Ende des Baath-Regimes gegenübersieht.
KR: Wie war die Lage der Landwirtschaft unter dem Baath-Regime vor der Revolution, besonders in der mehrheitlich von Kurd:innen bewohnten Region Rojava? Und wie hat sich die Landwirtschaft im Zuge der letzten 10 Jahre in Nord- und Ostsyrien entwickelt?
Leyla: Die Politik des syrischen Regimes vor der Revolution kann man sich so vorstellen: In Syrien wurde im Grunde genommen den Regionen bzw. Städten die Produktion zugeteilt. Sie waren für die Erzeugung von bestimmten Agrarprodukten zuständig. Beispielsweise wurden Obstbäume in Zentralsyrien und in der Küstenregion angebaut. Fabriken befanden sich eher in großen Städten wie Aleppo. Besonders im Norden wurde sehr stark auf Landwirtschaft gesetzt. Dabei ging es jedoch nur um den Anbau der Produkte. Die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten war groß. Fabriken zur Weiterverarbeitung gab es hier allerdings nicht. Dafür wurden die Rohstoffe in andere Regionen Syriens transportiert. Das hatte natürlich auch einen großen Einfluss auf die ökonomische Situation der Gesellschaft, auch auf die Möglichkeiten ihrer Entwicklung. Die meisten Bäuer:innen sollten damals nicht sehr viel mehr als nur ihr Land im Kopf haben und sich nur darüber Gedanken machen. Vom syrischen Regime erhielten die Bäuer:innen pauschal Saatgut für ihre Felder nach der Devise ›Hauptsache es wird etwas gepflanzt‹.
Heute sehen wir uns genau mit diesem Problem konfrontiert. Diese Mentalität der Bäuer:innen, einfach das vorgegebene Saatgut auszusäen und abzuwarten, herrscht immer noch vor. Viele handeln nach dem Motto ›das wird schon‹. Diese Mentalität ist schwierig zu verändern.
Das ist natürlich unter den heutigen Umständen ein großes Problem. Damals wurde sich wenig darum gekümmert, auf Diversität bei der Bepflanzung zu achten, also beispielsweise ein Jahr Weizen anzupflanzen und dann im nächsten Jahr eine andere Fruchtfolge umzusetzen. Diese Art der Landwirtschaft war in jeder Hinsicht wenig nachhaltig. Die Folge daraus ist, dass die Erde nun ausgelaugt ist. Man kann sagen, dass diese Herangehensweise des Regimes dazu geführt hat, dass sich in der Landwirtschaft eine gewisse Trägheit entwickelt hat. Ich möchte euch noch ein Beispiel geben. 2019 fiel die Ernte in Nord- und Ostsyrien unglaublich reich aus. Doch viel davon ist leider verbrannt. Warum? Weil viele der Bäuer:innen nicht auf ihren Feldern waren. Sie sind mit dieser Kultur aufgewachsen, die Samen nur auszusäen und dann auf den Regen zu warten, der die Saat aufgehen lässt.
Wenn wir uns jedoch unser Paradigma anschauen, sprechen wir davon, dass der Mensch mit seiner Arbeit und seinem Fleiß verbunden ist. Die Philosophie unter dem Baath-Regime war jedoch genau das Gegenteil. Man verdiente ein bisschen und das war dann ausreichend. Mit dieser alten Mentalität haben wir heute immer noch stark zu kämpfen. Das heißt, dass viele Bäuer:innen weder mit einem Plan arbeiten, noch sich Gedanken um die Diversität machen wollen. Das hat sowohl für die Erde negative Folgen als auch für die Ernte – und damit verbunden für unsere gesamte Ökonomie. Diese ›alte‹ Philosophie ist zuallererst ein Mentalitätsproblem, das verhindert, dass sich unsere Wirtschaft weiterentwickelt. Deswegen gibt es auch immer wieder Bäuer:innen, die sagen, in Zeiten des Regimes war es viel besser. Warum? Weil sie damals vom Regime alles Benötigte – unabhängig vom Resultat – pauschal bekamen. Heute sind die Umstände natürlich in vielerlei Hinsicht vollkommen anders. Einerseits versuchen wir eine Mentalität zu stärken, die mehr mit Arbeit und Eifer verbunden ist. Andererseits sind wir mit der Schwierigkeit konfrontiert, nicht einfach sämtliche Maschinen und andere notwendige landwirtschaftliche Güter problemlos beschaffen zu können. Diese Probleme gab es unter dem Baath-Regime nicht. Unser Problem ist das Embargo, das uns einschränkt.
Gleichzeitig hat natürlich auch die Reduzierung des Wasserdurchlaufs des Euphrats einen großen Einfluss auf die Landwirtschaft hier. Ein weiterer Aspekt, der sowohl uns als Selbstverwaltung, als auch den Bäuer:innen schwer zu schaffen macht, ist der Wertverlust der syrischen Währung gegenüber dem Dollar1. Während innerhalb Syriens mit der syrischen Währung gezahlt wird, brauchen wir für alles, was von außen kommt, den Dollar. Das ist natürlich eine schwere Last auf den Schultern der Bäuer:innen. Dazu kommt, dass wir viele Samen beziehungsweise Saatgut, welches vielleicht ertragreicher wäre, aus Kostengründen nicht einkaufen können. Hohe Anschaffungskosten führen zu unbezahlbaren Preisen für die Produkte.
Ahmed: Bezogen auf die Landwirtschaft hat das syrische Regime sehr klare Vorgaben gemacht. In der Region Cizîrê z.B. gab es vor allem Anbau von Weizen und Baumwolle, neben Mais und anderem Gemüse. Diese Produkte wurden dann aus der Cizîrê-Region zur Weiterverarbeitung in die Gebiete Westsyriens gebracht.
Es war den Bäuer:innen nicht erlaubt, z.B. Bäume zu pflanzen oder andere Pflanzen, die nicht den Vorgaben entsprachen. Man kann sagen, dass die Region Cizîrê wie eine Kuh gemolken wurde, doch von der Milch haben die Menschen nichts gesehen. So nach dem Motto: »Macht eure Arbeit und das war‘s«.
In den ersten Jahren der Revolution von 2011 – 2015 durchlitten wir große Schwierigkeiten. In dieser Zeit war die Anzahl der Expert:innen in unserem Fachgebiet sehr gering. Anfangs gab es auch bei einigen Menschen wenig Vertrauen und Zuversicht in unsere Arbeit. Daher waren die ersten vier Jahre eine große Herausforderung. Es fehlte uns einfach in vielerlei Hinsicht an Erfahrung. Natürlich hat sich auch der Krieg sehr negativ ausgewirkt. Aber über die Jahre haben wir Erfahrungen gesammelt und gleichzeitig wuchs auch das Vertrauen in die Revolution und die Selbstverwaltung.
Ein weiterer wichtiger Aspekt sind natürlich die Technologien, die Samen und Maschinen, die zuvor in der Hand des Baath-Regimes waren. Glücklicherweise gab es einige Menschen, die unter dem Regime in diesem Bereich gearbeitet hatten und die nun ihr Wissen zum Nutzen der gesamten Gesellschaft in der Selbstverwaltung einbringen konnten. Besonders bezogen auf die Anzahl derer, die für spezielle Aufgaben gebraucht wurden, gab es immer wieder große Schwierigkeiten. Oftmals waren wir froh, wenn wir für einen Bereich, in dem normalerweise 10 Leute gebraucht werden, zwei oder drei Mitarbeiter:innen gewinnen und ausbilden konnten. In den Jahren 2015-2019 hat sich die Lage aber dann verändert, das Vertrauen in die Selbstverwaltung wuchs stetig. Das war auch die Zeit, in der weitere Institutionen im Bereich der Landwirtschaft aufgebaut wurden, z.B. die Forschungseinrichtung oder die Saatgutstelle. Da diese jedoch in ihren Möglichkeiten sehr eingeschränkt waren, mussten sie neue Wege und Methoden suchen. Sie konnten in der Forschung keine neuen, für das Klima in Nord- und Ostsyrien geeigneten Saatgutarten für die Landwirtschaft züchten. Daher waren sie gezwungen, mit den noch vom Regime benutzten Saatgut zu arbeiten. Das ist auch der Grund, warum diese ›alten‹ Arten zwar erhalten geblieben sind, aber nicht mehr zu einer ausreichenden Ernte führen. Daraus folgt eine stetige Verschlechterung der landwirtschaftlichen Produktion.
Im Bereich der Bewässerung gab es über die Jahre viele Fortschritte. Das reicht von Bestandsaufnahmen der allgemeinen Lage bis zu den Orten der einzelnen Brunnen und deren Tiefe. Man kann sagen, dass besonders in den Jahren 2014-2019 große Fortschritte gemacht wurden, wohingegen sich ab 2019 die allgemeine Sicherheitslage mit den vielen Angriffen sehr negativ auf die Entwicklung der Landwirtschaft ausgewirkt hat. Besonders die vielen Angriffe der Türkei in der Grenzregion waren und sind ein großes Problem.
Leyla: Zu Beginn unserer Arbeit war die Ausgangslage wie folgt: Wir sahen sowohl eine vom Regime vernachlässigte Region, aber auch durch den Krieg und den IS verursachte Zerstörung. Damit wurde eine zuvor schon schwache Region noch mehr geschwächt. Es war also alles andere als einfach. Nun sind bereits 12 Jahre seit dem Beginn der Revolution vergangen. Mit jedem Jahr werden die Samen schwächer und schwächer, was zu geringeren Ernten führt. Natürlich haben wir so gut es ging versucht, im Rahmen der Möglichkeiten, die wir in Nord- und Ostsyrien vorfanden, unsere Arbeit zu machen. Verglichen mit der Situation der Landwirtschaft in Deutschland, England, Ägypten oder Jordanien, ist unsere Situation sehr viel schlechter. Die »alten« Samen liefern nicht die gewünschten Erträge. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu begreifen, dass die Bäuer:innen ihren Gewinn nicht mit höheren Preisen für Getreide oder landwirtschaftliche Erzeugnisse erzielen, sondern mit guten Ernten. Gute Ernten bringen also auch mit niedrigen Verkaufspreisen einen Gewinn.
KR: Was sind die aktuellen Probleme, mit denen die Landwirtschaft in Nord- und Ostsyrien konfrontiert ist?
Mohamed: Vor der Revolution schenkte das Regime dem Ostens Syriens, besonders den Städten Hesekê, Raqqa und Deir ez-Zor entwicklungstechnisch betrachtet wenig Aufmerksamkeit. Das Thema ›Verbotspolitik‹ (nur bestimmte Pflanzen durften angepflanzt werden), wurde ja schon angesprochen. Auch für den Rohstoff Öl galt dies. Ein Großteil des Öls Syriens kommt aus dem Osten, also dem Großraum Hesekê und Deir ez-Zor. Aber wo findet die Verarbeitung statt? Nicht dort, sondern z.B. in Homs. Eigentlich würde es viel mehr Sinn ergeben, die Weiterverarbeitung direkt an Ort und Stelle vorzunehmen, anstatt das Öl durch das ganze Land zu transportieren um es dann zu Diesel oder Benzin weiterzuverarbeiten. Auch hier haben wir also ein Problem. Wir haben zwar Öl, aber keine Raffinerien. Wegen des Embargos können wir die Technik und die notwendigen Bauteile für eine Raffinerie nicht einführen. Warum hat dieses Problem Auswirkungen auf die Landwirtschaft? In der Landwirtschaft brauchen wir Treibstoff, also Diesel, für die Maschinen.
Zusätzlich erschwert die inzwischen in großen Teilen abgenutzte Technik der landwirtschaftlichen Maschinen die Arbeit der Bäuer:innen. Das trifft z.B. die wichtigen Bewässerungssysteme. Da uns kein Staat der Welt Hilfe zukommen lässt, fühlt es sich manchmal so an, als würden wir in einer anderen Welt leben. Ich denke, dass das für viele Menschen vielleicht nicht leicht zu verstehen ist, aber uns kostete es große Anstrengungen und Mühen, allein kleinste Teile oder Technologien nach Nord- und Ostsyrien zu bringen. Vor der Revolution wurde diese Region hier massiv vernachlässigt und jetzt haben wir große Schwierigkeiten, diese entstandenen Mängel und Vernachlässigungen zu überwinden.
Dazu kommt natürlich noch die mangelhafte Wasserversorgung, denn sowohl das Wasser des Euphrats als auch des Xabûrs wird von der Türkei massiv durch Staudämme aufgestaut. Bei uns kommt die benötigte Wassermenge nicht mehr an.
Leyla: Mit der aktuellen Situation hat die Selbstverwaltung eine große Last zu schultern. Die Samen bringen wenig Ertrag und gleichzeitig sind die Bäuer:innen gezwungen, diesen dann auch noch zu hohen Preisen zu verkaufen. Im letzten Jahr z.B. waren wir gezwungen, den Weizen wesentlich teurer zu machen. Gleiches galt auch für Baumwolle. Selbst wenn wir einen Teil der Ernte exportieren wollten, würden die hohen Preise es unmöglich machen Abnehmer zu finden. Wir wissen, dass die Bäuer:innen in den vergangenen Jahren viele Schwierigkeiten durchleben mussten durch höhere Dieselpreise und geringere Ernteerträge. Damit die Bäuer:innen ihre Arbeit fortsetzen können, hat ihnen die Selbstverwaltung unter die Arme gegriffen, aber auf Dauer ist das nicht möglich.
Für die Zukunft muss eine nachhaltige Lösung gefunden werden. In dieser Hinsicht sehen wir auch unsere Freund:innen und Unterstützer:innen, die weltweit mit uns arbeiten, in der Pflicht, Themen wie ›angepasstes Saatgut‹ oder ›Wasser für Nord- und Ostsyrien‹ stärker auf die Agenda zu bringen. Eigentlich müsste es die Menschen in der Welt schmerzlich berühren, dass eine Region wie der ›Fruchtbare Halbmond‹ - Mesopotamien, einstmals Wiege der Landwirtschaft, heute auf diese Weise leidet und die Landwirtschaft genau hier kaum noch Ertrag bringt. Eigentlich dürfte das von der Weltgemeinschaft nicht akzeptiert werden. Organisationen, die zum Thema Saatgut arbeiten, wie die Organisation ICARDA2, die sich international engagiert, arbeitet jedoch nur mit offiziell anerkannten Staaten zusammen. Eben deshalb können wir von ihnen keine Samen bekommen, die für unsere Erde geeignet sind und sehr viel reichhaltigere Erträge liefern würden. Hierbei sehen wir, wie wichtig die offizielle Anerkennung der Selbstverwaltung auf internationaler Ebene wäre. Wenn wir beispielsweise Dünger nach Rojava bringen, müssen wir dies auf Umwegen tun, weil keine offizielle Stelle mit uns zusammenarbeitet. Auch Labore haben wir hier nicht, um Dünger oder andere Waren, die in unsere Gebiete kommen, zu kontrollieren. Das heißt natürlich auch, dass man nicht sicher wissen kann, was diese Mittel für einen langfristigen Einfluss auf die Böden und die Gesundheit der Menschen haben werden.
Wenn Internationalist:innen oder verschiedenste Organisationen zu uns nach Nord- und Ostsyrien kommen, versuchen wir immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Landwirtschaft aus dieser Embargopolitik gegen die Selbstverwaltung herausgehalten werden muss. Denn sobald in einer Region der Welt die Landwirtschaft schwächelt oder zusammenbricht, hat dies einen unmittelbaren, katastrophalen Einfluss auf die dortige Gesellschaft – und auf lange Sicht gesehen auch einen negativen Einfluss auf die ganze Welt.
Ahmed: Wenn man möchte, dass die Bäuer:innen weiterhin in ihren Dörfern, auf ihren Ländereien leben und dort ohne immense Schwierigkeiten ein Leben führen können, müssen Dinge wie z.B. regional angepasstes Saatgut gesichert sein. Diesbezüglich sind uns die verschiedenen NGOs und Organisationen, die Samenbanken haben und zu diesem Thema auf internationaler Ebene arbeiten, überhaupt keine Hilfe. Mit jedem Jahr, das vergeht, wird unsere Ernte geringer.
Ein zweiter Punkt ist die Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen. Dabei wollen wir nicht nur auf Brunnen setzen. Eigentlich haben wir ja mehrere Staudämme hier, die an die Wasserkanäle angeschlossen sind. Der Krieg mit dem IS und die Angriffe der Türkei haben zu großen Schäden an diesen Kanälen geführt, die das Wasser auch zu weit entfernten Ackerflächen bringen. Wir als Selbstverwaltung haben bereits an vielen Orten Kanäle repariert, doch ehrlicherweise muss man sagen, dass unsere finanziellen Möglichkeiten nicht ausreichen und diese Reparaturen unser Budget übersteigen. Diese Themen sind existentiell wichtig für den Verbleib der Bäuer:innen auf ihren Feldern und zur Verhinderung von Abwanderung.
Schauen wir uns den Aspekt der Staudämme an. Das Wasser, das nach Nord- und Ostsyrien kommt, wird von der Türkei gestaut. Die Türkei lässt ganz bewusst nur wenig Wasser durch. Wenn du kein Wasser hast, dann kannst du die besten Samen der Welt haben, es wird dir nichts bringen. Ohne Wasser blüht nichts. Das weiß die Türkei ganz genau. Ein weiterer Punkt, auf den ich zu sprechen kommen möchte, ist die Situation der Bäuer:innen in Grenznähe. Dort schleichen sich die Menschen im Verborgenen auf ihre Felder, säen die Samen und verschwinden dann wieder von den Feldern. Trotz dieser Vorsicht gab und gibt es immer wieder Angriffe aus der Türkei. Einige Bäuer:innen wurden bei der Arbeit verletzt oder sogar ermordet.
Leyla: Die Bäuer:innen in der Grenzregion haben Angst auf ihre Felder zu gehen.
Ahmed: Nur um euch das nochmal klarzumachen: Selbst wenn wir es in den nächsten Jahren schaffen sollten, noch mehr dieser Kanäle zu reparieren und besseres Saatgut zu bekommen bleibt die Gefahr für die Landwirt:innen. Ein nicht geringer Teil der gesamten landwirtschaftlichen Anbaufläche Nord- und Ostsyriens liegt in unmittelbarer Nähe zur Grenze. Das ist im Grunde genommen alles eine Fläche, die man kaum noch mit einrechnen kann. Dieses Problem muss unbedingt gelöst werden. Wir sprechen hier einzig und allein von der Landwirtschaft, von den Ängsten und Problemen der Bäuer:innen. Und das ist natürlich auch ein Grund, warum viele Jugendliche die Dörfer verlassen.
KR: Wie sehen die Lösungsansätze der Selbstverwaltung für diese Probleme aus?
Leyla: Als Teil der Behörde für Landwirtschaft und Bewässerung von Nord- und Ostsyrien schauen wir dem natürlich nicht tatenlos zu, sondern versuchen, Lösungen für diese Probleme zu entwickeln. Wir haben eine Abteilung für Landwirtschaftsforschung, die ihren Möglichkeiten entsprechend versucht, Samen zu züchten. Um neue Samen zu züchten, benötigt man aber etwa 10 bis 12 Jahre. Dieses Forschungszentrum macht seine Arbeit so gut es geht, trotzdem wäre die Unterstützung durch internationale Expert:innen auf diesem Feld von großem Vorteil. Auch die Möglichkeit in anderen Ländern die Situation der Landwirtschaft durch Besuche kennen zu lernen wäre eine wichtige Erfahrung für die Mitarbeiter:innen der Abteilung. Das gleiche gilt für den internationalen Austausch an Wissen und Erfahrungen. Wenn man z.B. Delegationsreisen von hier aus organisieren könnte, die ihre Eindrücke und Erfahrungen aus anderen Teilen der Welt zurücktragen könnten, wäre das ein guter Schritt. Und eine bessere technische Ausstattung der Forschungsabteilung ist wichtig.
Wir haben auch ein Zentrum, das die existierenden Samen vervielfältigt. Auch dieses Zentrum müsste eigentlich mit anderen Ländern und Organisationen, die zu diesem Thema arbeiten, im Austausch stehen. Ob die Selbstverwaltung jetzt anerkannt wird oder nicht, Nord- und Ostsyrien ist eine große Region, die besonders für die Landwirtschaft prädestiniert ist. Daher sollte es eigentlich eine weltweite Unterstützung für eine ertragreiche Landwirtschaft hier vor Ort geben.
Wir arbeiten daran, ein Zentrum für Außenbeziehungen im Bereich Landwirtschaft aufzubauen. Außerdem spielt natürlich der Aufbau von Kooperativen, ob autonome Frauenkooperativen oder gemischte Landwirtschaftskooperativen, eine wichtige Rolle. Manche von ihnen sind sehr erfolgreich, bei anderen gab es zum Teil große Schwierigkeiten. Anfangs stößt man vor allem auf ein falsches Verständnis davon, was eigentlich eine Kooperative und ihre Rolle ist. Besonders in den ersten Jahren hatten wir viel mit Unverständnis zu kämpfen. Doch in den letzten Jahren ist das besser geworden. Vielleicht sind wir noch nicht an dem Punkt, dass sich die gesamte Wirtschaft nur über Kooperativen organisiert, aber es wurden wichtige Schritte unternommen.
Wenn wir als Selbstverwaltung vom Aufbau von Kooperativen bzw. von bestehenden Kooperativen sprechen, steht für uns die Solidarität untereinander an vorderster Stelle. Solidarität untereinander, Verbundenheit mit der eigenen Arbeit und Einsatz für die eigene Arbeit wollen wir als Kultur etablieren. Natürlich haben es fünf Bäuer:innen, die zusammenarbeiten, viel leichter als fünf Bäuer:innen, die alle für sich allein arbeiten.
KR: Wie können Menschen außerhalb Syriens die Selbstverwaltung im Bereich Landwirtschaft am besten unterstützen?
Mohamed: Zuerst muss noch einmal betont werden, das wir durch das Embargo komplett von der Außenwelt abgeschnitten sind. Es wäre zum Beispiel sehr wichtig und ein guter Schritt, wenn wir unsere Mitarbeiter:innen für Fortbildungen oder längere Lehrgänge ins Ausland schicken könnten, um in den verschiedensten Bereichen mehr Erfahrung zu sammeln. Gleichzeitig freuen wir uns natürlich darüber, wenn es Menschen oder Organisationen gibt, die uns auf organisierte Weise unterstützen wollen. Wie meine ich das? Oftmals wird Geld an NGOs gegeben, die dann irgendetwas Kleines machen, aber die grundlegenden Probleme oder größere Projekte nicht angehen. Ich verdeutliche das einmal mit einem Sprichwort: »Es ist besser, wenn du mir Fischen beibringst, als wenn du mir einen Fisch bringst«. Außerdem muss man auch ehrlich sagen, dass einiges von den Hilfeleistungen zwischen diesen ganzen NGOs verloren geht. Stell dir vor, es steht eine Million Dollar zur Verfügung. Wenn du das auf ganz viele kleine Projekte aufteilst, sieht man davon am Ende kaum noch etwas. Wenn du aber diese Million in ein großes, nachhaltiges Projekt für die Region investierst, dann kann das hier für einen Fortschritt sorgen.
Wir appellieren an alle Menschen, dass sie sich dafür einsetzen, dass beispielsweise das Wasser in der Türkei nicht mehr aufgestaut und endlich zu uns durchgelassen wird. Gleichzeitig hoffen wir auf Unterstützung bei der Anschaffung von strategischen Technologien, so dass wir z.B. selbst Treibstoff herstellen können. Und selbstverständlich können auch Expert:innen zu uns kommen, mit uns diskutieren oder Fortbildungen geben. Auch das ist eine Hilfe.
Aber einer der strategisch wichtigsten Aspekte ist die offizielle Anerkennung der Selbstverwaltung, sodass wir endlich im landwirtschaftlichen Bereich Kontakte und Austausch voranbringen können. Dadurch, dass alles nur auf Umwegen hierher gelangen kann erhöhen sich die Preise für uns um ein Vielfaches. Wenn wir aber direkte, offizielle Kontakte pflegen können, was natürlich auch das Embargo minimieren würde, könnten wir Dinge direkt importieren. Zur Verdeutlichung: Die meisten Weizensilos hier in Nord- und Ostsyrien sind vom Krieg gegen den IS zerstört. Selbst wenn manche von ihnen von außen noch heil erscheinen, also das Betonskelett intakt aussieht, sind sie im Inneren völlig zerstört und daher nutzlos. Das ist ein Beispiel dafür, was wir mit unseren Möglichkeiten hier nicht so leicht reparieren können. Selbst wenn wir im nächsten Jahr eine reiche Ernte einfahren sollten, wo bitte sollen wir sie dann lagern? Auch das sind Faktoren, die sich im Endeffekt hier auf unsere Gesellschaft auswirken.
Leyla: Ich kann dem nicht mehr viel hinzufügen. Wir freuen uns sehr, wenn uns Delegationen besuchen, um unser System der demokratischen Selbstverwaltung kennenzulernen. Unser System, das in seiner Zusammensetzung aus vielen verschiedenen ethnischen Gruppen, einzigartig ist. In dem die Frauen eine führende Rolle in der Revolution spielen. Wir hoffen sehr, dass aus allen Teilen der Welt Delegationen zu uns kommen, um die demokratische Selbstverwaltung mit eigenen Augen zu sehen. Nur davon zu hören, darüber zu lesen oder im Fernsehen etwas dazu anzuschauen reicht nicht aus. Erst wenn man herkommt, kann man gemeinsam die alten und vom IS beschädigten Wasserkanäle in Augenschein nehmen, sich die zerstörten Silos anschauen und so verstehen, von welchen Herausforderungen wir in diesem Interview sprechen. Wir hoffen, dass viele Menschen kommen und dieses Thema auf die globale Agenda bringen.
Fußnoten
1 Dabei spielte besonders der Caeser Syria Civilian Protection Act, den Trump 2019 unterzeichnete und der im Sommer 2020 in Kraft trat, eine große Rolle. Er hatte einen massiven Wertverlust der syrischen Währung dem Dollar gegenüber zur Folge. [Anm. d. Redaktion]
2 International Center for Agricultural Research in the Dry Areas, 1977 in Syrien gegründet, später wegen des Krieges in Syrien in den Libanon umgezogen.
Kurdistan Report 233 | Mai / Juni 2024