Die Rolle der Frauen im Freiheitsprozess
Mut zur Freiheit
Sebahat Tuncel, kurdische Politikerin
Während wir den März begrüßten, glaube ich, dass es schwierig ist, einen Ausweg aus den Problemen zu finden, mit denen wir konfrontiert sind, ohne zu verstehen, wie wir an diesen Punkt gekommen sind und wie wir dorthin gebracht wurden. In der Erkenntnis, dass es keinen Sieg auf dem Schlachtfeld gibt, ohne einen Sieg auf dem ideologischen und politischen Feld zu erringen, griff der schlaue Mann zu Lug und Trug, um Tausende von Jahren neolithischer Kultur und Göttinnenkultur auszulöschen; er bemächtigte sich aller wirtschaftlichen, kulturellen und künstlerischen Errungenschaften der Frauen, von den Sozialgesetzen bis hin zu den sozialen Gesetzen. Dieser erste sexuelle Bruch, den wir den »ersten sexuellen Bruch« nennen, führte zur Ausbeutung der Arbeitskraft und des Körpers der Frauen und zu ihrer Versklavung. Nach dieser Usurpation begann der männliche Geist seine eigene Geschichte, indem er die Geschichte der Frauen ungelebt ließ. In der von Männern und männlichem Geist geschriebenen Geschichte existieren Frauen nicht, sie sind zur Sklaverei und zum ewigen Schweigen verurteilt. Mit der Geschichte der Religionen, die wir den »zweiten sexuellen Bruch« nennen, wurde die Sklaverei der Frauen mit dem Gebot Gottes verknüpft. Am Anfang der Religionsgeschichte stehen zwei weibliche Identitäten, die vom männlichen Geist geschaffen wurden. Die eine ist Lilith, die gleichberechtigt mit Adam erschaffen wurde, und die andere ist Eva, die von den Göttern »aus Adams Rippe erschaffen« wurde, weil sie sich Adam nicht unterordnete. Die Ausgrenzung, das Verbot und die Verurteilung, die sich um die Identität Evas ranken und die Identität der Frau zu einer Quelle der Schande machen, die Erzählung, dass die Frau »unvollständig« ist und dem Mann nicht gleichgestellt werden kann, ist bis heute die Geschichte der Legitimierung der weiblichen Sklaverei geworden. Nicht nur Männer haben dies geglaubt, sondern leider sind auch Frauen Teil dieser Erzählung geworden. Die gemeinschaftliche, egalitäre und demokratische Kultur, die von Frauen über Jahrtausende geschaffen wurde, konnte jedoch nicht vollständig ausgelöscht werden. Obwohl die Frauen versucht haben, alle Spuren der Göttinnenidentität und -kultur durch alle Arten von Unterdrückung und Zwang auszulöschen, haben der Widerstand, der Kampf und der Einspruch der Frauen es geschafft, die verborgene Wahrheit der Frauen zu enthüllen.
Ein neues Bewusstsein entsteht
In vielen Ländern der Welt hat die Reise der Frauen zur Wahrheit begonnen, um die verborgene Geschichte ans Licht zu bringen und die wahre Geschichte für die Menschheit und für die Frauen zu schreiben. »Wer keine Vergangenheit hat, hat keine Zukunft« und »wer keine Existenz hat, hat keine Freiheit« – das gilt vor allem für uns Frauen. Im 21. Jahrhundert kämpfen wir dafür, dass sich der »dritte Geschlechterbruch« zugunsten der Frauen entwickelt. Wir haben es mit einem System zu tun, das seit Jahrtausenden organisiert ist und sich durch Lügen, Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung etabliert hat. Und der Weg, es zu überwinden, ist die Vergesellschaftung der Ideologie der Frauenbefreiung. Natürlich sind wir uns bewusst, dass unsere Arbeit nicht einfach ist, dass unser Weg lang ist und dass es auf diesem Weg viele Hindernisse gibt. Aber das Wichtigste ist, dass wir wissen, dass ein freies Leben möglich ist und dass wir die Verantwortung für dieses Leben übernehmen. Als kurdische Frauenbewegung verändern wir die Geschichte der männlichen Herrschaft, die auf Lügen und Betrug basiert, und bringen eine neue Erinnerung, ein neues Bewusstsein hervor. Und wir schreiben eine neue Geschichte. Dieser Weg der kurdischen Frauenbewegung reißt Lücken in das männlich dominierte kapitalistische System und in das politische Verständnis. Der Kampf für die Vergesellschaftung des demokratischen, ökologischen, frauenlibertären Paradigmas, das heißt für den Aufbau des Lebens, ist nicht einfach. Wir sind uns auch bewusst, dass die Befreiung der Frau und die damit verbundene soziale Befreiung nicht möglich ist, ohne unsere eigene soziale Realität und die Situation der Frauen zu kennen.
Ko-Vorsitz ist eine revolutionäre Entwicklung
Am 8. März stehen Diskriminierung, Gewalt, Belästigung, Vergewaltigung, Arbeitslosigkeit, Korruption, Krieg, Migration, Ausbeutung und Kommunalwahlen auf der Tagesordnung der Frauen. Die feministische Bewegung ist eine politische Bewegung. Und jedes Thema, das mit dem Leben zu tun hat, steht natürlich auf der Agenda der Frauenbewegung und muss auf ihrer Agenda stehen. Das erste, was die Männerherrschaft getan hat, war, die Frauen aus der Verwaltung zu entfernen und ihnen die gesellschaftliche Führung zu entziehen. Deshalb ist die Beteiligung von Frauen in der Politik und in der lokalen Demokratie entscheidend für die Veränderung des Systems. Die kurdische politische Bewegung betrachtet die Beteiligung von Frauen an der Politik als eine strategische Frage. Mit der gleichberechtigten Vertretung, der autonomen Organisation von Frauen und dem System des Ko-Vorsitzes nimmt sie Einfluss auf die türkische Politik. Nicht nur in der politischen Partei, sondern in allen Institutionen, in denen die Kurden organisiert sind, haben sie das System des Ko-Vorsitzes eingeführt. Die Neubetrachtung der als Männerdomäne geltenden repräsentativen und präsidialen Ämter unter dem Gesichtspunkt der Frauenfreiheit und der Gleichberechtigung der Geschlechter ist eine revolutionäre Entwicklung im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel. Da diese revolutionäre Entwicklung die Vertreter der männlich dominierten Politik, der sexistischen, religiösen, besitzergreifenden faschistischen Macht und ihre Partner erschreckte, nahmen sie das System des Ko-Vorsitzes ins Visier und machten es zur Rechtfertigung für die Ernennung von Treuhändern. Das System des Ko-Vorsitzes beeinträchtigt auch die Sichtbarkeit der Frauen im öffentlichen Raum und ihre Stellung in den sozialen Beziehungen.
Die Zeit ist reif
Betrachtet man die Kommunalwahlen vom 31. März, so sind fast alle Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters und der Gemeinderäte Männer, mit Ausnahme von ein oder zwei Parteien. In den kommunalpolitischen Programmen aller Parteien mit Ausnahme der DEM kommen Frauen und Frauenpolitik nicht vor. Die DEM-Partei hingegen verspricht lokale Demokratie, ein libertäres kommunales Regierungsmodell, in dem sich die Menschen und Frauen selbst regieren. Dieses Modell erhebt den Anspruch, die Möglichkeiten der Kommune zu nutzen, um ein demokratisches, ökologisches, frauenliberales Leben aufzubauen, auf die Menschen zuzugehen und gemeinsam mit den Menschen Dienstleistungen zu erbringen, die den Bedürfnissen der Menschen entsprechen, mit Priorität für die Ärmsten, die Geringsten, und gemeinsam mit den Menschen eine demokratische Verwaltung zu betreiben. Deshalb wird die Unterstützung der DEM-Partei durch alle, die gegen das System sind, insbesondere durch die Frauen, den Weg zur Befreiung und Freiheit der Frauen verkürzen. Bei dieser Gelegenheit wünsche ich den Kandidatinnen und Kandidaten der Partei für Volksgleichheit und Demokratie, den Kandidatinnen und Kandidaten der DEM-Partei für die Bürgermeisterämter in den Kommunen und den Kandidatinnen und Kandidaten für die Stadträte viel Erfolg. Wer den derzeitigen Kurs in der Türkei stoppen will, wer Frieden, Freiheit und Gleichheit will, für den gibt es keine Alternative. Es ist Zeit für DEM DEMA AZADÎ!
Palästina eine Stimme geben, aber zu Kurdistan schweigen.
Unsere andere Frauen-Agenda ist der Frieden. Der Antikriegs- und Friedenskampf der Frauenbewegung ist von strategischer Bedeutung. Der Krieg im Nahen Osten, der seit Jahrzehnten durch die israelisch-palästinensische Besatzung andauert, ist am 7. Oktober 2023 in eine neue Phase getreten. Die kurdenfeindliche Politik der Türkei, die Besetzung des irakischen Kurdistan und des Nordostens Syriens verhindern erneut den Frieden im Nahen Osten. Als kurdische Frauen kämpfen wir seit Jahren für eine demokratische und friedliche Lösung der kurdischen Frage, für die Sicherung der Sprache, der Identität und der kulturellen Rechte des kurdischen Volkes, für die Selbstverwaltung des kurdischen Volkes. Im 21. Jahrhundert ist es ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Existenz des kurdischen Volkes nicht anzuerkennen, seine Rechte und Freiheiten zu kriminalisieren, seinen Kampf für die Verteidigung seiner Existenz und Freiheit als »terroristische« Aktivität zu bezeichnen und die Politik der Gewalt, Verfolgung und Unterdrückung fortzusetzen. Das ist eine Form von Völkermord. Solange diejenigen, die Nein zur israelischen Besatzung Palästinas sagen, nicht auch Nein zur türkischen Besatzung Kurdistans und zum İmralı-Foltersystem sagen, wird sich die Tür zum Frieden nicht öffnen und die Kriegsverbrechen und der Völkermord, die von der AKP-MHP-Ergenekon begangen wurden, werden - unbewusst - ihre Zustimmung zur Fortsetzung des Krieges geben.
Bewusstsein, Mut und Organisation
Die etablierten Parteien, die Bosse und die Medien arbeiten zusammen, um Frauen aus allen Lebensbereichen auszuschließen. Die männliche Solidarität kennt keinen Lebensraum für Frauen an. Nicht nur Frauen, auch die Natur und die Tiere. Aber die Solidarität der Frauen hält die Frauen am Leben. Es geht darum, die Frauensolidarität zu stärken, die Ideologie der Frauenbefreiung zu sozialisieren und es zu wagen, das System zu verändern: »Wir sind Frauen, die das Leben so sehr lieben, dass sie dafür sterben würden«, die aber auch wütend und stark genug sind, sich einem System zu widersetzen, das Frauen für seine eigene Macht tötet. Natürlich ist es wichtig, zusammenzukommen, um die Särge der Frauen nach ihrem Tod zu tragen, aber noch wichtiger ist es, zu verhindern, dass Frauen in den Sarg steigen und ermordet werden. Dafür müssen wir uns zusammenschließen und ein neues soziales System aufbauen. Wie Olympe De Gauges sagte: »Frau, wach auf! Die Macht der Männer will dir nehmen, was dir gehört. Warum haben wir Angst, uns aus dieser Abhängigkeit zu befreien? Ist es nicht an der Zeit, uns von der männlichen Vorherrschaft zu befreien und ein menschliches, freies und gleichberechtigtes Leben, Frieden und Demokratie aufzubauen? Ich denke ja …« Als organisierte Frauen haben wir sehr wichtige Erfahrungen gemacht. Wir wissen, was uns gestohlen wurde. Die Freiheit! Was wir also tun müssen, um die Freiheit zu gewinnen, ist, uns zu organisieren. Wir wissen auch, was die organisierte Frauenpower erreicht hat. Wir brauchen nicht weit zu schauen. In der Revolution von Rojava, im Nordosten Syriens, bauen kurdische Frauen ein freies Leben für Frauen auf. Die Völker der Welt erkennen die kurdischen Frauen nicht nur für ihren Widerstand gegen die ISIS-Barbarei an, symbolisiert durch Arin Mirkan, sondern auch für ihren Kampf für ein freies Leben der Frauen in Rojava. Sie würdigen sie mit Jin-Jiyan-Azadi, das durch den Aufstand von Jina Mahsa Amini zu einem universellen Slogan geworden ist. Wir brauchen Mut zum Handeln und Frauen haben diesen Mut im Überfluss. Solange wir uns dessen bewusst sind.
Hungerstreiks und inhaftierte Frauen
Während das Hauptthema des 8. März in den Gefängnissen der Hungerstreik für »Freiheit für Abdullah Öcalan und eine demokratische Lösung der kurdischen Frage« ist, diskutieren wir natürlich auch die Frage der Frauenbefreiung und »wie wir das Leben der Frauen verändern können«. Wir sollten nicht vergessen, dass die staatliche Politik, kurdische Frauen als Geiseln zu nehmen, in der Person unserer Freundinnen, deren Freiheit im Frauengefängnis von Sincan usurpiert wurde, keine Grenzen der Gesetzlosigkeit und Ungerechtigkeit kennt. In dieser Praxis sehen wir die nackteste Form männlich-staatlicher Gewalt, das größte Übel. Die Aneignung der Freiheit ist nicht nur eine Verletzung der Menschenrechte, sondern auch Folter und Verfolgung. Ich sehe es als eine Verantwortung und nicht als eine Wahl an, dass unsere Genossinnen und Schwestern draußen diese Realität sehen und sich mehr mit den Frauen solidarisieren, deren Freiheit drinnen missbraucht wird. Leider wird dieses Problem bis heute als ein Problem der Gefangenen und ihrer Familien angesehen. Deshalb begeht der Staat weiterhin das Verbrechen der Freiheitsberaubung. Wir senden unsere Grüße, unsere Liebe und unsere Solidarität an die Frauen, die sich innerhalb der Gefängnisse gegen die Gewalt des männlichen Staates wehren und an die Frauen, die außerhalb der Gefängnisse mit ähnlichen Forderungen kämpfen und Widerstand leisten. Und wir gratulieren allen Frauen zum 8. März, dem Internationalen Tag der arbeitenden Frauen.
Jin Jiyan Azadî
Anmerkung der Redaktion: Die kurdische Politikerin Sebahat Tuncel ist seit dem 6. November 2016 inhaftiert. Sie befindet sich derzeit im Gefängnis von Sincan.
Kurdistan Report 233 | Mai / Juni 2024
Wird die CHP eine fortschrittliche Rolle einnehmen können?
Wendepunkt in der türkischen Politik
Selahattin Erdem, Journalist bei Yeni Özgür Politika
Die Wahlergebnisse der Kommunalwahlen in der Türkei am 31.3.2024 markieren einen politischen Wendepunkt und bedeuten das Ende für Erdoğan und seine AKP. Die Frage ist, was die CHP unter ihrem neuen Vorsitzenden Özgür Özel nach ihrem Wahlerfolg jetzt tun wird. Der Text ist zuerst auf Deutsch erschienen bei anfdeutsch.com am 10.4.2024.
Über eine Woche ist seit den Kommunalwahlen vom 31. März vergangen, aber die Diskussionen über das Wahlergebnis in der Türkei sind noch nicht beendet. Der Kampf gegen die faschistischen Angriffe und Tricks der AKP/MHP geht weiter. Bei diesem Tempo sieht es nicht so aus, als würde er bald enden. Es scheint jedoch, dass er allmählich einer Debatte über vorgezogene Wahlen weichen wird. Es gibt tatsächlich einen neuen Wendepunkt in der türkischen Politik. Was sich daraus entwickeln wird und wie eine neue politische Struktur aussehen könnte, hängt von den Ergebnissen des dafür geführten Kampfes ab.
Dieses Resultat hätte eigentlich bereits bei den Parlamentswahlen am 14. Mai 2023 erreicht werden können. Trotz aller Arten von faschistischer Unterdrückung und Betrug hätte eine Ablösung der derzeitigen Regierung ermöglicht werden können. Die Gründe dafür, dass es nicht dazu gekommen ist, sollten in der Wahlstrategie und Taktik der Opposition gegen den AKP/MHP-Faschismus gesucht werden.
Die Wahlergebnisse von 2023 haben keinen neuen Veränderungsprozess in der türkischen Politik eingeleitet. Erst der anschließend erfolgte Wechsel in der CHP, als Kemal Kılıçdaroğlu nach dreizehn Jahren als Parteivorsitzender von Özgür Özel1 abgelöst wurde, hat einen Wandel bewirkt und letztlich zu den Ergebnissen der Kommunalwahlen vom 31. März geführt. Wir haben schon früher auf diese Tatsache hingewiesen und gesagt: »Wenn es für Kemal Kılıçdaroğlu vorbei ist, wird es auch für Tayyip Erdoğan vorbei sein.« Tatsächlich ist wenige Monate nach dem Sturz von Kemal Kılıçdaroğlu auch Tayyip Erdoğan gestürzt.
Wir sagen »gestürzt«, weil in einem demokratischen Umfeld jeder Vorsitzende einer Partei, die nach den Wahlergebnissen vom 31. März in die Position der AKP gefallen ist, zurückgetreten wäre. Dass Tayyip Erdoğan nicht einmal von seinem Posten als AKP-Vorsitzender zurücktritt, zeigt wie inhaltsleer der Begriff Demokratie in der Türkei geworden ist. In seiner ersten Rede nach den Wahlen sagte er: »Dieses Ergebnis ist nicht das Ende, sondern ein Wendepunkt.« Zweifellos ist es ein Wendepunkt für die türkische Politik, aber für Tayyip Erdoğan und die derzeitige AKP ist das Ergebnis der Kommunalwahlen tatsächlich das Ende. Die Tatsache, dass dieser Begriff Tayyip Erdoğan in den Sinn und ihm über die Lippen gekommen ist, heißt, dass er die Bedeutung des Wahlergebnisses erkannt hat. Der Rest ist ein Diskurs, der darauf abzielt, die AKP-Anhänger zu täuschen. Das ist das erste wichtige Ergebnis der Kommunalwahlen vom 31. März.
Die anderen Ergebnisse lassen sich kurz wie folgt zusammenfassen: Das kurdische Volk hat dem Faschismus wieder einmal einen Riegel vorgeschoben und ihn nicht durchgelassen. Sowohl die Ergebnisse in Kurdistan als auch die Haltung der in der Türkei lebenden Kurdinnen und Kurden zeigen dies deutlich. Die große Beharrlichkeit des kurdischen Volkes für ein freies Leben und eine Demokratisierung der Türkei gegen alle Arten faschistisch-genozidaler Unterdrückung und Täuschung ist bewundernswert und kann nicht genug gewürdigt werden. Auch für die DEM-Partei waren die Wahlergebnisse ein gewisser Erfolg. Die Position der DEM-Partei in der gesamten Türkei muss und wird gründlich erörtert werden.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis ist, dass die CHP unter der Führung von Özgür Özel die Wahlen gewonnen hat und die erste Partei in der Türkei geworden ist. Dieses Ergebnis ist wichtig, weil die CHP damit Anwärterin zur Regierungspartei der Türkei geworden ist, und das unmittelbar nach dem Sturz des ewigen Verlierers Kemal Kılıçdaroğlu aus dem Amt des Parteivorsitzenden. Es ist insofern von Bedeutung, als es eine Neubewertung der Rolle von Kemal Kılıçdaroğlu zur Folge hat. Die CHP ist fünfzig Jahre nach der Wahl von Bülent Ecevit am 14. Oktober 1973 erstmalig unter Özgür Özel wieder zur stärksten Partei geworden. Daher sollte dieses Ergebnis umfassend bewertet und richtig verstanden werden.
Ein weiteres Ergebnis ist die Entwicklung der YRP (»Neue Wohlfahrtspartei«) unter Fatih Erbakan zur drittstärksten Partei in der Türkei. So wie Necmettin Erbakan 1973 bei den Wahlen ist nun auch seinem Sohn ein Durchbruch gelungen. Das bedeutet, dass die in der Vergangenheit als vermeintliche Nachfolge der RP (»Wohlstandspartei«) gegründeten Parteien in Wirklichkeit Teil der Operation waren, Necmettin Erbakan zu erledigen. Das hat Fatih Erbakan jetzt überwunden. Es ist jedoch noch nicht klar, wo sein Platz in der neuen politischen Landschaft sein wird.
Es ist nicht wirklich erwähnenswert, aber weil viel darüber diskutiert wurde, sollten auch ein paar Worte über die als Hüda Par bezeichnete Organisation gesagt werden. Die AKP hat diese islamistische Partei vor den Wahlen ins Rampenlicht gestellt, aber sie dann in keinem Bezirk unterstützt und ihr nirgendwo zum Sieg verholfen. Was bedeutet das also? Es bedeutet, dass die AKP die Hizbul-Kontras nicht fördert, um Wahlen zu gewinnen und eine Macht zu werden, sondern um freie Kurdinnen und Kurden und die PKK anzugreifen und die kurdische Einheit zu brechen. Dieser Ansatz entspricht der kolonialistisch-genozidalen Mentalität und Politik der AKP gegenüber der ganzen kurdischen Bevölkerung. Das sollten vor allem diejenigen verstehen, die behaupten, kurdische Nationalisten oder Muslime zu sein.
Kommen wir zurück zur Realität der CHP unter der Führung von Özgür Özel. Zweifellos ist der Sieg bei den Kommunalwahlen ein wichtiger Erfolg für die CHP und insbesondere für Özgür Özel, der erst seit einem knappen halben Jahr Parteivorsitzender ist. Einen solchen Erfolg hat die CHP bisher nur einmal erlebt: Fünfzig Jahre nach ihrer Gründung im Jahr 1923 mit Bülent Ecevit 1973. Jetzt, fünfzig Jahre nach Ecevits Sieg, hat Özgür Özel die Partei zum Sieg geführt. Ecevit übernahm 1972 den Parteivorsitz von İsmet İnönü und gewann ein Jahr später die Wahlen. Özgür Özel hat das Amt 2023 von Kemal Kılıçdaroğlu übernommen und ebenfalls im folgenden Jahr Wahlen gewonnen.
Wichtig ist hier, was die CHP unter Özgür Özel jetzt tun wird. Wird die neue CHP wirklich eine Partei für wahre Demokrat:innen aller Ideologien sein, wie Özgür Özel in seiner ersten Rede nach der Wahl erklärte, oder wird sie die derzeitige faschistisch-kolonialistische Mentalität und Politik unter demokratischer Rhetorik beibehalten? Wird sie sich auf die engen nationalistischen Prinzipien der Republikgründung stützen, oder wird sie eine demokratische Partei werden, die alle einschließt? Die Antwort auf diese Frage ist nicht nur für die CHP, sondern auch für die gesamte Türkei von Bedeutung. Es sei darauf hingewiesen, dass die CHP unter Ecevit nicht erfolgreich war und die Türkei nicht demokratisieren konnte, weil sie ihre nationalistischen Grundsätze nicht überwinden konnte. Tayyip Erdoğan ist der am längsten amtierende Herrscher der Republik Türkei, aber er konnte nicht zu einem neuen Gründer werden, weil er an seiner antikurdischen Mentalität und Politik festgehalten hat.
Wird Özgür Özel nun wirklich so demokratisch sein wie er behauptet? Wird es ihm gelingen, die monistische, nationalistische CHP in eine wirklich demokratische Partei zu verwandeln? Wird es ihm gelingen, sie zu einer Partei zu machen, die die von ihr begründete Republik demokratisiert? Es ist klar, dass die Türkei genau das braucht, nämlich eine längst überfällige Demokratisierung. Wenn das gelingt, kann die CHP eine neue Zukunft schaffen und die kommenden Entwicklungen prägen. Wenn Özgür Özel die CHP nicht demokratisieren kann, wird er den Begriff Demokratie wie seine Vorgänger nur für demagogische Zwecke verwenden.
Zweifellos hat die Demokratisierung der Türkei viele Aspekte. Der Kernpunkt des Demokratisierungsbedarfs auf wirtschaftlicher, politischer, gesellschaftlicher, kultureller und mentaler Ebene ist eine politische Lösung der kurdischen Frage, indem die antikurdische Mentalität und Politik überwunden wird. Natürlich kann dieses Problem nicht auf einmal und im Alleingang gelöst werden, aber es kann eine schrittweise Entwicklung herbeigeführt werden. Man kann zum Beispiel damit beginnen, sich offen gegen den Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden auszusprechen, der die wichtigste Ursache für alle Krisen in der Türkei ist, insbesondere für die Wirtschaftskrise. Man kann gegen das ungesetzliche Isolationssystem auf İmralı Position beziehen. Man kann sich nicht nur gegen die eigene Unterdrückung wehren, sondern auch offen gegen die Unterdrückung des kurdischen Volkes und der demokratischen Politik durch den AKP/MHP-Faschismus aussprechen. Man kann offene Beziehungen und Diskussionen mit allen demokratischen Institutionen und Organisationen, insbesondere mit kurdischen Institutionen, aufnehmen.
Kurz gesagt, für die CHP unter Özgür Özel hat eine neue Phase begonnen und sie steht vor einer schweren Prüfung. Sie kann vorgezogene Wahlen auf die Tagesordnung setzen und einen Regierungswechsel anstreben, aber sie kann in ihrer derzeitigen Situation auch wichtige Demokratisierungsschritte unternehmen. Sie kann eine neue Mentalität und ein neues Programm vorlegen, das eine vollständige Demokratisierung der hundertjährigen Republik vorsieht. Wenn sie das tut, wird sie die Unterstützung der Kurdinnen und Kurden und aller demokratischen Kräfte finden. Dazu darf sie nicht zögern, sondern muss schnell handeln. Andernfalls wird sie den durch die Wahlergebnisse vom 31. März geschaffenen Demokratisierungskredit verlieren und eine schlimme Situation erleben, die einer Totgeburt gleicht.
Fußnote
1 Özgür Özel ist auf dem CHP-Parteitag am 5.11.2023 zum neuen Vorsitzenden der CHP gewählt worden.
Kurdistan Report 233 | Mai / Juni 2024
Trotz widrigster Umstände: Zapatistas feiern den Aufstand in Chiapas
Wir leben. Das heißt: Wir widerstehen.
Jan Klein, Aktivist für Basisdemokratie
Ein Besuch der Feierlichkeiten zum Jubiläum des Aufstandes von 1994 gibt Gelegenheit zu aktuellen Einblicken in die Realitäten im Süden Mexikos. Während Repression und Gewalt massiv zunehmen, gestalten die Zapatistas ihre Selbstverwaltung radikal um.
Die Einladung
Fast zwei Jahre lang war von den Zapatistas öffentlich kaum etwas zu vernehmen. Im Sommer und Herbst 2021 hatten rund 270 Vertreter:innen der Organisation fast alle Länder Europas bereist. An hunderten von Orten haben sie sich mit unzähligen Gruppen und Organisationen getroffen, um das Europa »von links und unten« kennen zu lernen. Seitdem gab es jedoch nur wenige Äußerungen über die offiziellen Kanäle, die sich vor allem auf aktuelle Anlässe bezogen.
Im Herbst letzten Jahres durchbrachen die Zapatistas diese Phase des Schweigens mit einer ganzen Serie von Kommuniques1. Sie zeichnen ein düsteres Bild von der Lage in Mexiko und auf der Welt. Zudem gaben sie bekannt, die Organe ihrer politischen Selbstverwaltung, die »Räte der guten Regierung« aufgelöst zu haben. Sie skizzierten eine neue Form der Selbstverwaltung, und schließlich luden sie ein zum 30-Jährigen Jubiläum des »Aufstands gegen das Vergessen«.
Was es zu feiern gibt
Am ersten Januar 1994 wurde die Welt vom Aufstand in Chiapas, einem vergessenen Winkel Mexikos, total überrascht. Die am stärksten marginalisierten Gruppe des Landes – Indigene in jenem südlichsten und ärmsten Bundesstaat – trat in der Silvesternacht ans Licht der Öffentlichkeit. Organisiert in der Guerrilla EZLN2 entwaffneten sie in dieser Nacht und den folgenden Tagen die herrschenden Großgrundbesitzer, nahmen die vier größten Städte der Region ein, stürmten Polizeiwachen und Armeeposten. Sie erklärten dem mexikanischen Staat den Krieg. Die folgende Gegenoffensive der Armee kostete über hundert Menschen das Leben, bis eine massive und unerwartete Mobilisierung der mexikanischen Zivilgesellschaft einen Waffenstillstand erreichte.
Die folgenden Friedensverhandlungen brach die EZLN später ab, da die Regierung Zusagen nicht einhielt und weiter Angriffe ausführte. Den Waffenstillstand halten die Zapatistas allerdings bis heute aufrecht. Einer anhaltenden Strategie der Aufstandsbekämpfung, die sich mal brutaler, mal subtiler zeigt, begegnen sie immer wieder mit zivilen Initiativen.
In ihren eigenen Gebieten fokussieren sich die Zapatistas auf den Ausbau ihrer Autonomie in allen Lebensbereichen und verweigern sich beharrlich der Kooperation mit staatlichen Strukturen. Sie organisieren Ernährung, Gesundheit, Bildung von unten und verwalten sich politisch selbst. Dabei arbeitet die Organisation konsequent daran, die Bevölkerung zu befähigen, sich selbst zu regieren.
Die Strahlkraft, die die Zapatistas auf progressive Gruppen quer durch die Lager ausüben, nutzen sie seit 1994 immer wieder dazu, diese Gruppen miteinander ins Gespräch und in gemeinsames Handeln zu bekommen. So wurden sie auch international zu einem wichtigen Kristallisationspunkt, unter dessen Einfluss sich weitere Strukturen entwickelten. Zu nennen sind zum Beispiel die mexikanische Vereinigung indigener Völker CNI, Peoples Global Action, die Antiglobalisierungsbewegung der 2000er Jahre, das Nachrichtennetzwerk indymedia, aber auch lokale Initiativen wie etwa eine migrantische nachbarschaftliche Basisorganisierung in New York3.
Die Delegation
Verschiedene Gruppen, die 2021 in Deutschland miteinander gearbeitet haben, um die zapatistischen Delegierten zu empfangen, fanden sich ab November 2023 in Onlinekonferenzen wieder zusammen. In Abstimmung mit Gruppen in anderen europäischen Ländern wurde eine Delegation zusammengestellt um der Einladung aus Chiapas zu folgen. Denn, so hatte es die EZLN formuliert: »Wenn ihr kommt, müsst ihr euch dafür sehr gut organisieren«.
Insgesamt sind wir knapp 40 Menschen in der Delegation, zum größten Teil aus Deutschland, aber auch aus Griechenland, Frankreich, Dänemark, Slowenien, England und Finnland. Wir nehmen nicht nur an den Feierlichkeiten teil, sondern wir haben auch noch die Gelegenheit, lange Gespräche mit Vertreter:innen der zapatistischen Führungsebene und mit verschiedenen lokalen Regierungsräten zu führen.
Kurz vor Weihnachten sammeln sich die ersten Vertreter:innen aus Deutschland in einem Zentrum in Mexiko-Stadt, um dort auf die Weiterreise zu warten. Die Zeit, die mit den nötigen Abstimmungen und Vorkehrungen vergeht, nutzen wir auch, um zwei Initiativen in der Stadt zu besuchen. Am ersten Weihnachtstag ist die Gruppe auf rund zwanzig Menschen gewachsen und bricht mit weiteren zwanzig Genoss:innen aus Mexiko in einem ersten Bus nach Chiapas auf. Dort folgt zunächst ein mehrtägiger Zwischenstop in San Christobal, bevor es endlich das OK gibt, direkt in die zapatistischen Gebiete zu fahren.
Gewalt durchzieht das Land
Die Anreise ist geprägt von hohen Sicherheitsvorkehrungen. Bestimmte Straßen und Gebiete werden umfahren, die Busse begleitet von Beobachter:innen eines Menschenrechtszentrums, unser Standort ständig weitergegeben, auf den letzten hundert Kilometern wird jeder Straßenabschnitt von lokalen Genoss:innen auf Auffälligkeiten geprüft. Waren es vor 20 Jahren vor allem Militärkontrollen, die Unannehmlichkeiten bereiten konnten, so weiß man heute nicht, ob man Paramilitärs, Mitgliedern von Drogenkartellen, Polizei, Militär oder einer beliebigen Kombination von ihnen begegnet.
Schon in Mexiko-Stadt und in den Gesprächen dort wurde deutlich, dass die Gewalt das Land wie eine Epidemie durchdringt. Ein enormes Thema ist das gewaltsame Verschwinden-lassen von Personen. Seit den 70er Jahren betraf dies vor allem linke Aktivist:innen. In den 2000er Jahren wurden besonders in den Grenzstädten zu den USA tausende vor allem junger Frauen »verschwunden gemacht«, wie es in Mexiko heißt. Inzwischen durchzieht dieses Phänomen das ganze Land und betrifft auch Männer. Die offizielle Zählung nennt inzwischen über 113.000 Verschwundene, bei einer Einwohnerzahl von knapp 130 Millionen. Die offensichtliche Ignoranz bis Komplizenschaft staatlicher Strukturen bei diesen Taten hat immer wieder zu wütenden feministischen Protesten geführt und im ganzen Land haben sich Gruppen von Angehörigen gebildet, die auf eigene Faust systematisch auf die Suche gehen – und dabei immer wieder Massengräber entdecken.
Dazu kommt eine erschreckende Normalität von Morden und Schießereien. Soziale oder ökologische Aktivist:innen und kritische Journalist:innen arbeiten in Mexiko schon lange unter Lebensgefahr. Wer auf die eine oder andere Weise wirtschaftliche Interessen von Machtgruppen inner- oder außerhalb des Staates bedroht, gerät schnell buchstäblich ins Visier. In jüngster Zeit ist zu diesen gezielten Attacken allerdings noch eine Form der zufälligen Gewalt hinzugekommen, die regelmäßg völlig Unbeteiligte trifft. Marcos, ein Genosse aus Michoacan beschreibt, dass die allgegenwärtige Drohung der Gewalt all diesen Machtgruppen zugute kommt: Sie zerstört das soziale Gefüge und macht somit Platz für das Recht des Stärkeren.
Diese Machtgruppen bilden dabei ein schwer durchschaubares Geflecht von legalen oder illegalen Wirtschaftsunternehmungen, Regierungsbeamten der verschiedenen Ebenen, Drogenkartellen, den verschiedensten Polizeiapparaten, Militäreinheiten und staatlich gegründeten Paramilitärs. Diese Gruppen sind mal verbündet, mal bekämpfen sie sich, und es ist von außen schwer einzuschätzen, unter wessen Kontrolle eigentlich gerade welche Einheit steht.
In diesem Ambiente reisen wir in die Täler von Ocosingo, ins Herz der Zapatistischen Bewegung, jener Gruppe, die es seit 30 Jahren schafft, sich dieser Gewaltlogik zu entziehen. Und gleichzeitig in ein Gebiet, in dem eine paramilitärische Gruppe seit Monaten immer wieder zapatistische Gemeinden mit Schusswaffen angreift und Menschen entführt.
Die Feierlichkeiten
Vier Tage dauert das Fest in Dolores Hidalgo, so der Name des Caracol, des zapatistischen Versammlungszentrums. Es mögen rund 5-6000 Menschen sein, die hier zusammenkommen. An den ersten zwei Tagen gestalten Zapatistas aus den verschiedenen Regionen des zapatistischen Gebietes das Programm. Wenig geschieht auf der großen Bühne – sondern das meiste auf einem mehrere Hektar großen Platz, an drei Seiten gesäumt von Bankreihen, die von extra gefertigten Dächern aus Holz und Palmwedeln beschattet werden. Einen großen Raum nehmen Theaterstücke ein – nicht selten mit 60 bis 100 Teilnehmenden – und erst spät verstehen wir, dass auf diese Weise die Basis der Organisation ihre Inhalte vermittelt. Sie führen ihre eigene Geschichte und Gegenwart auf: Von den Lebensbedingungen vor dem Aufstand, dem Leben Leibeigenschaft der Großgrundbesitzer. Sie erzählen von der schrittweisen Entwicklung ihrer Selbstorganisation – der autonomia – bis hin zu den aktuellen Veränderungen. Sie beschreiben, wie der Kapitalismus mit seinen Megaprojekten ihre Territorien und das Überleben der Menschheit bedroht. Und sie erklären in großen Szenen, mit Tanz, Kostümen, Bannern und Schildern, ein neues Prinzip: El comun, das Gemeinschaftliche, das Nicht-Eigentum.
Diese Darbietungen werden stets von hunderten Zuschauerinnen verfolgt – die Bankreihen um den Platz sind durchgehend voll besetzt von Zapatistas. Zum Tanz, der zu jeder Nacht hin anschließt, kommen weitere Menschen aus den umliegenden Dörfern hinzu.
Unübersehbar ist die Präsenz der Guerilla auf diesem Fest. Die gesamte Zufahrt und der Eingang ist gesäumt von Milician@s4 in der braun-grünen Uniform und mit Pasamontañas, den bekannten Sturmhauben vermummt. Und auch auf dem Gelände befinden sich überall Gruppen von ihnen, mal mit Auftrag, mal als Besucher:innen oder beim Tanz. Waffen bekommen wir keine zu sehen, doch jede*r von ihnen trägt zwei Knüppel und meist noch eine Machete bei sich. Bemerkenswerterweise hat sich niemand aus unserer Gruppe angesichts dieser Menge von Uniformierten und Vermummten unwohl gefühlt.
An den zwei weiteren Tagen wird das Programm von Beiträgen auswärtiger Gruppen bestimmt. Ausstellungen, Workshops, Musik und Tanzdarbietungen füllen die Tage, Tourniere in Fußball, Basketball und Volleyball finden häufig gleichzeitig statt – und an jedem Abend wird zu Livemusik getanzt.
Silvester feiern – zapatistisch
In der Silvesternacht werden wir Zeugen, wie sich zunächst vor der Bühne ein Bataillon von knapp 100 meist jungen Frauen formiert. Davon voll in Anspruch genommen bekommen wir nicht mit, dass sich am anderen Ende des Platzes völlig lautlos hunderte Milicianos in Reih und Glied aufgestellt haben. Was folgt ist eine Parade der zapatistischen Art: zunächst rücken die Frauen vor – im militärischen Schritt, ihre Stöcke im Takt aufeinander schlagend. Doch anstelle von Marschmusik erklingt dazu ein populärer Schlager. Dann rücken auf gleiche Weise die männlichen Milicianos vor, dicht an dicht, in einer Formation, die die gesamte Breite des Platzes ausfüllt, musikalisch begleitet von einer Cumbia5. Schließlich wechselt die Musik zu einem treibenden Ska – die Milicianas brechen aus der Formation und tanzen zu Panteon Rococo6 frei über den Platz, wild die Stöcke schwingend. Zum Ende des Stückes finden sie sich wieder in der Formation ein und die Parade setzt sich diszipliniert fort.
Spät in der Nacht gibt es die einzige politische Ansprache dieser Tage. Subcomandante Moises spricht eine knappe halbe Stunde – zunächst auf Tzeltal, einer der indigenen Sprachen der Region, dann auf Spanisch.
Bereit zur Gegenwehr
Auf der Bühne steht prominent eine Reihe leerer Stühle, und Moises beginnt seine Ansprache mit einer Aufzählung der Abwesenden: Die Buscadoras, also die Frauen, die ihre verschwundenen Angehörigen suchen, die Verschwundenen, die Ermordeten und die Gefallenen des Aufstands.
Die Rede ist kurz und dicht. Sie, die Zapatistas von heute, hätten ihre Aufgabe noch nicht erfüllt. Um zwei Dinge ginge es ihnen: Das Eigentum solle der Bevölkerung gehören, und Allgemeingut sein, und die Bevölkerung solle sich selbst regieren. Der Kapitalismus könne sich nicht humanisieren. Es gebe keine Anleitung für diesen Weg, den sie gehen – es seien die Praxis, die Taten, auf die es ankomme. Sie bräuchten niemanden, der ihnen vorschriebe, was sie zu machen hätten und sie würden niemandem sagen, wie es andernorts zu geschehen hätte. Diesen Weg wollen sie weiter gehen, und diesen Weg würden sie verteidigen. Dabei bezog er sich recht deutlich auch auf eine mögliche Konfrontation mit der mexikanischen Armee.
In sich stark – und doch allein?
Uns wurde deutlich, dass die zapatistische Bewegung trotz aller widrigen Umstände eine enorme Stärke hat. Das schiere Ausmaß der Versammlungszentren und der Feierlichkeiten machte uns deutlich, dass sie weiterhin auf eine enorme Anzahl von Beteiligten zählen kann und dass sie verdammt gut organisiert sind. Auch die Verbesserung der Lebensumstände in den autonom organisierten Gemeinden, der Stand von Gesundheitsversorgung und Bildung, ist beeindruckend.
Gleichzeitig sind anscheinend viele ehemals Verbündete weggebrochen. Die Beteiligung von Gruppen aus der mexikanischen wie auch internationalen Zivilgesellschaft war im Vergleich zu früheren Events doch ziemlich überschaubar. Auch in der Rede des Subcomandante klang dies an: »Wir sind so allein wie vor 30 Jahren.«
Einen wesentlichen Teil zu dieser relativen Isolierung dürfte die Politik des sozialdemokratischen Präsidenten Lopez Obrador beitragen. Viele unserer Gesprächspartner:innen berichten, dass viele ehemals Aktive aus sozialen Bewegungen inzwischen in regierungsnahe Organisationen eingebunden seien. Seit dem Amtsantritt von Lopez Obrador 2018 ist zudem eine intensive Medienkampagne gegen die Zapatistas zu beobachten. Seine Regierung treibt industrielle Großprojekte wie den so genannten Tren Maya7 voran, die von den Zapatistas und anderen indigenen Gruppen abgelehnt werden. Lopez Obrador pflegt – nachdem er sich in früheren Jahren auf Seiten der Bewegung positioniert hatte – eine Feindseligkeit gegenüber den Zapatistas, nachdem sie sich 2006 geweigert hatten, seinen Wahlkampf zu unterstützen.
Von links und unten …
Die Stärke der zapatistischen Organisierung hat ihre Grundlage in den autonomen Strukturen. Seit den ersten Wochen nach dem Aufstand bilden die Versammlungen in den Dörfern die Basis für die zivile Selbstorganisierung der Zapatistas. Stück für Stück haben sich daraus weitere Strukturen herausgebildet. Die Dörfer waren seit den 1990er Jahren in Autonomen Landkreisen organisiert, in denen mittels einer Rätestruktur alle wesentlichen Abstimmungen und Entscheidungen getroffen wurden. Dabei gilt bis heute das Grundprinzip, dass alle Lösungen so nah an der Basis gefunden werden wie möglich.
Für die Prozesse, die über die Autonomen Landkreise hinausgehen, gründeten die Zapatistas 2003 die Räte der guten Regierung. In fünf Caracoles, den großen Versammlungszentren, hatten diese ihren Sitz. Jeder Rat bestand aus rund 30 Vertreter:innen der Dörfer die für eine beschränkte Amtszeit gewählt wurden. Erklärtes Ziel bei der Gründung war, dass Jede*r in den zapatistischen Gebieten ein mal an den Räten beteiligt sein solle, damit alle lernten, wie man sich selbst regiert. Das Besondere an dieser Form der Regierung war ihre Konzeption: Sie war der Basis nicht nur rechenschaftspflichtig, sondern konnte im Grunde nur Vorschläge ausarbeiten, die von den Dörfern bestätigt oder angenommen werden mussten. Es handelte sich um eine Art Regierung ohne Regierungsgewalt. Eine Losung, die lange an den Eingängen zu zapatistischen Dörfern zu lesen war besagte: »Sie befinden sich auf zapatistischem Territorium. Hier gehorcht die Regierung und die Bevölkerung befiehlt.«
2019 weiteten die Zapatistas diese Form der Selbstverwaltung nochmals aus. Parallel zur Ausrufung weiterer Autonomer Landkreise eröffneten sie sieben neue Versammlungszentren und installierten dort ebenfalls Regierungsräte.
Im November 2023 gab die EZLN in einem Kommunique8 überraschend das »Ableben« der Autonomen Landkreise und der Räte der guten Regierung bekannt. Von einigen Medien wurde dies voreilig als das Ende der zapatistischen Selbstverwaltung interpretiert.
Die Bevölkerung ist die Regierung
Unser Eindruck, nach weiteren Kommuniques, aber vor allem auch den Gesprächen vor Ort ist ein anderer: Die Zapatistas haben die Struktur ihrer Selbstverwaltung radikal umgekrempelt und Abstimmungsprozesse noch stärker an die Basis verteilt als es bisher der Fall war.
Die Basis der neuen Struktur bilden die Autonomen Lokalen Regierungen (GAL9). Auch hier werden Beauftragte gewählt. Ihre Aufgaben bestehen allerdings in erster Linie darin, ansprechbar zu sein, zu identifizieren, wo Handlungsbedarf besteht und die notwendigen Informationen zusammenzutragen. Die Lösungsfindung oder das Treffen von Entscheidungen geschieht dann aber in Vollversammlungen des Dorfes. An die Stelle institutionalisierter Räte auf Ebene der Landkreise oder Regionen treten nun große Versammlungen, die nach Bedarf einberufen werden. Dort können dann, so unsere Gesprächspartner:innen, auch schon mal hunderte bis tausend Vertreter:innen der Dörfer zusammenkommen – und diese Versammlungen eine Woche oder zehn Tage andauern.
In den Treffen, die wir mit der zapatistischen Basis hatten, wurde deutlich, dass bei ihnen ein großer Teil der Erwachsenen mit spezifischen Aufgaben in der Selbstverwaltung betreut ist10. Zu der politischen Entscheidungsfindung kommen ja auch die weiteren Elemente der Selbstorganisation hinzu: Für Gesundheit und Bildung, Gerechtigkeit bzw. Justiz, für Agrarökologie und Produktion – in allen Bereichen gibt es Strukturen, die in den Dörfern verankert und regional vernetzt und organisiert sind.
Der aktuelle Umbruch war das Ergebnis eines langen Prozesses, in dem die Praxis der Selbstverwaltung analysiert wurde. Als die Guten Regierungen gegründet wurden hätten sie »die Pyramide umgedreht«, so ein häufiges Bild. Man habe einen Teil dessen kopiert, was die »schlechte Regierung« vorgemacht habe. Nun hätten sie erkannt, dass die Pyramide selbst das Problem sei, dass sie einen Abstand schaffe zwischen oben und unten. Darum hätten sie nun die Pyramide selbst abgeschafft.
Dennoch wurde die Zeit der Guten Regierungen von allen als wichtig erachtet. Man habe viel gelernt darin, es wäre ein Mittel gewesen, sich selbst zu befähigen. Dennoch sei diese Etappe nun vorbei, und sie haben etwas neues begonnen. Auch wenn sie nun von neuem herausfinden müssten, wie das praktisch funktioniert.
El comun – das Gemeinschaftliche
Das häufigste Wort der Feierlichkeiten, ja die einzige Losung die zu hören war, war el comun. In unsere Sprache würden wir es als »das Gemeinschaftliche, das Gemeineigentum«, als Allmende oder commons übersetzen. Die Zapatistas nennen diese Form auch das Nicht-Eigentum. In erster Linie bezieht sich el comun auf den Boden, das Land das zum kleinbäuerlichen Anbau genutzt wird. Mit der aktuellen Initiative laden die Zapatistas vor allem ihre Nachbar:innen, die nicht Teil der Organisation sind, zur gemeinschaftlichen Landnutzung ein. Einige Bedingungen dafür sind ausgesprochen: So darf dieses Land nicht verkauft und es dürfen darauf keine Drogen angebaut werden. Vor allem aber müssen die Interessent:innen eine Übereinkunft mit den organisierten Dörfern vor Ort finden. Mit dieser Ansatz folgen die Zapatistas einer Parole, die sie schon 1994 propagierten: »Alles für alle – für uns nichts«
El comun ist damit auch sicherlich als eine Gegenstrategie zu den fortlaufenden Aktivitäten der Regierung zu betrachten, die beharrlich unter immer neuen Namen Programme aufsetzt, die die Privatisierung und anschließende Veräußerung von Land fördert. Für die industriellen Megaprojekte sowie die Aktivitäten der Drogenkartelle11 sind gemeinschaftlicher Besitz und Verwaltung von Land Hindernisse, die es aus dem Weg zu räumen gilt. Für die indigenen Kleinbäuer:innen bedeutet dieses Land hingegen die Basis ihres Lebens und ihrer Kultur. Für die Zapatistas bildet es die Grundlage ihrer Autonomie.
In der mexikanischen Verfassung war der genossenschaftliche Landbesitz als Ejidos bis 1991 verankert. Im Zuge der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada wurde dieser jedoch gestrichen.
Das Gemeinschaftliche soll sich jedoch nicht nur auf die Landnutzung beziehen. Das zapatistische Gesundheitssystem und die Strukturen der Rechtsprechung stehen schon lange auch Nicht-Zapatist:innen offen und werden von diesen genutzt. Nun gibt es Überlegungen, wie sich dieser Ansatz auch auf andere Bereiche der Selbstorganisation ausweiten lässt.
Fazit
Die Zapatistas zeigen mit den aktuellen Veränderungen eine beeindruckende Fähigkeit, ihre Organisierung weiterzuentwickeln. Dabei bleiben sie nicht nur ihren Prinzipien treu, sondern schaffen es auch, ihrer Praxis wieder und wieder mehr Tiefe zu geben.
Viele sehen aktuell das zapatistische Projekt bedroht wie seit den 90ern nicht mehr. Die Veränderungen, die die Bewegung nun umsetzt, sind eine Reaktion auf die in vieler Hinsicht verschärften Bedingungen. Und gleichzeitig stärken sie einen Gegenentwurf zur kapitalistischen Gesellschaftsform, die dabei ist, die Erde in ihrer Gesamtheit zu zerstören.
Dabei denken die Zapatistas langfristig. Und wenn es nur eines gäbe, was wir in Europa von ihnen lernen könnten, dann wäre das mein Favorit.
Sie kämpfen dafür, so heißt es in einem der aktuellen Kommuniques »dass dieses Mädchen, welches in 120 Jahren geboren wird, frei ist und was immer es sein möchte. Somit kämpfen wir nicht dafür, dass es eine Zapatista oder eine Parteigängerin sein wird, sondern dass es, wenn es alt genug ist, wählen kann, welches sein Weg ist.«
Jan Klein ist aktiv in politischen Basisorganisierungen auf dem Land im Norden Deutschlands. Der Kontakt mit den Zapatistas vor über 20 Jahren hat ihn als politisches Subjekt gerettet. Seitdem beschäftigt ihn, was wir von den Zapatistas und anderen Bewegungen des globalen Südens lernen können.
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1 Nachzulesen sind sämtliche comunicados der EZLN in viele Sprachen übersetzt auf der Seite https://enlacezapatista.ezln.org.mx/
2 Ejercito Zapatista de Liberation Nacional – Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, benannt nach dem historischen Revolutionsführer Emiliano Zapata
3 In diesem Fall: Das Movement for Justice in El Barrio
4 Als milicianos und milicianas werden diejenigen Mitglieder der EZLN bezeichnet, die auch Teil der militärischen Struktur sind, aber weiter in ihren Gemeinden als Kleinbäuer:innen leben.
5 Cumbia ist (laut wikipedia.de) eine Musikrichtung, die vielschichtige Rhythmusstrukturen afrikanischen Ursprungs mit spanisch beeinflussten Melodien und lyrischen Formen vermischt.
6 Eine bekannte mexikanische Ska-Band. Das gespielte Stück La Carencia ist auch in Europa bekannt geworden und behandelt die sozialen Bedingungen im Land.
7 Tren Maya – »Maya-Zug« ist ein großes Eisenbahn- und Infrastrukturprojekt, mit dem der Süden Mexikos industriell und touristisch stärker erschlossen werden soll. Es wird betrieben vom mexikanischen Militär.
8 Nachzulesen auf https://www.chiapas.eu/news.php?id=12154
9 Gobierno Autonomo Local
10 Dies gilt zumindest in den Tälern von Oventic, der Region, die wir bereisen konnten.
11 Die Kartelle haben ihr Geschäftsmodell längst diversifiziert – neben Menschenhandel und Erpressungen gehören auch Bergbau, der Handel mit Avocados oder Tropenhölzern zu großen Einnahmequellen.
Kurdistan Report 233 | Mai / Juni 2024