Soziologie der Freiheit – Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage
Das Mentalitätsproblem der Gesellschaft
Abdullah Öcalan
In den letzten Ausgaben des Kurdistan Reports haben wir angefangen, Texte aus dem Kapitel »Die gesellschaftliche Frage« in Band 3 der »Gefängnisschriften – Manifest der demokratischen Zivilisation« von Abdullah Öcalan abzudrucken. Wir begannen mit »Das Problem von Macht und Staat« und fuhren mit »Das gesellschaftliche Problem von Moral und Politik«, dem zweiten Teil des Kapitels in der letzten Ausgabe fort. In dieser Ausgabe des Kurdistan Reports wird »Das Mentalitätsproblem der Gesellschaft« reflektiert, der dritte Teil des Kapitels.
Eine der ersten Voraussetzungen dafür, eine Gesellschaft der Ausbeutung zu öffnen, ist zweifellos, sie der Moral und Politik zu berauben. Ohne den Niedergang der gesellschaftlichen Mentalität, der Basis dieser beiden Gefüge, herbeizuführen, kann dieser Raub nicht durchgeführt werden. Aus diesem Grund konstruierten die Herrschenden und die ausbeuterischen Monopole im Laufe der Geschichte immer zuerst die ›Hegemonie über die Mentalität‹. Dass die sumerischen Priester, um in der sumerischen Gesellschaft für Produktivität zu sorgen, also um sie der Ausbeutung zu öffnen, als Erstes Tempel (Zikkurate) errichteten, ist ein eindeutiger Beweis dieser Tatsache. Es ist von großer Wichtigkeit, sich die Funktion des sumerischen Tempels als heute noch fortwirkenden historischen Ursprung der Entstellung und Eroberung des gesellschaftlichen Verstandes vor Augen zu halten.
Ich habe mit Nachdruck betont, dass die gesellschaftliche Natur eine äußerst flexible geistige Struktur ist. Ohne vollständig zu begreifen, dass die Gesellschaft die intelligenteste Natur ist, kann man keine sinnvolle Soziologie entwickeln. Deswegen betrachteten es die Despoten, Herrschenden und Hinterlistigen als ihre oberste Aufgabe, zuerst die Intelligenz und das Denkvermögen der Gesellschaft zu schwächen und als erstes Monopol das Mentalitätsmonopol, also den Tempel, zu errichten. Dieser ursprüngliche Tempel erfüllte zwei Funktionen zugleich. Erstens war er als Mittel der geistigen Herrschaft, als hegemoniales Mittel äußerst wichtig. Zweitens stellte er ein geeignetes Mittel dar, um der Gesellschaft ihre ureigenen geistigen Werte zu entreißen.
Die ureigene Mentalität der Gesellschaft, als Begriff, bedarf eines guten Verständnisses. Als die Menschheit den ersten Stein und den ersten Stock in die Hand nahm, hatte sie eine Arbeit im Kopf. Es handelte sich dabei nicht um einen Instinkt, sondern um den Keim des analytischen Denkens. Der gesellschaftliche Fortschritt durch das Sammeln von Erfahrungen ist im Wesentlichen diese Konzentration des Denkens. Je mehr Erfahrungen eine Gesellschaft sammelt und je mehr sie folglich ihr Denken intensiviert, desto mehr gewinnt sie an Fähigkeiten und Kraft. Sie ernährt, schützt und reproduziert sich effektiver. Dieser Prozess erklärt, was gesellschaftlicher Fortschritt ist und warum ihm eine große Bedeutung zukommt. Indem die Gesellschaft sich selbst ständig zum Denken bringt, bildet sie ihre moralische Tradition, die wir auch als kollektive Intelligenz oder Gewissen bezeichnen, also ihr kollektives Denken. Die Moral ist aus diesem Grund sehr wichtig, denn sie ist der wertvollste Schatz und der Erfahrungsreichtum der Gesellschaft, der Grund ihres Weiterbestehens, das Hauptorgan ihres Überlebens und Fortschritts. Die Gesellschaft weiß sehr genau, dass sie zerfallen würde, sobald sie dies verliert. Deswegen legt sie mit der Schärfe ihrer Instinkte großen Wert auf die Moral. In den alten Klan- und Stammesgesellschaften stand auf das Nichteinhalten der moralischen Regeln entweder die Todesstrafe oder der Ausschluss aus der Gesellschaft, wodurch die Gesellschaftsmitglieder dem Tod ausgeliefert waren. Selbst dem ›Ehrenmord‹ liegen – wenn auch in sehr verzerrter Form – diese Regeln zugrunde.
Während die Moral die Tradition des kollektiven Denkens repräsentiert, erfüllt die Politik eine etwas andere Funktion. Um über aktuelle kollektive Angelegenheiten zu diskutieren und zu entscheiden, bedarf es der Denkkraft. Für die Politik ist die Produktion aktueller, kreativer Gedanken unabdingbar. Die Gesellschaft weiß wiederum sehr genau, dass man weder politisches Denken schaffen noch Politik betreiben kann, ohne sich als Quelle und Gedankenreichtum auf die Moral zu stützen. Die Politik ist ein unerlässliches Aktionsfeld für alltägliche kollektive Angelegenheiten (Gemeinwohl). Auch wenn es unterschiedliche, ja sogar konträre Meinungen gibt, muss man diskutieren, um über gesellschaftliche Angelegenheiten Entscheidungen zu treffen. Eine Gesellschaft ohne Politik ist eine, die entweder wie eine Tierherde sich an die Regeln anderer hält oder wie ein enthauptetes Huhn herumspringt. Die Denkfähigkeit ist keine Überbauinstitution, sondern das Gehirn der Gesellschaft, wobei Moral und Politik ihre Organe bilden.
Ein weiteres gesellschaftliches Organ ist selbstverständlich der Tempel als heiliger Ort. Allerdings war dieser Tempel nicht der der hegemonialen Macht (Hierarchie und Staat), sondern der heilige Ort der Gesellschaft selbst. Dieser heilige Ort der Gesellschaft selbst nimmt bei archäologischen Funden einen Ehrenplatz ein. Er ist vielleicht das einzige bedeutende Gebäude, das bis heute bestehen blieb. Das kann kein Zufall sein. Der erste heilige Ort der Gesellschaft ist der Ort, wo die ganze Vergangenheit, alle Ahnen, die Identität und das ihr Gemeinsame vertreten werden. Er ist ein Ort gemeinsamen Andenkens und Betens. Er ist ein Ort des sich an sich selbst Erinnerns und des Gedenkens, ein Zeichen dafür, dass man Zukunftsweisendes schafft, und ein wichtiger Grund des Beisammenseins. Die Gesellschaft war sich dessen bewusst, dass der Tempel eine umso größere Repräsentationsfähigkeit und Bedeutung erlangte, je auffälliger und prachtvoller er gebaut, je mehr seine Lage eines schönen Lebens würdig war. Deswegen wurde Pracht am meisten an Tempeln zur Schau gestellt. Wie es auch am sumerischen Beispiel ersichtlich wird, war der Tempel gleichzeitig das Lager von Produktionsmitteln und die Unterkunft von Werktätigen. Er war also der Ort kollektiver Arbeit. Er war nicht nur ein Gebetsraum, sondern auch ein Ort der gemeinsamen Diskussion und Entscheidung. Er war das politische Zentrum, das Handwerkerhaus, ein Ort von Erfindungen. Er war das Zentrum, an dem Architekten und Gelehrte ihre Fertigkeiten ausprobierten. Er war das erste Modell einer Akademie. Es ist kein Zufall, dass Tempel im Altertum gleichzeitig Zentren der Orakel bildeten. Diese ganzen Faktoren und noch Hunderte andere zeigen die Bedeutung von Tempeln. Diese Institution kann man ruhig als das ideologische Zentrum der gesellschaftlichen Mentalität bezeichnen.
Die Megalithen bei Urfa sind zwölftausend Jahre alt. Als dort ein Tempel errichtet wurde, hatte die landwirtschaftliche Revolution noch nicht stattgefunden. Aber es ist offensichtlich, dass für die Bearbeitung und das Aufstellen jener Megalithen die Existenz sehr fortgeschrittener Menschen und daher einer sehr fortgeschrittenen Gesellschaft voraussetzten. Wer waren sie? Wie sprachen sie? Wie ernährten sie sich? Wie pflanzten sie sich fort? Wie waren ihre Gedanken und Sitten? Wie sicherten sie ihren Unterhalt? Überhaupt keine Spur einer Antwort auf all diese Fragen. Das Einzige, was davon übrig blieb, sind die Ruinen von Megalithen und – mit großer Wahrscheinlichkeit – eines Tempels. Da einfache Bauern selbst heute noch nicht in der Lage wären, diese Steine zu bearbeiten, hinaufzubefördern und aufzustellen, dürften die Menschen, die es taten, und ihre Gesellschaft nicht rückständiger gewesen sein als die heutigen Bauern und Dorfgesellschaften. In Bezug auf solche Aspekte können wir nur Vermutungen aufstellen. Urfas Heiligkeit erreicht uns – wenn auch auf Umwegen – vielleicht wie ein Fluss, dessen Quelle in dieser Tradition liegt, die älter ist als die geschriebene Geschichte.1 In diesem Sinne diskutiere ich nicht die Existenz und Bedeutung des gesellschaftlichen Tempels, sondern des hegemonialen Tempels.
Ägyptische Priester spielten bei der Entstehung des hegemonialen Tempels eine zumindest ebenso große Rolle wie sumerische. Indische Brahmanen standen ägyptischen Priestern in nichts nach. Die Tempel Fernen Osten waren den sumerischen und ägyptischen ebenbürtig. Auch die südamerikanischen Tempel waren hegemonialer Art. Nicht ohne Grund wurden in diesen Tempeln junge Menschen geopfert. Die herrschenden Tempel aller Zivilisationsären waren hegemonial – wie die Kopien eines Originals. Die Hauptfunktion dieser Zentren war die Bereitstellung der Gesellschaft zur Nutzung zugunsten der Herrschenden. Während der militärische Arm des Monopols grauenvollerweise Häupter von Rümpfen trennte, um sie im Bau von Burgen und Wehrmauern zu verwenden, arbeitete auch ihr geistlicher Arm durch Eroberung der Mentalität auf dasselbe Ziel hin. Beide Tätigkeiten lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, um bei der Versklavung von Gemeinschaften eine Rolle zu spielen. Während das eine Schrecken erzeugte, erzeugte das andere Zustimmung. Wer kann die Kontinuität der Jahrtausende alten Zivilisationsgesellschaft in Bezug auf dieses Vorgehen negieren?
Die hegemoniale europäische Zivilisation hat in dieser Hinsicht ihre Form verändert, ihr Wesen aber gänzlich bewahrt. Dass die riesigen nationalstaatlichen Apparate über der Gesellschaft sich nicht auf diese Veränderung beschränkten, sondern die Gesellschaft, in deren innerste Poren sie eindrangen, von sich abhängig machten, ist eine Alltagsbeobachtung. Was ist es, was von Universitäten, Akademien und unter ihnen Ober-, Mittel- und Grundschulen und Kindergärten betrieben und von Kirchen, Synagogen und Moscheen ergänzt und geschärft wird, wenn nicht die Eroberung, Besetzung, Assimilierung und Kolonialisierung der Überreste des gesellschaftlichen Verstandes und ihrer moralischen und politischen Gefüge? Es ist also kein Geschwätz, wenn manche wertvollen Denker sagen, die ›Vermassung‹ der Gesellschaft sei ihre Verherdung. Zudem ist die Erinnerung daran, dass diese Kolonialisierung des Verstandes zur faschistischen Gesellschaft führt, noch frisch. Auch dieses Blutbad der neueren Geschichte war das Ergebnis dieser Eroberung der Mentalität.
Es würde nicht schaden zu wiederholen: Wenn man mit den Ikonen des Nationalismus, Religionismus, Sexismus, Sportismus und Artismus wedelt, lassen sich die Massen zu jedem beliebigen Ziel führen. Die Eroberung des Verstandes bildet die Grundlage einer Entwicklung, die die Gesellschaft dem globalen Finanzkapital in einem Ausmaß ausliefert, wie keine Gewalt es vermöchte. Vor den sumerischen Priestern und den Tempeln, die sie erfanden, muss man nochmals salutieren! Welch große Eroberer ihr wart, sodass eure heutigen Vertreter in ihren Tempeln trotz der fünftausend Jahre, die seitdem vergangen sind, die größte Kapitalakkumulation der Geschichte vollbringen, ohne einen Finger zu krümmen! Selbst die stärksten Gottesbilder und -schatten (zilullah) konnten keinen solch großen Gewinn einbringen. Also stellt die stetige und kumulative Kapitalakkumulation keinen gegenstandslosen Begriff dar. Die geistigen Verdrehungen sind also keine einfachen Operationen. Dr. Hikmet Kıvılcımlı und der italienische Denker Antonio Gramsci saßen in den Gefängnissen einer Zeit, in welcher der Nationalstaat am meisten verherrlicht wurde, als sie ähnliche Definitionen der hegemonialen Eroberung entwickelten. Was sie wussten, wussten sie aus ihren eigenen Erfahrungen. Auch ich bin in letzter Instanz ein ›Gefangener‹ des globalen Kapitals. Es nicht richtig zu erkennen, wäre als Person meines Verstandes (meiner Identität) ein Verrat am ureigenen Verstand der Gesellschaft.
Fußnote
1 Zur Heiligkeit Urfas siehe auch Abdullah Öcalans Essay Urfa – Segen und Fluch einer Stadt, Münster 2019.
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024
Das Paradigma der demokratischen Nation in Nord- und Ostsyrien
Die Kommune ist der Kern der Gesellschaft
Orhan Kendal, Autor
Dieser Text wurde uns dankenswerterweise von »Demokratik Modernite1« zur Verfügung gestellt. Er setzt sich mit den Vorstellungen auseinander, die dem sozial-ökonomischem Aufbau der Autonomen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien zu Grunde liegen.
Es heißt, der Mittlere Osten sei die kulturelle Wiege der Menschheit. Dies wird durch aktuelle Forschungen mehr und mehr belegt. Allerdings wurden in der gleichen Region auch alle sozialen Probleme durchlebt. Im positiven wie im negativen Sinne also ist dieses Gebiet die Wiege aller Anfänge. Die Kultur der neolithischen Gesellschaft entstand dort und verbreitete sich über die ganze Welt. Seit Tausenden von Jahren wurde hier die natürlichste und schönste Form der Gesellschaftlichkeit gelebt. Doch so wie die Völker des Mittleren Ostens die paradiesischen Elemente Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit erlebt haben, haben diese Gesellschaften auch den Schmerz, die Verfolgung und die Massaker erlebt, die durch Macht und Sklaverei verursacht wurden. Daher birgt die Region sowohl Lösungen und Alternativen als auch Probleme. Sie bietet denjenigen, die sie zu erforschen und zu nutzen wissen, einen gewaltigen Fundus.
So wie die Menschheit in diesen Ländern eine neolithische Revolution hervorgebracht hat, wird sie auf dieser Grundlage die Gelegenheit finden, ihr verfallenes Gesellschaftssystem zu erneuern.
Das Paradigma der demokratischen Nation basiert auf diesen historischen Wurzeln der Gesellschaft und zeigt, dass eine demokratische Gesellschaft möglich ist – wie eine Eiche, die an ihrem Stamm nachwächst.
Mit der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien wird ein Sozialgefüge entwickelt, das auf dieser Geschichte fußt. Die Grundzüge und die konkrete Umsetzung dieses demokratischen Systems strahlen in alle Welt aus und zeigen, dass »eine andere Welt möglich« ist.
Aus diesem Grund versuchen herrschaftskritische Menschen und Strukturen diese Erfahrung näher kennen zu lernen, durch Teilnahme neue Erfahrungen zu sammeln, oder sich in ihren eigenen Ländern und Kämpfen dadurch inspirieren zu lassen.
Gegenstand dieses Artikels sind die Grundzüge des von der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien entwickelten Systems, das auf dem Paradigma der Demokratischen Nation beruht, und der Grad ihrer Verwirklichung.
Wer sich dem Staat zuwendet wird von ihm verstaatlicht und vereinnahmt
Das soziale System, das in Nord- und Ostsyrien aufgebaut wird, basiert auf einer nicht-staatlichen demokratischen Nationenbildung. Man kann dies auch als radikale Demokratie bezeichnen. Diese soziale Konstruktion ist weder eine Erweiterung noch ein Teil des Staates. Eine Staatsbildung, die eine Form von Machtstruktur ist, stünde im Widerspruch zu dem von Abdullah Öcalan entwickelten ökologischen, demokratischen und frauenbefreienden Paradigma. Einer der Hauptfaktoren für das Scheitern aller sozialistischen Revolutionen ist ihre Einbindung in das Macht- und Staatssystem. Der Niedergang des Realsozialismus hat gezeigt, dass die Ziele des Sozialismus und des Kommunalismus nicht durch Verstaatlichung erreicht werden können. Selbst 70 Jahre Bestand konnten Zusammenbruch und Zerfall nicht verhindern. Der Staat ist das Grundgerüst, der Körper der kapitalistischen Moderne und des fünftausend-jährigen Herrschaftssystems, auf dem er beruht. Die Mentalität der Macht ist sein Kern. Mit einem derart korrumpierten Werkzeug sind die richtigen Ziele nicht zu verwirklichen. Wer den Staat für soziale Zwecke nutzen will, kommt nicht umhin, sich in den Dienst des Staates zu stellen. Jede Macht schafft hierarchische Verhältnisse um sie herum.
Soziale Systeme, die auf Macht beruhen, bringen dominante Systeme hervor, die auf Klassen und Schichten beruhen. Die Staatlichkeit ist deren offensichtlichste Form, sie macht sich zum Selbstzweck und versucht, sich in den Augen der Gesellschaft durch die von ihr aufgestellten Regeln zu legitimieren.
Sie versucht, sich der Gesellschaft aufzuzwingen, indem sie sich hinter tausend Verkleidungen, verschiedenen Masken und immer hinter Lügen versteckt. Sie versucht, die Macht als soziales Regieren und den Gewaltapparat als die Notwendigkeit der sozialen Verteidigung darzustellen. Im Laufe der Geschichte hat jedoch kein Staat jemals für die Gesellschaft und für soziale Interessen funktioniert. Jeder Staat verfolgt die Interessen der herrschenden Klasse. Aus diesem Grund kann die volksfeindliche, antisoziale Funktion des Staates nicht beseitigt werden, egal welchen Namen wir ihm geben, egal mit welchem Adjektiv wir ihn schmücken. Bezeichnungen wie demokratischer Staat, Volksstaat oder sozialistischer Staat ändern nichts daran.
Also besteht der größte Irrtum der revolutionären Bewegungen und sozialistischen Revolutionen darin, dass sie nach der Revolution versuchen, sich der Macht und des Staates zu bemächtigen. Abdullah Öcalan hat dies mit dem von ihm entwickelten Paradigma überwunden. Diesem Paradigma zufolge sind Staat und Gesellschaft, Macht und Demokratie gegensätzliche Phänomene. Wo es das eine gibt, kann es das andere nicht geben. Selbst in vorübergehenden Perioden, in denen sie koexistieren müssen, gilt: Je stärker der Staat, desto schwächer die Gesellschaft und die Demokratie. Umgekehrt gilt: Je stärker und besser organisiert Gesellschaft und Demokratie sind, desto schwächer und kleiner ist der Staat. In diesem Verständnis, das wir radikale Demokratie nennen, gibt es die Organisation und Selbstverwaltung der Gesellschaft nur außerhalb des Staates.
Der Sozialismus ist – wie jegliche soziale Befreiung – keine Zukunftsprojektion, deren Verwirklichung wir auf später verschieben: Er muss heute und als Lebensform aufgebaut werden. Wenn der gesellschaftliche Aufbau mit einem demokratischen Verständnis und in einer umfassenden Weise organisiert wird, wird das sozialistische, kommunalistische Fundament der Gesellschaft fest etabliert sein.
Die Gesellschaft in Nord- und Ostsyrien organisiert sich in diesem Sinne. Sie hat ihre autonome Verwaltung auf der Grundlage der demokratischen Nation organisiert. Der Begriff der demokratischen Nation wurde als Alternative zum an Herrschaft orientierten und an den Staat gebundenen Nationalismus entwickelt. Die Verkörperung der nationalistischen Mentalität ist der Nationalstaat. Die Verkörperung der Mentalität der demokratischen Nation ist die demokratische Autonomie bzw. der demokratische Konföderalismus. Die demokratische Nation in Nord- und Ostsyrien basiert auf Öcalans Paradigma und ist als nichtstaatliches konföderales System organisiert. Im Nationalstaat wird die Gesellschaft hierarchisch von oben nach unten dominierend von einem Zentrum aus regiert – von Selbstverwaltung kann hier nicht die Rede sein. Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien hingegen, die im Sinne des demokratischen Konföderalismus von unten nach oben organisiert ist, wurde als demokratische Selbstverwaltung der Gesellschaft strukturiert.
Das zweite grundlegende Merkmal einer demokratischen Gesellschaft bezeichnen wir als »tiefe Demokratie«: Die Verankerung einer demokratischen Haltung beim einzelnen Menschen und in der Gesellschaft. Der Aufbau einer radikalen Demokratie jenseits des Staates ist wichtig und notwendig, aber er allein reicht nicht aus, um eine demokratische Gesellschaft und eine demokratische Nation zu bilden. Die demokratische Mentalität muss die Menschen überzeugen, zur Schaffung einer Gesellschaft aus demokratischen Persönlichkeiten; nur so kann dem Missbrauch demokratischer Strukturen entgegengewirkt werden.
Kann zum Beispiel ein demokratisches System, das auf Gleichheit, Freiheit und den gemeinschaftlichen Werten der Gesellschaft beruht, mit ausschließlich feudalen oder kapitalistischen, egoistischen Persönlichkeiten entwickelt werden? Natürlich ist das nicht möglich.
Die Gesellschaft ist seit Jahrtausenden durch die herrschende Mentalität und das Staatssystem von ihren eigenen Werten und ihrem politischen Bewusstsein entfremdet worden. Die Gesellschaft und das Individuum wurden zu Objekten gemacht, an denen mit Hilfe des Staats alle möglichen Einsparungen und Operationen exerziert werden. In einer solchen Gesellschaft ist zuallererst eine Revolution der Mentalität erforderlich. Ein neues und demokratisches System kann nicht mit alten Persönlichkeiten und Mentalitäten aufgebaut werden. Die Gesellschaft und der Einzelne müssen die Mentalität der Revolution annehmen und ein politisches Bewusstsein erlangen.
Aus diesem Grund hat die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien die Bildung der Bevölkerung als grundlegendes Anliegen auf ihre Agenda gesetzt. Allen Teilen der Bevölkerung soll – ohne zwischen Männern und Frauen, Kindern oder älteren Menschen zu unterscheiden – die Möglichkeit zur Bildung gegeben werden. Infolgedessen wurden in Dutzenden von Bereichen Fortbildungskurse organisiert und Akademien eröffnet. Eigenständige und autonome Frauenakademien, Jugendakademien, Bildungen für Politik, Diplomatie, Wirtschaft, Gesundheit, Recht, Selbstverteidigung usw. Tausende von Menschen werden jedes Jahr in Dutzenden von Akademien ausgebildet. Innerhalb des Systems der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien gehören die Bildungseinrichtungen zu den wichtigsten. Die Gesellschaft, deren Existenz und Kultur sowie Sprache bisher verleugnet und in Schulen des arabisch orientierten Regimes geprägt wurde, erhält nun Bildungsmöglichkeiten, die ihrer eigenen sozialen und historischen Realität entsprechen.
Die Akademien sind eine der vier Säulen des demokratischen konföderalen Systems. Die anderen sind die Organisationen der Gesellschaft auf der Grundlage von Gemeinden, Versammlungen und Genossenschaften. Ohne diese vier Säulen kann das System nur schwerlich seinem Zweck entsprechend funktionieren.
Wenn das Ziel der tiefen Demokratie ein Mentalitätswandel und die Überwindung alter Mentalitäten und Persönlichkeiten ist, dann ist eine der wichtigsten Säulen die (auch mentale) Verwirklichung der Gleichheit zwischen den Geschlechtern, oder, anders gesagt, das Bewusstsein der Freiheit der Frauen. Der Grad der Freiheit der Frauen in einer Gesellschaft bestimmt auch den Grad der Freiheit dieser Gesellschaft. In einer Kulturlandschaft wie dem Nahen Osten, in der Religion, Dogmatismus und feudale Verhältnisse vorherrschen, hatte die Frau einen sklavenähnlichen Status. Die Interessengemeinschaft von Staat, Religion und herrschender Klasse haben die Frauen dazu verdammt. Alle Herrschaftsverhältnisse scheinen auf dieser Sklaverei der Frauen zu beruhen.
Aus diesem Grund hat Abdullah Öcalan analysiert, dass Frauen das erste Geschlecht, die erste Nation und die erste Klasse sind, die unterdrückt, ausgebeutet und versklavt werden. Jede Macht, die der Freiheit und Gleichheit feindlich gesinnt ist, hat die Frauen angefeindet, sie zu Hause eingesperrt, sie in Tücher und Schleier gehüllt und sie damit entmenschlicht. Wir sprechen von einer Gesellschaft, die diese Machtverhältnisse und die Sklaverei seit über fünftausend Jahren tradiert hat. Solange die Frauen in der Gesellschaft nicht von diesen Fesseln befreit sind, können wir nicht von einer demokratischen Gesellschaft sprechen. Hier müssen wir mit den gesellschaftlichen Veränderungen beginnen.
Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien sieht die Befreiung der Frauen von allen reaktionären Bindungen und ihre gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen vor. Die Frauen schaffen die Institutionen, die dies ermöglichen, mit ihren eigenen Händen. Diese Möglichkeiten werden nicht als Gunst des Mannes oder einer anderen Macht geschaffen, sondern durch das eigene Bewusstsein, den freien Willen und die eigene Kraft der Frau.
Frauen nehmen, zusammen mit den Männern, frei an Regierung, Krieg, Wirtschaft, Politik, Diplomatie und Kultur teil. Das »freie Zusammenleben«, wie Öcalan sagt, sieht ein demokratisches Leben vor, in dem Frauen in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mitwirken. Die Vertretung basiert nicht auf einem Quotensystem, sondern auf einer gleichberechtigten Ko-Vertretung. Die Institution des Ko-Vorsitzes wurde auf allen Verwaltungsebenen geschaffen. Die Gleichheit in der Verwaltung ist die Grundlage für weitere gleiche Anteile. Wenn es in der Verwaltung, die wir als soziales Gehirn definieren, gleiche und gemeinsame Anteile gibt, wird das soziale System, das wir als Körper bezeichnen, entsprechend an Substanz und Form gewinnen.
Frauen können nicht nur ihre eigenen einzigartigen und autonomen Organisationen und Verwaltungen aufbauen, sondern dank der Grundsätze und des Systems des Ko-Vorsitzes und der paritätischen Vertretung auch gleichberechtigt an den Angelegenheiten der gesellschaftlichen Verwaltung teilnehmen. In jeder Institution wurde eine autonome Organisation von Frauen, die in diesem Bereich arbeiten, gegründet. Im militärischen Bereich haben die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) ebenfalls ihren festen Platz eingenommen.
Überall treffen Frauen in autonomen Frauenstrukturen Entscheidungen über sich selbst und lassen keinen Raum für die Kontrolle durch Männer.
Damit bestimmen die Frauen wirklich ihr eigenes Schicksal und ihre Zukunft in dem in Nord- und Ostsyrien entstandenen System. Dem Ziel, eine Gesellschaft von Frauen mit freiem Willen zu schaffen, wird mit diesen Organisationen und großen Anstrengungen Schritt für Schritt näher gekommen. Während die Frauen in der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien in allen Ortschaften und auf allen Ebenen organisiert sind, hat sich ihre allgemeine Dachorganisation unter dem Namen »Kongra Star« gebildet. Kongra Star ist die oberste Koordinations- und Verwaltungsstelle der landesweit konföderal organisierten Frauenorganisation. Es ist nicht nur die Aufgabe der Frauen, die Linie der Frauenbefreiung weiterzuentwickeln und gegen die dominante männliche Mentalität zu kämpfen. Es sind nicht nur die Frauen, die Freiheit brauchen. Die Männer müssen diese Mentalität zuallererst in sich selbst analysieren und bekämpfen und damit selbst der Freiheit näher kommen.
Soziale Befreiung kann nicht verwirklicht werden, ohne die bestehenden Identitäten von Männlichkeit und Weiblichkeit, die durch das etatistische2 System geschaffen wurden, abzulehnen und ohne an ihrer Stelle demokratische, gleiche und freie männliche und weibliche Identitäten aufzubauen.
Demokratische Selbstverwaltung
Eines der wichtigsten Merkmale der demokratischen Nation ist, dass sie eine Nation der Vielfalt und Unterschiede ist. Nationale, religiöse, sprachliche und kulturelle Unterschiede in der Gesellschaft sollten nicht die Ursache für Widersprüche und Konflikte sein. Die nationalstaatliche Mentalität hat die Völker jedoch so sehr mit Nationalismus vergiftet, dass diese Unterschiede als Gründe für Kriege und Massaker herhalten müssen. Der Nationalstaat stellt eine ethnische Struktur, eine Sprache und eine Kultur in den Mittelpunkt und macht sie dominant, während er versucht, alle anderen Sprachen und Kulturen in ihm aufzulösen. In diesem Sinne spielt der Nationalstaat die Rolle eines vollständigen Völkermords an der Gesellschaft. In den letzten zwei Jahrhunderten wurden antisoziale Maßnahmen und Operationen wie Völkermord, kulturelle Assimilierung usw. durch diesen Nationalismus untermauert. Nationalismus bringt immer Faschismus hervor. Hitler ist das deutlichste Beispiel dafür. Der Faschismus ist jedoch kein Phänomen, das nur auf eine bestimmte Zeit in Deutschland beschränkt ist. Faschismus gibt es überall dort, wo es einen Nationalstaat und Nationalismus gibt. Es gibt lediglich graduelle Unterschiede.
Der Nationalstaat, der die Macht- und Staatsform der kapitalistischen Moderne ist, dient der herrschenden Klasse dazu, mehr Profit zu machen und Kapital anzuhäufen. Mit sozialen Werten hat er nichts zu tun. Die Religion und der Glaube des Nationalstaates sind Profit und Kapital. Im Laufe der Geschichte hat keine andere Staatsform so sehr für Profit und Kapitalakkumulation die Gesellschaft ausgenutzt. Wie ein Bulldozer ist die nationalstaatliche Macht über die Gesellschaft gerollt, um den Interessen der herrschenden Klasse gerecht zu werden.
Mit Social-Engineering-Projekten hat sie die Gesellschaft gebrochen und geschnitten, sie beschnitten und versucht, sie in eine Form zu pressen. Der Nationalstaat ist die Zwangsjacke der Gesellschaft. Eine der Hauptursachen für die Kriege, Konflikte und das Leid im Nahen Osten in den letzten zwei Jahrhunderten ist diese Mentalität des Nationalismus und die Durchsetzung des Nationalstaates. Solange das nicht überwunden und eine Alternative geschaffen wird, hat die Gesellschaft keine Chance, in Frieden zusammenzuleben. Eine weitere Ursache für Widersprüche und Konflikte sind die Religion, die Sekten und der Glaube, die von den Herrschenden benutzt und in den Dienst des Staates gestellt werden.
Eine Religion gegen eine andere Religion, eine Sekte gegen eine andere Sekte einzusetzen, ist eine Methode und Politik, die auf die Tradition der Staatsführung im Nahen Osten zurückgeht. Auf nationaler Ebene ist das Gegenstück zu jeder Art von individualistischem, egozentrischem und egoistischem Verständnis der Nationalismus, und das Gegenstück zum Glauben ist der religiöse Fanatismus. Diese Mentalität, die die eigene Religion und Nationalität als groß, heilig und aller Dinge würdig ansieht und sie über andere stellt, um jene zu beherrschen, auf das Niveau von Sklaven und Dienern zu reduzieren und auszugrenzen, spaltet die Gesellschaft und führt zu Spannungen.
In diesem Sinne ist das Verständnis der demokratischen Nation von einzigartigem Wert als ein Paradigma, das eine radikale Lösung für soziale Probleme bietet. Die demokratische Nation zielt darauf ab, alle Arten von Nationalismus, religiösen Fanatismus und Sexismus zu bekämpfen, sie zu überwinden und eine Alternative zu schaffen. Sie sieht soziale Unterschiede nicht als Ursache von Widersprüchen und Konflikten, sondern als eine Realität und einen Reichtum der Gesellschaft. Sie begünstigt nicht den einen und macht den anderen nicht zum Feind. Das liegt daran, dass die demokratische Nation kein Interesse oder Ziel hat, Macht und Hegemonie zu etablieren. Sie repräsentiert nicht die Interessen einer Klasse oder Schicht, sondern basiert auf den Interessen der Gesellschaft. Damit soll sichergestellt werden, dass diese sich selbst organisieren und erhalten kann. Jedes Volk und jede Nation hat das Recht, seine eigene Sprache und Kultur in ihrer Gesamtheit zu leben und zu pflegen.
Jede Religion und Weltanschauung sollte die Möglichkeit haben, ihren Glauben frei zu praktizieren und zu verehren. Auch Frauen sollten die Möglichkeit haben, auf der Grundlage der Gleichberechtigung frei an der Gesellschaft teilzunehmen. All diese Phänomene sollten nicht zur Disposition oder unter der Kontrolle von irgend jemandem stehen.
Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien baut ihr soziales System in diesem Sinne auf. Alle Völker wie Kurden, Araber, Assyrer, Assyrer, Armenier, Tscherkessen usw. können sich innerhalb der demokratischen Nation frei äußern. Ebenso können Muslime, Christen, Êzîden usw., unabhängig von ihrer Religion und ihrem Glauben, ihren eigenen Glauben frei leben. So können die Menschen mit ihren kulturellen Unterschieden frei zusammenleben, ohne dass es zu Widersprüchen und Feindschaften kommt. Unter der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien werden Vorurteile, künstliche Widersprüche, ablehnende, verleugnende und ausgrenzende Auffassungen zwischen Völkern, Religionen und Glaubensrichtungen mit dem demokratischen Nationalbewusstsein beseitigt, und Geschwisterlichkeit, Freundschaft und gegenseitiger Respekt vor den Unterschieden nehmen von Tag zu Tag sichtbar zu. Verschiedene Völker und Glaubensrichtungen entwickeln nicht nur ihre eigenen autonomen Regierungen, sondern schließen sich auch mit anderen Strukturen in einem demokratischen konföderalen Stil zusammen. So können sie zum Beispiel nicht nur ihre eigene Kultur und Kunst entwickeln, sondern sich auch mit anderen Völkern zu gemeinsamen Festen und Veranstaltungen treffen. Dieser kulturelle Reichtum verleiht der gesamten Gesellschaft eine große ästhetische und geistige Kraft.
Homogene Gesellschaften sind in der Welt die Ausnahme – Gesellschaften, die aus Unterschieden bestehen, die Mehrheit. Der revolutionäre Kampf und das aufzubauende sozialistische System müssen Lösungen finden, die dieser Realität Rechnung tragen. Das Konzept der demokratischen Nation wurde aus dieser Notwendigkeit heraus geboren und nimmt in Nord- und Ostsyrien allmählich Gestalt an. Die Nation ist eine sozial-kulturelle Form. In der Geschichte haben sich soziale Formen wie Clan, Sippe, Stamm, Stämme, zur heutigen Nation entwickelt. Wie die Nation politisch organisiert wird, ist jedoch eine Frage der Präferenz, d. h. der ideologischen Auslegung. Hier steht das monistische, nationalistische, herrschende Nationenverständnis gegen die Perspektive, die die soziale Wahrheit auf der Grundlage einer demokratischen Nation betrachtet und auf egalitärem, libertärem und geschwisterlichem Teilen basiert. Während die erste die Interessen der herrschenden kapitalistischen Klasse und des auf dieser Grundlage gebildeten Nationalstaates bedient, bezieht sich die zweite Interpretation auf die Interpretation der demokratischen Nation, die auf den Interessen des Volkes und der gesamten Gesellschaft beruht, egal wie vielfältig sie ist. So wie Nation definiert und interpretiert wird, nach welchen Prinzipien und Zielen sie organisiert werden soll, kurzum, mit welcher Mentalität an sie herangegangen wird, so wird ihr Gerüst. Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien baut ihr Gesellschaftssystem auf der Grundlage des Verständnisses von demokratischer Nationalität auf und versucht, sich durch demokratische Selbstverwaltung zu regieren.
Die Tatsache, dass es arabischen, kurdischen, assyrischen, êzîdischen und anderen Völkern und Glaubensrichtungen gelungen ist, unter der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien seit mehr als zehn Jahren in geschwisterlicher Koexistenz mit einem demokratischen Nationalverständnis zusammenzuleben, verspricht große Hoffnungen für die Zukunft, insbesondere in einer Geographie, in der das syrische Regime und die kolonialistischen Staaten zu allen möglichen Methoden gegriffen haben, um arabisch-kurdische Widersprüche und Konflikte zu schaffen. Die größte Angst der Regionalstaaten und der imperialistischen Hegemonialmächte besteht darin, dass dieses demokratische Modell real erprobt wird und sich als Alternative zur kapitalistischen Moderne und dem Nationalstaat erweist. Aus diesem Grund nehmen die Invasions- und Vernichtungsangriffe gegen die autonome Verwaltung von Tag zu Tag zu. Die autonome Verwaltung und das demokratische konföderale System sollen erstickt und liquidiert werden, bevor sie zu einem Beispiel und einer Quelle der Inspiration für die Völker der Welt werden. Es wird versucht, die arabisch-kurdischen Gegensätze zu vertiefen und die Glaubensunterschiede zum Problem zu machen. Trotzdem schließen sich die Völker Nord- und Ostsyriens auf der Grundlage der demokratischen Nationalität immer mehr zusammen und leisten Schulter an Schulter Widerstand gegen die Angriffe.
Die Kommune ist der Kern der Gesellschaft
Eine der grundlegenden Mentalitäten, die eine tiefe Demokratie erfordert, ist die Verinnerlichung des ökologischen Bewusstseins. Die liberale Ideologie des kapitalistischen Systems sieht die Natur als Objekt und hält sich für berechtigt, vollständig über sie zu verfügen. Es zögert nicht, sowohl die Gesellschaft als auch die Natur auszuplündern, um Profit und mehr Kapital zu gewinnen. Kein moralisches Prinzip hindert es daran. So wie Macht und Hierarchie in der Gesellschaft etabliert werden, liegt es in der Natur des kapitalistischen Individualismus, die Natur zu beherrschen und Profit aus ihr zu schlagen. Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien setzt diesem naturfeindlichen Verständnis ein ökologisches Bewusstsein entgegen und kämpft dagegen an. Sie akzeptiert den freundlichen und friedlichen Umgang mit der Natur als Lebensstil. Von der Urbanisierung bis zur wirtschaftlichen Produktion, von den kommunalen Dienstleistungen bis zum täglichen Leben basiert es darauf, der Natur nicht zu schaden und mit ihr im Einklang zu sein. Im ökologischen Bewusstsein reicht es nicht aus, die Natur nicht zu schädigen.
Es liegt auch in der Verantwortung des Menschen, die zerstörte Natur wiederherzustellen und zu stärken. Luft, Wasser und Boden sind die Lebensquellen der Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die ihre eigenen Lebensquellen austrocknet, kann auf Dauer nicht überleben. Innerhalb der autonomen Verwaltung wurde ein Ökologieausschuss eingerichtet. Durch die Einrichtung ökologischer Organisationen in allen Bereichen wird sowohl das Bewusstsein der Gesellschaft geschärft als auch gegen umweltfeindliche Praktiken gekämpft. Ökologische Bereiche und Studien werden als Modelle entwickelt.
Während auf der Grundlage der demokratischen Nation eine demokratische Gesellschaft aufgebaut wird, ist ein weiteres grundlegendes Merkmal des sich in Nord- und Ostsyrien entwickelnden Gesellschaftssystems, dass es gemeinschaftlich ist. Das Gemeinschaftsleben ist eine Alternative zu Klassen- und allen Arten von Hierarchie- und Machtstrukturen. Das Gemeinschaftsleben ist das Gegenmittel zu Individualismus und Egoismus.
Die Kommune ist die zentrale Organisation der Gesellschaft. Wenn wir vom Aufbau einer neuen demokratischen Gesellschaft sprechen, meinen wir nicht die Erschaffung eines Gottes oder ein neues, in der Geschichte noch nie dagewesenes soziales Ingenieurprojekt. 98 Prozent der Menschheitsgeschichte wurden auf gemeinschaftlicher Basis gelebt; die Ausnahme ist nicht der Kommunalismus, sondern die individualistische, klassenmäßige, staatliche Ordnung. Die neolithischen Gemeinschaften haben als demokratische Zivilisation seit Jahrtausenden ein gemeinschaftliches Leben auf der Grundlage von Gleichheit und Freiheit geführt, ohne Ausbeutung, Macht und Klassifizierung zuzulassen. Was gemeinschaftlich ist, ist bereits demokratisch. Dann muss das Demokratische auch gemeinschaftlich sein. Was wir heute in Nord- und Ostsyrien tun wollen, ist, ein Gesellschaftssystem zu aktualisieren, das auf den gemeinschaftlichen Werten der Gesellschaft auf der Grundlage dieser historischen Referenz basiert. Wenn die Angriffe, Regulierungen und alle Arten von Verzerrungen, die mit der Mentalität der Macht verbunden sind, die der Gesellschaft den Atem raubt, beseitigt werden, kann die Gesellschaft zur Besinnung kommen und ihr Leben auf demokratische Weise neu organisieren. Dieses Leben wird natürlich gemeinschaftlich sein. Soziale Probleme werden von der Mentalität der Macht verursacht. Die Werte und Maßnahmen, die die Gesellschaft zusammenhalten, sind gemeinschaftlich.
Die autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien stützt sich auf Tausende von Gemeinden, die sich aus Dörfern und Straßenzügen zusammensetzen. Die Gesellschaft ist lokal in Form von Gemeinden organisiert. Jede einzelne Person ist Mitglied einer oder mehrerer Gemeinden. Es gibt kein einziges Individuum außerhalb der Kommune. Die Kommune ist die wichtigste Säule der lokalen Verwaltung. Die Gemeinden haben den Willen und die Befugnis, Entscheidungen über ihren eigenen Lebensraum zu treffen. Es ist Sache der Kommune, Entscheidungen über sich selbst zu treffen und die Verantwortung für diese Entscheidungen zu übernehmen, ohne von einem externen Willen oder einem Machtzentrum abhängig zu sein. Um die eigenen Probleme zu diskutieren und die richtigen Entscheidungen zu treffen, muss jedes Mitglied der Kommune ein politisches Bewusstsein haben. Die Kommune setzt sich also aus freien Individuen zusammen, aus Individuen mit politischem Bewusstsein. Eine Dimension der demokratischen Nation ist daher das freie Individuum und die demokratische Kommune. Das eine kann ohne das andere nicht existieren.
Die autonome Verwaltung und der demokratische, konföderale Organisationsstil, der aus Gemeinden und Versammlungen besteht und bei dem die Autorität und der Wille vom Lokalen zum Allgemeinen geht, bietet den Menschen eine enorme Chance. Durch dieses demokratische System ist es möglich, sich selbst als verantwortlich für den sozialen Bereich zu sehen, die Möglichkeit zu haben, Probleme zu lösen und das Individuum zu einem Subjekt mit freiem Willen zu machen.
Die Selbstverwaltungen, die der sozialen Koordination dienen, angefangen von den Dorf- und Straßengemeinschaften über die Bezirks- und Stadtversammlungen bis hin zu den kantonalen und regionalen Versammlungen, geben jedem Einzelnen und jeder Gemeinde die Möglichkeit, Politik zu bestimmen. Als Dachorganisation und Einheit der Menschen in Nord- und Ostsyrien fungiert die autonome Verwaltung als koordinierende Verwaltung aller lokalen Selbstverwaltungen. Die autonome Verwaltung ist kein hierarchisches, machtorientiertes Zentrum. Sie ist das Gegenteil des bürokratischen Staates. Die lokalen Gemeinschaften haben Entscheidungs- und Handlungsbefugnisse in ihrem eigenen Bereich. In Angelegenheiten, die den größeren geografischen Raum und die Bevölkerung betreffen, nehmen sie durch ihre eigenen Vertreter an den übergeordneten Versammlungen und Verwaltungen teil und treffen gemeinsame Entscheidungen. Selbst wenn eine Dorfgemeinschaft eine falsche Entscheidung in Bezug auf das dörfliche Leben trifft, hat sie die Möglichkeit, diese selbst zu überdenken und neu zu bewerten und bessere Entscheidungen zu treffen. Als diejenigen, die die lokalen Verhältnisse am besten kennen, können die Mitglieder der Dorfgemeinschaft das auch besser als jemand Außenstehendes.
Bisher wurden die Menschen zu Objekten gemacht, weil die Machtzentren den Menschen die Möglichkeit genommen haben, ihre Politik selbst zu bestimmen. Politik ist kein Fachgebiet. Und sie ist auch keine »Staatsangelegenheit«. Der Staat macht keine Politik, er steuert das Leben, indem er es mit seinen Regeln und seiner Bürokratie einfriert. Politik ist im Wesentlichen die Behandlung sozialer Angelegenheiten, in der Entscheidungen durch gemeinsame Diskussion entwickelt werden. Sie wirkt in allen Bereichen der Gesellschaft, von der Verteidigung bis zur Wirtschaft, vom Gesundheitswesen bis zur Bildung. Der Staat hat dadurch viel zerstört, dass er die Politik aus der Gesellschaft herausgelöst und die Gesellschaft politikunfähig gemacht hat. Deshalb müssen sich die Menschen in der Gesellschaft die Politik wieder aneignen. Mit der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien geschieht genau das im Rahmen des demokratischen Konföderalismus. Eine Gesellschaft, die aus politisch bewussten Subjekten besteht, ist gesund und widerstandsfähig. Die Mentalität zu schaffen und die Mechanismen dafür zu organisieren, steht im Vordergrund der Bemühungen der autonomen Verwaltung. Die Gemeinden und Versammlungen sind die unabdingbare Voraussetzung für das soziale System und die politischen Instrumente der Gesellschaft. Das kommunale Leben ist nicht nur eine Organisation und ein Mechanismus – es ist auch wie eine Schule, in der das freie Individuum heranwächst.
Eine wirklich demokratische Struktur ist in der kapitalistischen Moderne und dem nationalstaatlichen System nicht möglich. Die alle vier oder fünf Jahre stattfindenden Wahlen sind nichts weiter als eine Täuschung. Sie sind ein Mittel für den Staat, sich in den Augen der Gesellschaft zu legitimieren. Die durch diese Wahlen bestimmten Regierungen, die als Teil einer repräsentativen Demokratie bezeichnet werden, haben keinen wirklichen Willen und keine Initiativkraft. Sie können nicht viel im Namen des Volkes und der Gesellschaft tun. Das liegt daran, dass sie innerhalb des staatlichen Systems durch das Gesetz und andere Zwangsmechanismen eingeengt sind. Aus diesem System auszubrechen wird nicht geduldet. Sie würden zur Zielscheibe von Verschwörungen, würden aus Versammlungen und Verwaltungen ausgeschlossen, können gefoltert und inhaftiert werden, und sie können Opfer von Attentaten werden. Unzählige Beispiele dafür wurden in der Geschichte in vielen Ländern erlebt.
Im demokratischen Verständnis gibt es statt der formalen repräsentativen Demokratie die direkte Demokratie. Das Volk ist berechtigt, an allen gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen teilzunehmen und seine Führung zu wählen. Die Gewählten bleiben gegenüber der gewählten Organisation und der Gemeinschaft rechenschaftspflichtig und können jederzeit abgewählt und ersetzt werden. Mit anderen Worten: Die gewählte Person ist das Sprachrohr dieser Gemeinschaft. Er/sie hat nicht die Befugnis, selbständig Entscheidungen zu treffen. Er/sie vertritt die Gedanken und Vorschläge der Gemeinde oder Versammlung, der er/sie angehört, in einer übergeordneten Koordinationsstufe. Diese Fragen sind im Gesellschaftsvertrag der autonomen Verwaltung klar geregelt.
Zwei weitere wichtige Bereiche, auf die sich die von den Völkern Nord- und Ostsyriens gebildete autonome Verwaltung stützt, sind die Selbstverteidigung und die Organisation der Sozialwirtschaft. Die Selbstverteidigung ist ein obligatorischer und legitimer Mechanismus, der von allen Lebewesen entwickelt wird. Wie bei jedem Lebewesen ist die Selbstverteidigung sowohl ein Recht als auch eine Pflicht für eine Gesellschaft. Gewalt und Krieg sind von der Selbstverteidigung zu trennen. Bei Kriegen geht es um Machtausübung, Besatzung und Ausbeutung. Selbstverteidigung ist der Reflex der Gesellschaft, sich zu schützen. Da die Gesellschaft nicht nur reflexartig handeln kann, muss sie sich so organisieren, dass sie sich am besten gegen Angriffe verteidigen kann und auf dieser Grundlage Maßnahmen ergreifen.
In Nationalstaaten dienen Armee, Polizei und alle Arten von militaristischen Strukturen dem Schutz der Interessen der herrschenden Klasse. Aber in der demokratischen Nation, wie sie sich in der Praxis der Selbstverwaltung zeigt, wurden militärische Maßnahmen und Organisationen ergriffen, um sich gegen Angriffe zu verteidigen. Die Gesellschaft muss sich mit ihrer eigenen Kraft verteidigen. Sie muss ihre eigene Macht offenlegen und organisieren, um gegen Angriffe zu überleben und ihre durch die Revolution gewonnenen gesellschaftlichen Werte zu schützen. Organisationen wie YPG, YPJ, HPC (Soziale Verteidigungskräfte), QSD (Demokratische Syrische Kräfte) und Asayîş wurden gegründet, um die Gesellschaft in diesem Rahmen gegen interne und externe Angriffe zu verteidigen. Diese Strukturen, die innerhalb der autonomen Verwaltung gegen die Besatzungsangriffe der Kolonialmächte und Banden wie ISIS organisiert sind, haben große Erfahrungen gesammelt.
Eine Revolution kann nur überleben, wenn die Wirtschaft den kapitalistischen Marktbedingungen entzogen wird. Die Wurzel aller Sklaverei und allen Übels ist die Mentalität der Macht. In Verbindung damit haben sich Individualismus, Egoismus und Gier entwickelt. Das Begehren und der Raub gesellschaftlicher Werte sind die Folge davon. Solange die Anhäufung von Kapital ein Selbstzweck ist, wird es ein Krebsgeschwür für die Gesellschaft sein. Der Kapitalismus ist weder eine Gesellschaftsform noch eine Ökonomie, wie manche ihn definieren. Er ist eine Macht und ein Monopol über die Gesellschaft und die Wirtschaft. Er ist ein System der Ausbeutung und des Raubes. Die Alternative zum Kapitalismus ist eine sozial orientierte Wirtschaft, die sich auf kollektiver und gemeinschaftlicher Basis entwickelt. Wenn die demokratische Nation auf der Gemeinschaftlichkeit beruht, muss auch die Wirtschaftsstruktur, die eine Grundlage der Gesellschaft bildet, gemeinschaftlich sein. In der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien wird eine kommunale Wirtschaft auf der Basis von Gemeinden und Genossenschaften entwickelt.
Das Ziel ist, jede Gemeinde zu einer Genossenschaft und jede Genossenschaft zu einer Gemeinde zu machen. Hunderte von Genossenschaften sind bereits gegründet worden. Obwohl sie noch nicht zu einem dominierenden Wirtschaftssystem auf der gewünschten Ebene geworden sind, wurden in dieser Hinsicht gewisse Fortschritte erzielt. Seit zehn Jahren werden Erfahrungen und Kenntnisse gesammelt. Der Handel und der Markt werden im öffentlichen Interesse organisiert. Monopole und Macht über die Wirtschaft sind nicht erlaubt. Autonome Wirtschaftsorganisationen von Frauen und genossenschaftliche Erfahrungen ermöglichen es vielen Frauen, aus eigener Kraft am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen und auf eigenen Füßen zu stehen, ohne von jemandem abhängig zu sein. Wirtschaftliche Abhängigkeit bedingt viele Formen der Abhängigkeit. Eine Frau, die sich wirtschaftlich selbst versorgt, ist eine Frau, die einen wichtigen Schritt in Richtung Freiheit getan und Selbstvertrauen gewonnen hat. Die willensstarke Haltung der Frauen in der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien hängt damit zusammen, dass das demokratische System eine freie und gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht.
Infolgedessen blüht inmitten des Nahen Ostens eine Hoffnung auf. Die Völker und Glaubensrichtungen, die sich auf der Grundlage der demokratischen Nation zusammenfinden, bauen ein Gesellschaftssystem auf, das auf ihrer eigenen Kraft beruht. Diese Erfahrung der demokratischen Gesellschaft ist keine lokale, marginale Struktur. Dieses demokratische Modell mit universellen Grundsätzen lässt sich auf jeden Teil der Welt übertragen. Es erhebt den Anspruch, Lösungen für alle sozialen Probleme zu bieten und wird seit zehn Jahren in die Praxis umgesetzt und mit Leben gefüllt. Dieser Prozess speist sich fortlaufend aus der Praxis und ist noch lange nicht beendet. Jeden Tag stärkt es sein soziales System mit den durchlebten Erfahrungen. Dies ist von einzigartigem Wert für die gesamte Menschheit. Es ist die Pflicht und Verantwortung aller fortschrittlichen, demokratischen und antikapitalistischen Menschen, die Selbstverteidigung der Völker Nord- und Ostsyriens, die sich im Rahmen der demokratischen Nation gegen die Angriffe des kapitalistischen Systems zusammengefunden haben, ihre Bemühungen zum Schutz ihres eigenen sozialen Systems und den Widerstand, den sie unter großen Opfern entwickelt haben, zu unterstützen und sich mit ihnen zu solidarisieren.
Fußnoten
1 https://demokratikmodernite.org/
2 l’Etat (französisch): der Staat. Etatistisch: staatlich orientiert
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024
Die Entwicklung der Revolution und der Literatur hängen zusammen
Die Revolution schafft ihre eigene Literatur
Interview mit Nerîman Evdikê
Nerîman Evdikê, Sprecherin des Literaturrats von Nord- und Ostsyrien, erklärte, dass die Revolution in Rojava noch jung sei und sagte: »Die wahre Literatur dieser Revolution wird erst entstehen«. Sie betonte, dass es an Ausdruck und Reflexion der Revolution in der Literatur fehle und dass es noch keine Werke gebe, die die Revolution wirklich widerspiegelten, aber dass es zu früh sei für die Frage, ob die Literatur eine Antwort auf die Revolution sei.
Nerîman Evdikê, Sprecherin des Literaturrats von Nord- und Ostsyrien, sprach mit der Nachrichtenagentur ANF über die literarische Arbeit, die Schwierigkeiten und die Entwicklung der kurdischen Literatur während der Revolution. Sie erklärt, dass die literarische Arbeit in Nord- und Ostsyrien nicht isoliert von der vorrevolutionären Zeit betrachtet werden könne: »Die Literaturwissenschaft oder die kurdische Literatur hat sich nicht erst mit der Revolution entwickelt. Alles, was heute gemacht wird, hat sich auf der Grundlage des Erbes entwickelt, das uns hinterlassen wurde. Wir hatten schon vor der Revolution Schriftsteller:innen und Dichter:innen. Sie haben große Anstrengungen unternommen und hatten mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Ihre jahrelange Arbeit und ihr Kampf haben den Grundstein für das gelegt, was wir heute haben.
Der Literaturrat hat eine große Verantwortung
Nerîman Evdikê stellte fest, dass sich mit der Revolution in Rojava die Bedingungen verändert haben, Möglichkeiten geschaffen und viele Errungenschaften erzielt wurden und die Literaturwissenschaft eine Erleichterung erfahren hat, sie fährt so fort: »Viele unserer Schriftsteller:innen und Intellektuellen, die vor der Revolution in diesem Bereich tätig waren, sind nicht an die nun vorhandenen Möglichkeiten gewöhnt, und für die meisten von ihnen erscheinen die geschaffenen Möglichkeiten selbst heute noch wie ein Traum. Es gibt Schwierigkeiten, diese Möglichkeiten zu nutzen. Wie gesagt, es gibt eine Infrastruktur, es gibt eine große Zahl an Schriftsteller:innen, Forscher:innen und Dichter:innen, und nach der Revolution ist eine neue Generation herangewachsen. Diese neue Generation von Schreibenden ist auch sehr begabt und kompetent. Es ist wichtig, sie zusammenzubringen und dafür zu sorgen, dass mehr schöne Dinge entstehen. Die Verantwortung dafür liegt zu einem großen Teil beim Vorstand des Literaturrats. Wir haben Druckmaschinen, wir haben Zeitschriften, Literaturfestivals werden organisiert. Kurdische Werke können jetzt frei verbreitet werden. Wir können unsere Bücher zu Buchmessen im Ausland schicken. Das sind natürlich alles wichtige und wertvolle Entwicklungen für uns.«
Wir stellen uns unseren Defiziten
Nerîman Evdikê stellt fest, dass die mit der Revolution entstandenen Möglichkeiten nicht ausreichend genutzt wurden und auf Unzulänglichkeiten stießen, und sagte: »Die Widersprüche zwischen alten und jungen Schriftsteller:innen erschweren das Gleichgewicht zwischen Alt und Neu. Jetzt gibt es eine Literatur, die sich mit der neuen Generation entwickelt, und es gibt viele Veränderungen sowohl in der Form der geschriebenen Werke als auch in ihrem Inhalt. Es hat eine große Revolution stattgefunden, es gibt Möglichkeiten, die durch die Revolution geschaffen wurden, es gibt Veränderungen in verschiedenen Hinsichten. Deshalb gibt es viele Unterschiede zwischen einem heute verfassten Werk und einem, das vor 20 Jahren geschrieben wurde. Ein:e Autor:in ist die gleiche Person, die Technik und die Idee sind die gleichen, aber es findet eine Revolution statt, und diese Revolution wird sich definitiv auf das Schreiben auswirken. Die Auswirkungen der Revolution werden sich in allen Werken widerspiegeln, von der Poesie bis zum Roman, von der Erzählung bis zum Artikel. In diesem Sinne können wir nicht sagen, dass es in Rojava keine revolutionäre Literatur gibt, aber leider haben wir Defizite.
Es gibt kein Werk, das die Revolution wirklich widerspiegelt
Wir erleben etwas Großes und Heiliges. Wir erleben eine Revolution, die in der Geschichte vielleicht ohne Beispiel ist. Es fehlt uns sehr daran, diese Revolution in der Literatur auszudrücken und widerzuspiegeln. Es gibt noch kein Werk, das diese Revolution wirklich widerspiegelt. Wir können nicht sagen, dass es überhaupt keines gibt, natürlich gibt es solche Werke, aber die gegenwärtige Situation der Literatur entspricht noch nicht dem Stadium, das die Revolution erreicht hat.
Die Revolution wird eine jüngere und authentischere Literatur hervorbringen. Natürlich ist die Revolution noch jung, und wir sollten nichts überstürzen. Die wahre Literatur dieser Revolution wird sich in der Zukunft noch zeigen. Die Werte, die diese Revolution geschaffen hat, können noch 50 Jahre lang studiert werden. Wir erleben die Revolution jeden Tag, jeden Tag ist die Revolution Angriffen und großem Leid ausgesetzt. Natürlich glaube ich, dass es Zeit braucht, um sie so zu reflektieren, wie sie ist, in dem Geist und der Psychologie, in der sie gelebt wird. Ich glaube, dass noch viel mehr Anstrengungen nötig sind, um all dem epischen Potenzial und dem Heldentum, das die Revolution in sich trägt, gerecht zu werden. In diesem Sinne halte ich es für verfrüht zu fragen, ob die jetzige Literatur die Antwort auf die Revolution ist.«
Alte Menschen lesen keine neuen Werke
Nerîman Evdikê stellt fest, dass die alten und erfahrenen Schriftsteller:innen und Dichter:innen gegenüber der neuen Generation voreingenommen sind und ihr Vorwürfe machen; sie sagte: »Eines unserer Hauptprobleme ist, dass die alte Generation die Werke der neuen Generation nicht liest. Beide lesen und kritisieren nicht viel. Es gibt eine alte Generation, die ständig Vorwürfe macht und ihre Missbilligung ausdrückt. Auf der anderen Seite gibt es eine Generation, die in der Revolution aufgewachsen ist, mit der Revolution gelebt hat und mit der kurdischen Sprache aufgewachsen ist. Wenn wir früher ein paar Sätze aus dem Werk eines Autors in kurdischer Sprache gelesen haben, war das für uns etwas ganz anderes, es war für uns ein großer Erfolg. Heute schreiben unsere Jugendlichen ganz selbstverständlich Bücher auf Kurdisch. Für sie gibt es kein Sprachproblem, kein Problem, ihre eigenen Werke zu veröffentlichen und zu vertreiben. Die neue Generation denkt nicht über Probleme, Schwierigkeiten und Hindernisse nach. Sie passt sich einfach dem an, was sie schreibt. Auf diese Weise kann sie die Idee oder die Botschaft vermitteln, die sie vermitteln will.
Es gibt eine große Kluft zwischen der älteren und der jüngeren Generation. Die jungen Menschen profitieren nicht von den Erfahrungen der Älteren und die Älteren unterstützen die Jungen nicht, nehmen sie nicht an die Hand und wollen ihnen nicht als Lehrende zur Seite stehen. Diese Situation verschärft das Problem. Wer in Zukunft die Werke von heute liest, wird die große Kluft zwischen ihnen viel leichter erkennen können. Diese beiden Generationen müssen einander nähergebracht werden. Es ist notwendig, sie in gemeinsamen Veranstaltungen zusammenzubringen und dafür zu sorgen, dass beide Seiten ihre Werke lesen und vorstellen. Deshalb organisieren wir von Zeit zu Zeit solche Veranstaltungen. Manchmal sind die Älteren von den Werken der jungen Schriftsteller:innen überrascht. Und wenn ihnen ein Werk gefällt oder sie über eines erstaunt sind, wissen sie nicht, dass der oder die junge Schriftsteller:in auch weitere Bücher veröffentlicht hat, weil sie sie nicht gelesen haben. Da unsere alten Schriftsteller:innen und Dichter:innen die Werke der neuen Generation nicht lesen, wissen sie nicht, wie gut oder schlecht die bisher veröffentlichten Werke sind. Da niemand von ihnen eine Meinung zu den bislang erschienenen Werken hat, bleiben diese, wenn sie große Mängel aufweisen, so, wie sie sind.«
Das Hauptproblem ist der Mangel an Kritiker:innen
Nerîman Evdikê sagt, dass eines der grundlegendsten Probleme in Rojava der Mangel an starken Literaturkritiker:innen ist, die die kurdischen Werke kritisieren und bewerten können, und erklärte: »Eines unserer Hauptprobleme ist eine mangelnde Literaturkritik. Es gibt keine Bewertung und Analyse der Werke. Es gibt niemanden, die oder der jemandem sagt, hier hast du einen Fehler gemacht oder so wäre es besser gewesen. Unser Hauptproblem ist also das Fehlen einer Kritik.
Kurdisch ist stärker benachteiligt
In Rojava wird Literatur auf Arabisch und Kurdisch veröffentlicht. Diejenigen, die auf Arabisch schreiben, haben verschiedene Möglichkeiten, aber diejenigen, die auf Kurdisch schreiben, haben diese Möglichkeiten nicht. Die, die auf Arabisch schreiben, veröffentlichen in Rojava, aber wenn sie wollen, können sie ihr Werk auch in einen arabischen Staat schicken und dort veröffentlichen. Selbst wenn sie es nicht als Buch veröffentlichen, können sie es an viele Literaturkritiker:innen schicken und deren Meinung einholen. Manchmal werden auch Rezensionen zu diesen Büchern geschrieben. In diesem Fall hat ein Buch die Chance, beworben zu werden, und die oder der Autor:in kann anhand der Meinungen und Kritiken sehen, was besser gemacht werden kann. Diejenigen, die auf Kurdisch schreiben, haben diese Möglichkeit nicht. Ich bin eine von ihnen. Ich weiß, dass die Bücher, die ich veröffentlichen werde, innerhalb der Grenzen bleiben werden. Wir haben keine Kritiker:innen, die ein kurdisches Werk beurteilen und kritisieren könnten.
Lesekomitee gegründet
Aus diesem Grund bildet der Literaturrat seit einigen Jahren Lesekomitees. Bevor ein Buch veröffentlicht wird, treffen sich die Lektor:innen und lesen es. Danach werden die Bücher bewertet und entsprechend veröffentlicht. Da wir zu Beginn der Revolution unerfahren waren und zum ersten Mal einen kurdischen Verlag hatten, haben wir alle Bücher, die wir bekamen, veröffentlicht, ohne zu bewerten, ob sie gut oder schlecht waren. Das war eigentlich eine sehr falsche Herangehensweise, unter der wir bis heute leiden.
Wir können Rojava nicht verlassen
Unser Gebiet unterliegt einem Embargo. Unsere Bücher werden nicht in andere Sprachen übersetzt. Wir werden nicht zu Buchmessen und Festivals eingeladen, und selbst wenn wir eingeladen werden, können wir wegen des Embargos nicht dort hin. Das führt dazu, dass die Werke innerhalb unserer Grenzen bleiben. Heute bin ich sowohl Schriftstellerin als auch Verlagsleiterin und habe nicht die Möglichkeit, nach draußen zu gehen, eine Messe zu besuchen oder Rezensionen zu erhalten. In einer solchen Situation kann man nur durch jahrelanges Forschen und Sammeln von Erfahrungen innovativ sein. Wir müssen auch starke Literaturkritiker:innen ausbilden. Unsere Bücher werden zum Beispiel von den Buchmessen in Silêmanî und Hewlêr nicht angenommen, weil dort alle Bücher im Soranî-Dialekt geschrieben sind. In Rojava hingegen schreiben wir auf Kurmancî. Wir sollten aber eigentlich nicht behaupten, dass die Werke nicht angenommen werden. Denn wir wurden auch nach Büchern gefragt, aber die Themen, die gewünscht werden, sind andere als unsere. Zum Beispiel gibt es dort viele Bücher über Religion und Geschichte. Bücher in arabischer Sprache werden häufiger nachgefragt, Bücher in Kurmancî seltener. Sowohl die Schriftsteller:innen in Bakûr als auch die Schriftsteller:innen in Europa interessieren sich für die Bücher, die hier veröffentlicht werden, aber leider haben wir ein Problem, sie zu erreichen.«
Ausbildung junger Schriftsteller:innen
Nerîman Evdikê erinnert daran, dass der Literaturrat im vergangenen Jahr einen Literatur-Workshop für junge Frauen organisiert hatte und fügte hinzu: »Diese Arbeit mit jungen Frauen entwickelte sich im Lauf eines Jahres mit Vorträgen. In einer Akademie erhielten sie Unterricht in Literaturgattungen wie Erzählungen, Märchen, Gedichte, Romane, Artikel und Theater. In der zweiten Phase organisierten wir Treffen zwischen Schriftstellerinnen und jungen Frauen, um einen Dialog zwischen der alten und der neuen Generation zu schaffen, damit die Jungen von den Erfahrungen der Alten profitieren und die Alten sich in die Lage der Jungen hineinversetzen können. Die älteren Schriftstellerinnen lasen den Jugendlichen aus ihren Büchern vor und erzählten von ihren Erfahrungen. Die Jugendlichen wiederum stellten ihre Texte den Älteren vor und erfuhren deren Meinung dazu. Jetzt wollen wir aus den Texten dieser Gruppe junger Frauen ein Buch machen.
Wir haben auch einen Lesebeirat, der sich drei Mal im Monat trifft. Zuerst entscheiden wir gemeinsam, welches Buch wir lesen wollen. Dann wird das Buch an alle verteilt. Wenn alle das Buch gelesen haben, wird ein Termin festgelegt, an dem wir uns treffen, um über das Buch zu sprechen. Zu diesem Leseabend laden wir immer Jugendliche ein. Viele Jugendliche haben in den letzten 10 Jahren Bücher geschrieben, über die wir auch diskutieren. Zu den Lesungen und Buchbesprechungen kommen auch erfahrene Autori:nnen. Auf diese Weise werden die Meinungen von Jung und Alt eingeholt, und die Autor:innen selbst sagen uns, was sie mit ihrem Werk erreichen wollten. So beziehen wir junge Menschen in unsere Arbeit und unsere Aktionen ein. Sie haben einen Reichtum in sich, und den müssen wir zum Vorschein holen.«
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024
Ein historischer Blick in die Entwicklungen der Frauenrechtssituation unter verschiedenen Herrschaftsformen
Die Situation der Frauen im Iran und in Ostkurdistan
Farhad Jahanbeygi, Journalist
Die Situation der Frauen im Iran und in Ostkurdistan steht im Zusammenhang mit der allgemeinen Lage der iranischen Gesellschaft und Bevölkerung. Aufgrund des Mangels an Demokratie und des religiösen und patriarchalen Systems werden Frauen weiterhin unterdrückt. Im Folgenden wird dargelegt, dass diese Unterdrückung eine Kontinuität hat, obwohl sich die Herrschaftsform im iranischen Staat durch Revolutionen und Aufstände immer wieder veränderte.
In der Geschichte Irans gab es viele berühmte Frauen aller dort lebenden Nationalitäten, wodurch sich die Situation der Frauen in verschiedenen Phasen und unter aufeinanderfolgenden Regierungen, die diese Region beherrscht haben, verändert hat.
Aufgrund des Zoroastrismus1 wurde früher die Gleichstellung von Männern und Frauen bis zu einem gewissen Grad akzeptiert. Im Sassanidenreich2 saß beispielsweise Purandokht3 als Herrscherin auf dem Thron und regierte mehr als zehn Länder. Obwohl Frauen auf höchster politischer und militärischer Ebene selten eine Rolle spielten, waren sie in der Armee zahlreich vertreten und beteiligten sich aktiv an Kriegen.
Nach der Etablierung des Islam und seiner Herrschaft über die Gesellschaft sowie seiner Integration in Macht und Politik verschlechterte sich die Situation der Frauen im Zentraliran. So wurden sie jahrhundertelang nirgends in der iranischen Geschichte erwähnt. Unter den Kurd:innen spielten Frauen jedoch eine Rolle und hatten historischen Quellen und religiösen Büchern zufolge einen Platz in den Emiraten und auf der Ebene der religiösen Führung (bspw. bei den Yaresan4).
Den historischen Quellen nach wurde Frauen insbesondere nach der Eroberung Irans durch die Mongolen unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit keine bedeutende Rolle zugestanden, und sie wurden sogar in Harems (der Unterwelt vergleichbare Orte innerhalb der Paläste der Könige, die Frauen vorbehalten sind) festgehalten. Am Ende der Qajaren-Dynastie5 kam es unter westlichem Einfluss zu einigen Veränderungen im Iran, insbesondere nach der »Konstitutionellen Revolution«6. Obwohl Frauen eine gesellschaftliche Teilhabe zugestanden wurde und sie die Möglichkeit bekamen ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, waren sie nicht gleichberechtigt und hatten kein Wahlrecht.
In der Schlacht von Teheran (1909) spielte eine Kurdin namens Bibi Maryam Baxtiyarî eine bedeutende Rolle. Sie infiltrierte Teheran mit mehreren Kavalleristen und schloss sich zusammen mit ihnen den Kräften der Armee von Sardar Asad Baxtiyarî (den sie unterstützte) an, als diese eintraf. Sie griff die Kosaken an und beteiligte sich aktiv an der Schlacht, wodurch sie berühmt wurde.
Während der »Konstitutionellen Revolution« gab es im Iran nur eine Frauenorganisation, die Mukhadrat Vatan Vereinigung, die 1910 gegründet wurde und hauptsächlich öffentliche Aktivitäten organisierte. Im Bereich der Frauenrechte war sie jedoch nicht besonders aktiv. Besonders engagierten die Mitglieder sich gegen die russische und britische Besatzung Irans.
Während der Regierungszeit von Reza Schah Pahlavi I. (1925-1941 Schah von Persien) wurden mehrere Frauenorganisationen gegründet. Es dauerte jedoch nicht lange, bis Reza Schah sein wahres Gesicht als Diktator zeigte und begann, alle Parteien, Organisationen und Zeitungen, auch die der Frauen, zu unterdrücken. Darüber hinaus machte er das Ablegen des Kopftuchs zur Pflicht und befahl seinen Polizisten, den Frauen auf der Straße die Kopfbedeckungen abzunehmen.
Das Frauenwahlrecht wurde erstmals 1952 im iranischen Nationalrat (Parlament) diskutiert. Sayed Hassan Moderis, einer der prominentesten Mullahs Irans und damaliges Parlamentsmitglied, lehnte es jedoch ab und sagte: »Das Wahlrecht für Frauen führt zu politischer Instabilität, religiöser Korruption und Chaos in der Gesellschaft.«
Im Jahr 1962/63 lehnte Ruhollah Khomeini, ein damals prominenter Mullah, die Genehmigung des Projekts »Provinz- und Provinzräte«, das den Regionen eine begrenzte Selbstverwaltung gewährte, ab. Insbesondere lehnte er ab, Frauen das Wahlrecht zu gewähren, aber seine Ablehnung war erfolglos, und das Frauenwahlrecht wurde schließlich eingeführt.
Nach dem Sieg der iranischen Volksrevolution7 1979 und der Machtergreifung der Mullahs verschlechterte sich die Lage der Frauen. Sie spielten zwar eine bedeutende Rolle beim Umsturz, und viele von ihnen starben bei den Demonstrationen vor dem Sieg der Revolution. Doch mit der Einführung des gesetzlichen Hijab-Zwangs wurden Frauen zunehmend aus der Gesellschaft ausgeschlossen und marginalisiert. 1988 wurden zahlreiche Frauen hingerichtet.
Obwohl Frauen offiziell nicht daran gehindert wurden, sich an gesellschaftlichen Angelegenheiten zu beteiligen und sogar Positionen in niedrigeren Führungsebenen einzunehmen, gab es für sie keine Chancengleichheit, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und sich in die Verwaltungs- und Machtstrukturen der Gesellschaft einzubringen. Frauen spielten immer wieder eine bedeutende Rolle bei den Aufständen gegen das Regime im Iran und in Ostkurdistan. Besonders in der Jin Jiyan Azadî-Revolution8 wurde die Rolle der weiblichen Führung deutlich, und viele bezeichnen diesen Aufstand als »Frauenrevolution«.
Zur Zeit hält der Widerstand der Frauen gegen das frauenfeindliche und patriarchalische Regime im Iran an, und das Regime unterdrückt sie auf jede erdenkliche Weise. Die aktuellen Statistiken zeigen eine hohe Zahl weiblicher politischer Gefangener in iranischen Gefängnissen. Derzeit gibt es im Iran einige Frauenorganisationen, die jedoch unter der Aufsicht und Kontrolle des iranischen Regimes stehen und nicht unabhängig arbeiten und kämpfen können. Organisationen, die außerhalb der Behörden agieren, wird entweder die Möglichkeit einer Betätigung untersagt, oder sie werden geschlossen und ihre Vorsitzenden und Mitglieder inhaftiert.
Im Exil sind mehrere iranische Frauenorganisationen tätig, sie können aber mangels Möglichkeiten keine Wirkung entfalten. Mit einer Ausnahme verfügen all die im iranischen Staat lebenden Nationen über keine unabhängigen Frauenorganisation, höchstens über Zusammenschlüsse innerhalb von Organisationen unterschiedlicher Ausrichtung. Die Ausnahme, die sich derzeit unabhängig und aktiv in der politischen und organisatorischen Arbeit im Iran und in Ostkurdistan engagiert, ist die Gemeinschaft der freien Frauen Ostkurdistans (KJAR). Die kurdische ist auch auch die einzige Nation auf iranischem Staatsgebiet, die über einen unabhängigen Kampfverband von Frauen verfügt: die Frauenverteidigungskräfte (HPJ) führen ihre Arbeit und Kämpfe unter dem Dach der Demokratischen und Freien Gesellschaft Ostkurdistans (KODAR) durch.
Frauenorganisationen im Iran
Frauenbewegungen wurden im Nahen Osten nach 1900 gegründet. Ihre Ziele und Aktivitäten variierten je nach den herrschenden Umständen in den verschiedenen Ländern. Im Iran wurden die ersten Frauenorganisationen offiziell mit Beginn der »Konstitutionellen Revolution« während der Qajarenzeit gegründet.
Qajarenzeit (Qajaren-Dynastie)
1910 wurde während der »Konstitutionellen Revolution« mit der bereits erwähnten nationalen Mukhadrat Vatan Vereinigung die erste unabhängige Frauenorganisation im Iran gegründet. Zuvor schon hatten mehrere Männer und Frauen im Jahr 1907 die Frauen-Freiheitsorganisation gegründet, die außerhalb von Teheran geheime Treffen abhielt und dort den niedrigen Status von Frauen in der iranischen Gesellschaft thematisierte. Sie zielten darauf ab, Frauen für ihre Rolle in der Gesellschaft zu sensibilisieren. Aufgrund des Widerstands radikaler Kräfte wurde die Vereinigung jedoch bald aufgelöst.
Pahlavi-Zeit
Im Jahr 1922, während der Herrschaft von Reza Schah Pahlavi I., wurde in Rasht, im Norden des Iran, der Patriotische Frauenbund von einer Gruppe linker intellektueller Frauen gegründet. Sie hatten eine gleichnamige Zeitschrift – die erste linke Zeitschrift Irans – und das Ziel, die politischen und sozialen Rechte der Frauen durchzusetzen und die Situation junger Frauen zu verbessern. Die Organisation eröffnete Schulen für Frauen und Mädchen und bot Kurse an. Weitere Aktivitäten waren die Einrichtung eines Krankenhauses für mittellose Frauen und die Ausrichtung des zweiten Kongresses der Frauen des Ostens im Jahr 1932. Ein Jahr später wurde der Bund jedoch auf Anordnung von Reza Schah aufgelöst und verboten. Die Organisation war die erste im Iran, die den 8. März als Frauentag anerkannte.
Im Jahr 1923 hatten kommunistische Jugendliche innerhalb des Patriotischen Frauenbunds eine Organisation namens »Das Erwachen der Frauen« gegründet. Es war eine radikale Organisation, die drei Jahre lang bestand; sie war es, die die Einführung den 8. März als den internationalen Frauentag im Iran initiierte.
1943 wurde der Iranische Frauenverband als Teil der Tudeh-Partei gegründet. 1947 wurde er Mitglied der Internationalen Demokratischen Föderation der Frauen. Der Iranische Frauenverband publizierte eine Zeitschrift mit dem Titel »Unser Erwachen«. Er wurde 1949 zusammen mit der Tudeh-Partei verboten. 1951 organisierte sie sich jedoch neu und gründete die Demokratische Organisation iranischer Frauen.
Als Ergebnis der Arbeit von Frauenorganisationen wurde die Einführung des Frauenwahlrechts 1963 im iranischen Nationalrat (Parlament) erstmals verabschiedet.
1967 wurde mit dem Iranischen Fraueninstitut das erste staatliche Fraueninstitut gegründet. Zweck war, den Iran bei internationalen Frauenkonferenzen zu vertreten. Als Ergebnis der Arbeit wurde 1975 das Familienunterstützungsgesetz und 1978 das Gesetz über das Recht auf Abtreibung verabschiedet.
Zeit der Islamischen Republik
Als die Mullahs im Iran an die Macht kamen, wurden aufgrund der patriarchalischen, religiösen und frauenfeindlichen Mentalität der Islamischen Republik Iran viele Hindernisse für Frauen geschaffen, und einige der Rechte, die sie sich über Jahrzehnte erkämpft hatten, wurden ihnen wieder entzogen. Unter anderem das Familienrecht sowie das Recht auf Abtreibung wurden abgeschafft und ein Hijab-Zwang eingeführt.
Frauen gingen in massiven Protesten gegen den erzwungenen Hijab und die aberkannten Rechte auf die Straße. Eine Demonstration anlässlich des internationalen Frauentags begann am 8. März 1980 und dauerte sechs Tage. Die Proteste fanden nicht für die Erlangung von mehr Rechten statt, sondern um die in der Vergangenheit erkämpften Rechte zu verteidigen. Sie wurden jedoch von den Behörden massiv unterdrückt. Parteien und andere Organisationen schwiegen zur Repression gegen die Proteste der Frauen, da sie die Demonstration für überflüssig hielten.
Infolge der schweren Repression und eines zunehmend militarisierten Klimas im gesamten Iran, verstummte die Frauenbewegung so wie andere Parteien und Organisationen mit Beginn des Irak-Iran-Krieges für eine ganze Zeit lang.
Zeitweise erlaubten die Behörden die Gründung von Parteien oder Organisationen, aber insbesondere Frauen wurde dieses Recht nicht gewährt. Einige autoritäre Organisationen mit islamischen Suffixen arbeiteten im Namen der Frauen, Fortschritte bei den Frauenrechten wurden indes nicht erzielt.
Später wurde die Frauenbewegung im Iran schrittweise neu organisiert, und sie konnte mehrere Kampagnen organisieren, darunter »Frauensolidarität«, »Eine Million Unterschriften« und »Nein zur Steinigung«.
Die Kampagne »Eine Million Unterschriften« war eine unabhängige und gemeindebasierte Kampagne, die 2006 von einer Reihe von Aktivist:innen organisiert wurde. Ziel war es, eine Million Unterschriften für die Beseitigung der rechtlichen Diskriminierung von Frauen zu sammeln. Bei der ersten Kundgebung der Kampagne waren die Aktivist:innen mit heftiger Repression seitens der iranischen Sicherheitskräfte konfrontiert. An dem Tag wurden siebzig von ihnen auf dem Haft-e-Tir-Platz in Teheran festgenommen. Auch danach wurden die Aktivist:innen der Kampagne immer wieder verhaftet, sodass sie die Kampagne ins Internet verlegten und dort fortsetzten. Doch auch ihre Website wurde mehrfach von den Behörden blockiert.
Ebenfalls 2006 wurde die Kampagne »Nein zur Steinigung« von Aktivist:innen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und einem Netzwerk ehrenamtlicher Anwält:innen ins Leben gerufen. Diese hatte zum Ziel, die Bestrafung durch Steinigung abzuschaffen, die als unmenschliche Strafe noch immer von den Behörden verhängt wurde.
Derzeit sind neben den Organisationen, die unter der Aufsicht und mit Unterstützung des Staates im Bereich der Unterstützung von Frauen sowie von Frauenrechten tätig sind, mehrere andere Organisationen im Iran und im Ausland aktiv, darunter das Iranische Frauenzentrum, die 8. März Frauenorganisation (im Iran und Afghanistan), die Feministische Schule, die Solidarität mit iranischen Frauen, das Nationale Netzwerk für Frauenkooperation, das Iranische Frauenforschungszentrum, die Organisation zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und die Organisation zur Verteidigung der Rechte der Frau im Iran.
Frauenorganisationen in Ostkurdistan
In Ostkurdistan beteiligten sich Frauen während des Bestehens der Republik Kurdistan9 (Mahabad) an der Arbeit und den Kämpfen. Danach, am Vorabend der iranischen Volksrevolution, beteiligten sich Frauen maßgeblich am Kampf gegen das iranische Regime, insbesondere in den Reihen der Komala10.
Derzeit sind mehrere kurdische Frauenorganisationen in Ostkurdistan, im Iran und im Ausland aktiv. Dazu gehören die Rojhilat-Frauenorganisation (Ronak) in Schweden, die Gemeinschaft der freien Frauen Ostkurdistans (KJAR), die Demokratische Frauenunion Kurdistans, die Kurdish Women›s Horizon Organization (der Arbeitervereinigung Kurdistans) und die Frauenvereinigung Rojhilat (der Revolutionären Arbeitervereinigung Kurdistans). Die Demokratische Frauenunion Kurdistans, die Organisation Kurdish Women›s Horizon und die Frauenvereinigung Rojhilat sind zwar Frauen verpflichtet, arbeiten jedoch im Rahmen der jeweiligen Parteien, deren Teil sie sind, und verfügen über wenig Eigenständigkeit.
Die Gemeinschaft der freien Frauen Ostkurdistans (KJAR) ist die einzige dortige Frauenorganisation, die ihre Aktivitäten und Projekte unabhängig durchführt. Sie gilt derzeit als die aktivste Frauenorganisation im Iran und in Ostkurdistan. Im Sinne der Volksdiplomatie konnte sie verschiedene Projekte, Kampagnen und gemeinsame Arbeiten mit Frauen und Frauenorganisationen anderer Nationalitäten im Iran und im Ausland – darunter afghanische, arabische und aserbaidschanische Frauen – organisieren.
Militärische Organisation der Frauen
Obwohl in der Geschichte des Iran Frauen sich selbst verteidigten und eine Rolle beim Schutz der Gesellschaft und des Landes spielten, gab es kaum eine eigene militärische Organisierung. Wie bereits erwähnt, waren Frauen in den Reihen von Komala und sogar bei den Volksmudschahedin11 auf militärischer Ebene vertreten, hatten jedoch keine unabhängige militärische Organisation. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde 1993 die Gründung einer Frauenarmee der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) auf der Grundlage der Philosophie von Abdullah Öcalan beschlossen. Im Jahr 2003 wurde die erste Frauenarmee, die YJA-Star (Einheiten freier Frauen) gegründet.
Mit der Gründung der Partei für ein freies Leben in Kurdistan (PJAK) im Jahr 2004 schlossen sich Frauen den Reihen dieser Organisation an, um ein freies und demokratisches Land zu schaffen. Viele starben auf dem Weg zur Freiheit des Landes als Märtyrerinnen. Im Jahr 2014 wurden die ostkurdischen Frauenverteidigungskräfte (HPJ)12 als bewaffneter Verband gegründet. Sie organisieren sich auf der Grundlage des Paradigmas der basisdemokratischen Gesellschaft, der Ökologie und der Freiheit der Frauen und setzen sich für den Schutz aller Frauen in Ostkurdistan und im Iran ein.
Derzeit sind Hunderte HPJ-Kämpferinnen in den Bergen Ostkurdistans unterwegs. Nicht nur Frauen kurdischer Ethnie, sondern auch der persischen, aserbaidschanischen und weiterer Ethnien wurden in die Reihen der HPJ aufgenommen.
Frauen und Gefängnisse im Iran und Ostkurdistan
In verschiedenen Sprachen und Kulturen ist ein Gefängnis ein Ort, an dem Beschuldigte und Kriminelle zur Strafe und Folter für ihnen zur Last gelegte oder von ihnen begangene Verbrechen festgehalten werden.
Im Laufe der Geschichte haben Autoritäten Gefängnisse auch für ihre Gegner gebaut. Es ist nicht klar, wer den ersten Kerker gebaut hat, aber Historiker:innen und Legenden berichten, dass Held:innen und Gegner:innen der Autoritäten in schwarzen Gruben eingesperrt wurden. Dies zeigt, dass Gefängnisse eine lange Geschichte haben, die bis zur Gründung der ersten Staaten und anderer Machtstrukturen zurückreicht und Teil ihres Repressionssystems waren.
Im Iran und in Ostkurdistan wurden am Ende der Qajarenzeit, im Iran als Tajdd-Zeit (Erneuerungszeit) bekannt, Gefängnisse gebaut. Das erste, Anbar Shahi, wurde 1848 in Teheran errichtet. Aufgrund der geringen Zahl weiblicher Häftlinge gab es jedoch kein spezielles Frauengefängnis. Frauen, die zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurden, wurden in einem gesicherten Haus unter Bewachung festgehalten.
Am 2. Dezember 1929 wurde das Qasr-Gefängnis in Teheran von Reza Schah Pahlavi I. unter schwedischer Aufsicht eröffnet. Es verfügte über 192 Zellen und war für die Inhaftierung von 800 Gefangenen ausgelegt. Sein erster Gefangener war der Mann, der das Gefängnis selbst gebaut hatte, ein Mann namens Sarhang Dargahi.
1944 wurde im nordwestlichen Teil des Qasr-Gefängnisses das erste Frauengefängnis im Iran geschaffen. In anderen Teilen Irans gab es jedoch aufgrund der sozialen Situation und von Besonderheiten der Gemeinschaften keine Frauengefängnisse.
Laut Vida Hajis Buch »Dad Bedad« wurde die höchste Anzahl weiblicher politischer Gefangener zwischen 1971 und 1978, zur Zeit der Herrschaft von Mohammad Reza Schah, inhaftiert. Die meisten unter ihnen waren Mitglieder von Guerilla- und linken Gruppierungen. In diesen Jahren wurden in zahlreichen Städten Frauengefängnisse errichtet.
Später, zur Zeit der Islamischen Republik Iran, sah sich die Regierung gezwungen, die Anzahl der Frauengefängnisse zu erhöhen, da Frauen aktiv an den Widerstandsbewegungen teilnahmen und sich gegen die patriarchale und religiöse Mentalität des Regimes auflehnten.
Derzeit befindet sich das größte Frauengefängnis Irans in der Nähe der Hauptstadt Teheran. Dort werden die meisten weiblichen politischen Gefangenen festgehalten, darunter auch kurdische.
Allerdings existieren keine eindeutigen Statistiken über die Zahlen weiblicher Gefangener im Allgemeinen und politischer Gefangener im Besonderen, da Justiz- und Sicherheitsbehörden nicht bereit sind, sie zu veröffentlichen. Einigen dennoch von iranischen Regierungsbehörden veröffentlichten Statistiken zufolge, befinden sich derzeit etwa 20.000 Frauen in den Gefängnissen des iranischen Regimes.
Der iranische Atlas der politischen Gefangenen führt auf, dass momentan insgesamt 1.085 politische Gefangene in iranischen Gefängnissen inhaftiert seien, darunter 166 Frauen.
Zeyneb Celaliyan (Jalalian) ist die einzige Frau im Iran und Ostkurdistan, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Sie setzt ihren Widerstand gegen den Druck der Behörden und Sicherheitskräfte fort.
Fußnoten
1 Der Zoroastrismus ist eine Religion, die von Zarathustra (Zoroaster) gestiftet wurde. Sie breitete sich etwa vom 7. bis zum 4. Jahrhundert v.u.Z. im iranischen Kulturraum aus. In der Spätantike war unter der Dynastie der Sassaniden die zurvanistische Variante des Zoroastrismus weit verbreitet. Charakteristisch für die Lehre Zoroasters ist der universale Dualismus: das Gute und das Böse. (vgl. Wikipedia)
2 Das Sassanidenreich war das zweite persische Großreich des Altertums. Der Name des Reiches leitet sich von der letzten vorislamischen persischen Dynastie der Sassaniden ab. Es existierte von 224/226 bis 642/651. (vgl. Wikipedia)
3 Bōrān (auch Buran, Puran oder Purandokht bzw. Pūrānduxt; † Ende 631) war eine Tochter des persischen Königs Chosrau II. Sie bestieg als erste Frau den Thron des Sassanidenreiches. (vgl. Wikipedia)
4 Die Yaresan (auch Kakai oder Ahl-e Haqq) sind eine im 14. Jahrhundert von einem wandernden Derwisch, Sultan Sahak, gegründete Religionsgemeinschaft, die zwischen der Grenze der Autonomen Region Kurdistan im Irak und Lorestan im Iran und um Kirmaşan (Kermanschah) und in neuerer Zeit auch in der Diaspora in westlichen Staaten beheimatet ist. (vgl. Wikipedia)
5 Die Qajaren (Kadscharen) waren eine Dynastie in Persien (1779–1925), eine turkmenischstämmige Familie, die sich auf den Mongolen-Herrscher Hülegü zurückführte. (vgl. Wikipedia)
6 Die Konstitutionelle Revolution im Iran war eine von westlich orientierten Kaufleuten, Handwerkern, Aristokraten und einigen Geistlichen getragene liberale Revolution von 1905 bis etwa 1911. Ziel der konstitutionellen Bewegung war es, die absolute Monarchie durch ein parlamentarisches Regierungssystem abzulösen und eine moderne Rechtsordnung einzuführen. (vgl. Wikipedia)
7 Die Islamische Revolution, ursprünglich auch als »Iranische Revolution« bezeichnet, war eine vielschichtige Bewegung, die 1979 zur Absetzung von Schah Mohammad Reza Pahlavi und zur Beendigung der Monarchie im Iran führte. Symbolfigur und später Revolutionsführer war der Ajatollah Ruhollah Chomeini, der ab 1979 gegen weitere revolutionäre und säkulare Gruppen sein Staatskonzept von der Regentschaft der Geistlichkeit zum Teil mit Gewalt durchsetzte und neues Staatsoberhaupt wurde. (vgl. Wikipedia)
8 Ausgelöst wurde die Jin Jiyan Azadî-Revolution durch den staatlichen Femizid an Jîna Amînî. Sie war im September 2022 wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das Hijab-Gesetz von der iranischen Sittenpolizei festgenommen und misshandelt worden. Sie starb kurz darauf an den Folgen. Die Nachricht über diesen Mord löste unter dem Slogan »Jin Jiyan Azadî« (Frau Leben Freiheit) die bisher größte und längste Protestwelle gegen das Regime des Iran seit dessen Machtantritt 1979 aus.
9 Die Republik Kurdistan wurde im äußersten Nordwesten des zu jenem Zeitpunkt teils von Großbritannien, teils von der Sowjetunion besetzten Iran gegründet und bestand vom 22. Januar bis zum 16. Dezember 1946. Die besonders in Europa verbreiteten Beinamen des Staates beziehen sich auf ihre Hauptstadt Mahabad. (vgl. Wikipedia)
10 Die Komala-Partei des im Westen des iranischen Staatsgebietes gelegenen Teils Kurdistans wurde 1969 gegründet und ist eine sozialdemokratische Partei. Sie kämpft für einen Iranischen Bund mit einer säkularen Regierung, die die Regeln der Demokratie für soziale Gerechtigkeit befolgt. (vgl. Wikipedia)
11 Die Volksmudschahedin sind eine militante iranische Oppositionsbewegung. Sie sind Teil des seit 1993 von Paris aus geführten Nationalen Widerstandsrates des Iran, einer Organisation, die sich selbst als säkulares und demokratisches Exilparlament des iranischen Volkes bezeichnet. (vgl. Wikipedia)
12 HPJ: Hêzên Parastina Jinên Rojhilatê Kurdistanê, Frauenverteidigungseinheiten Ostkurdistans
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024
Editorial
Liebe Leser:innen
ganze zwölf Jahre sind seit dem Ausbruch der Revolution in Rojava vergangen. Hatten vor der Revolution nur wenige Menschen die politischen Entwicklungen im kleinsten Teil Kurdistans auf dem Schirm, so änderte sich dies mit dem 19. Juli 2012 schlagartig. Seit nunmehr zwölf Jahren sind unsere Augen auf die selbstverwalteten Gebiete im Norden und Osten Syriens gerichtet.
Auf den ersten Blick sind es Themen wie Krieg, permanente Bedrohung, Verbrechen und Vertreibung, aber auch der Widerstand der Gesellschaft, die uns beschäftigen, wenn wir auf die Region schauen. Kein Wunder, denn seit Beginn der Revolution sind diese Gebiete permanenten Angriffen ausgesetzt, durch islamistische Gruppen wie den IS, immer wieder auch durch das Baath-Regime, vor allem aber durch die Türkei und ihre dschihadistischen Partner. Das ist die sichtbare Seite der Revolution, die uns auch in diesen Tagen Sorge bereitet. Denn die Bedrohungslage für die Selbstverwaltungsgebiete im Norden und Osten Syriens ist nach wie vor akut.
Aber es gibt auch eine andere Seite dieser Revolution, die vielleicht erst auf den zweiten Blick sichtbar wird, aber mindestens genauso wichtig ist: Und das ist der Prozess des Aufbaus eines alternativen, demokratischen und gleichberechtigten Gesellschaftssystems. Dieser Prozess zeigt sich im Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen jenseits des Nationalstaates und nach dem Vorbild des demokratischen Konföderalismus. Er zeigt sich im Aufbau der Frauenrevolution, die weit über die Grenzen Nord- und Ostsyriens hinaus Wellen geschlagen hat. Er zeigt sich auch im Aufbau einer demokratischen Nation, die langsam aber sicher das jahrzehntelange Misstrauen zwischen den Völkern und Religionsgemeinschaften überwindet. Er zeigt sich aber auch im Aufbau eines demokratischen Wirtschaftssystems, einer demokratischen Justiz, eines demokratischen Bildungssystems und so vielem mehr.
All dies macht die Bedeutung dieser Revolution aus. Und doch müssen wir uns immer wieder bewusst machen, dass dieser Aufbau eben ein Prozess ist. Es braucht Zeit, um inmitten einer Region, die von Krieg, jahrzehntelang geschürtem Nationalismus sowie starren patriarchalen Strukturen geprägt ist, ein demokratisches und gleichberechtigtes Gesellschaftssystem zu etablieren. Der Aufbau alternativer gesellschaftlicher Strukturen ist die eine Ebene, um Neues zu schaffen. Die andere Ebene ist der Aufbau eines demokratischen Bewusstseins in der Gesellschaft. Es geht darum, Menschen, die nie die Möglichkeit hatten, demokratisch und frei über ihr eigenes Leben zu bestimmen, ein Bewusstsein dafür zu geben, warum genau das der Schlüssel zur Lösung ihrer Probleme ist.
Zwölf Jahre sind keine lange Zeit, um einen so grundlegenden Bewusstseinswandel in der Gesellschaft herbeizuführen. Umso schwieriger, wenn dieses einzigartige Projekt von so vielen Seiten permanenten Angriffen ausgesetzt ist. Und doch feiert die Revolution ihren zwölften Jahrestag, und der Aufbauprozess schreitet voran…
Es gibt also eine ganze Reihe wichtiger Gründe, warum wir uns entschieden haben, die Revolution in Rojava zum ersten Schwerpunktthema des Kurdistan Reports zu machen. Der zwölfte Jahrestag der Revolution ist nur einer davon. Der Kurdistan Report wird fortan im dreimonatlichen Rhythmus, also insgesamt vier Mal im Jahr erscheinen. Dafür haben wir uns entschieden, dass jede Ausgabe ein eigenes Schwerpunktthema haben wird, das wir aus verschiedensten Blickwinkeln näher beleuchten werden.
Nun wünschen wir euch viel Spaß mit der ersten Ausgabe des Kurdistan Reports mit einem Schwerpunktthema: Der Rojava-Revolution.
Eure Redaktion
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024
Historische Entwicklung der Krisen und Potentiale im Mittleren Osten
Eine Oase inmitten der Wüste: Rojava
Süheyla Taş, politische Gefangene
Der Mensch ist nicht nur ein Kind des Universums, sondern auch dessen Zusammenfassung. Und der Mittlere Osten ist die Region, in der das Potenzial des Menschen, definiert als Mikrokosmos des Universums, besonders deutlich zum Vorschein tritt.
Historische Aufzeichnungen zeigen, dass diese Region nicht nur die Wiege der Evolution der meisten Gattungen des Menschen (außer des ersten Menschen, dem Homo Habilis) war, sondern auch die Quelle grundlegender menschlicher und gesellschaftlicher Werte. In dieser Region fanden wichtige Entwicklungen statt, wie die Entstehung des Ackerbaus und die dörfliche Revolution. Dort begann der Übergang von Stammes- zu neuen sozialen Strukturen und die Entwicklung der Schriftsprache. Während dieser gesellschaftlichen Veränderungen entstanden grundlegende Werte der menschlichen Zivilisation einschließlich moralischer und politischer Konzepte wie Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaft.
Diese Werte verbreiteten sich über eine kulturelle Expansion in alle Teile der Welt und wurden von anderen Gesellschaften übernommen und weiterentwickelt.
Der Mittlere Osten: Die Wiege zweier Zivilisationssysteme
Die universelle Bedeutung des Mittleren Ostens ist aber nicht nur auf diesen Zeitraum beschränkt. In der Periode der sumerischen Stadtstaaten hat das System der Zentralzivilisation seinen Ursprung. In diesem zentralistischen Zivlisationssystem liegt der Ursprung gesellschaftlicher Probleme: Macht und Staatlichkeit.
Das patriarchale Machtverständnis, das sich im System dieser Stadtstaaten herausbildete, dehnte seinen hegemonialen Einflussbereich und verbreitete sich allmählich in unterschiedlicher Form überallhin. Bis zum Aufkommen der griechisch-römischen Hegemonie lagen alle Staatsgebilde ebenfalls in dieser Region und waren weiterentwickelte Versionen der sumerischen Stadtstaaten. Aus diesem Grund können wir die griechisch-römische Zivilisation nach der gerade beschriebenen ersten Phase staatlicher Hegemonie als die zweite große Epoche der hegemonialen Periode1 bezeichnen. Auch wenn der Ursprung der griechisch-römischen Zivilisation in der heutigen Wahrnehmung als westlich erscheinen mag, liegt ihr Ursprung also im Mittleren Osten.
Der Aufstieg des Islams markiert den dritten Zeitabschnitt des Systems der Zentralzivilisation. Da die islamischen Reiche die zentralistische Zivilisation auf die nächste Ebene gehoben haben, wurden sie zu den neuen Hegemonialmächten dieses Zivilisationssystems. All diese Hegemonialmächte sind den heutigen USA in gewisser Hinsicht ähnlich. Die jüngsten Hegemonialmächte im System der Zentralzivilisation sind die Europäische Union und die USA. Diese Tatsache zeigt nochmal die Verlagerung der Hegemonie vom Mittleren Osten nach Westen.
Die historisch-gesellschaftliche Entwicklung lässt sich grob in zwei grundlegenden Zivilisationssystemen beschreiben: der staatlich organisierten Zentralzivilisation und der demokratischen Zivilisation.2 Sie sind die Grundlage der historischen Entwicklung. Es wäre irreführend, die Geschichte ausschließlich durch den engen Rahmen des Klassenkampfes zu erklären. Der Klassenkampf gewinnt erst dann an Bedeutung, wenn er im Kontext dieser beiden Zivilisationssysteme betrachtet und bewertet wird. In den historischen Beispielen, die wir diskutiert haben, entstand der Konflikt nicht primär zwischen den Klassen an den entgegengesetzten Enden des sozialen Spektrums, sondern zwischen den Kräften der beiden großen Zivilisationssysteme. Es waren nicht die versklavten Menschen, die sich gegen die Herrschenden von Babylon, Akkad und Assyrien erhoben und sie stürzten, sondern die armen und freien Bergstämme und Clans.
Dies zeigt sich z.B. in den Geschichten von Abraham und Moses, die sich gegen die Nimrods und Pharaonen auflehnten. Jesus, der sich gegen das mächtige Sklavenimperium auflehnte, soll dem armen Stamm der Essener angehört haben3. Die Französische Revolution wurde von der Bewegung der Sansculotten initiiert, und die sowjetische Revolution wurde von den Muschiks, den russischen Bauern, vorangetrieben.
Wie diese Beispiele zeigen, basiert die Suche nach Wahrheit und Freiheit sowie die historisch-soziale Entwicklung nicht ausschließlich auf dem Konflikt zwischen den Klassen »Sklave, Leibeigener, Proletarier«, sondern zwischen den Kräften der beiden Zivilisationssysteme. Der heutige Leviathan, repräsentiert durch autoritäre Strukturen, strebt unaufhaltsam nach Macht und Kontrolle, erobert Land, eignet sich Märkte an, versklavt Menschen und verschmutzt die Natur. Auf dieser Grundlage ist er antagonistisch gegenüber der Natur, der Gesellschaft und dem Menschen selbst.
Eine Antwort auf die Zivilisationskrise
Der Mittlere Osten ist als Ursprungsort gesellschaftlicher Werte ständig von den Interventionen hegemonialer Mächte betroffen. Die Region ist der Austragungsort der grundlegenden Krisen unserer Zeit. Dadurch wird den Menschen auch die Möglichkeit genommen, Antworten auf ihre gesellschaftlichen und politischen Probleme zu finden. Eine Antwort auf diese Krise ist jedoch dringend notwendig. Und sie kann nur durch diejenigen Kräfte gefunden werden, die sich in Opposition zu den Akteuren der Zentralzivilisation befinden. Deshalb ist das Modell, das im Mittleren Osten angewandt werden muss, die demokratische Lösung, die auf der Existenz und Autonomie der demokratischen Nation4 basiert. Nur unter dem Dach einer Union der demokratischen Nationen kann der Mittlere Osten seine universelle Bedeutung, die er einst hatte, zurückerobern und erfüllen.
Die Revolution in Kurdistan ist mehr als je zuvor eine Revolution im Mittleren Osten. Die kurdisch-demokratische Kraft repräsentiert auch die Union der demokratischen Nationen im Mittleren Osten. Die Revolution in Rojava kann als Brücke dienen, um die Union der demokratischen Nationen im Mittleren Osten zu bilden. Die Lösung für den Konflikt zwischen den beiden großen Zivilisationssystemen wird die Rückkehr der Revolution in ihr Ursprungsland sein. Während von den Hegemonialmächten versucht wird, Widersprüche zwischen den Völkern zu schaffen, um diese jahrtausendealte Kulturen zu zerstören, strebt die Rojava-Revolution danach, ein demokratisches Nationsverständnis unter der Führung von Frauen aufzubauen und Widersprüche zu überwinden.
Entstehung der Revolution in Rojava
Die Rojava-Revolution ist aus einer Phase der Krise und Depression entstanden: Am 6. März 2011 schrieben etwa 18 Jugendliche im Alter von 15 bis 17 Jahren in der südsyrischen Stadt Daraa, inspiriert von den Revolten in Tunesien und Ägypten, die Parole »Das Volk will den Sturz des Regimes!« an die Wände der Schulen. Sie wurden vom Geheimdienst gefasst und festgenommen. Trotz des Drucks ihrer Familien wurden sie nicht freigelassen. Als ihre Familien dann das Büro des Gouverneurs stürmten, wurden die Jugendlichen schließlich aus der Haft, wo man sie gefoltert hatte, entlassen. Als der Abu-Zayd-Clan die Flagge des Widerstands hisste, gingen am 18. März 2011 Tausende Menschen auf die Straße, und die Wut der Menschen entlud sich in einem Aufstand.
Natürlich reichen die Wurzeln der Konflikte in Syrien Jahrzehnte zurück, und es ist sinnvoll, einen kurzen Blick auf diesen historischen Prozess zu werfen.
Zur Vorgeschichte des syrischen Bürgerkriegs
Die Herrschaft des Baath-Regimes im Mittleren Osten begann mit der Unterdrückung der Kurd:innen, denen sogar die Staatsbürgerschaft verweigert wurde. Ein Projekt namens »Arabischer Gürtel« zielte darauf ab, die Region Cizîrê (Gouvernement al-Hasaka, kurd. Hesekê/Hesîçe) zu arabisieren. Das von den Kurd:innen bewirtschaftete Land, auf das sie ihren Anspruch wegen des Entzugs der Staatsbürgerschaft verloren, wurde arabischen Familien überlassen, die wiederum wegen des Baus des Tabqa-Staudamms ihre Heimat verloren hatten. Diese Situation führte zu großen Spannungen zwischen den beiden Volksgruppen – was zweifellos beabsichtigt war.
Die syrische Opposition im Rest des Landes verfolgte zunehmend eine »sunnitisch-islamistische« Position. Gerade die Muslimbrüder (Ikhwan-Bewegung) störten sich an den Bemühungen von Hafez al-Assad um die gesetzliche Gleichstellung von Männern und Frauen. Die Zulassung von Frauen zum Parlament, ihr Zugang zu verschiedenen Berufen, darunter dem Richter:innenamt, und sogar die Ernennung einer Frau zur Kulturministerin im Jahr 1976 führten zu Protesten der Ikhwan-Bewegung.
1976 wurden zahlreiche Regierungsbeamt:innen, Lehrer:innen, Ärzt:innen und Angestellte des Regimes, vor allem Alawit:innen, von der Muslimbruderschaft ermordet. Im Jahr 1980 überlebte Hafez al-Assad knapp ein Attentat und ließ daraufhin 550 ikhwanistische Gefangene hinrichten. Nach 1980 bildete das Regime die »Shabbah«-Miliz, die zahlreiche Massaker verübte. Nach dem Tod von Hafez al-Assad im Jahr 2000 wurde Bashar al-Assad als einziger Kandidat des Baath-Regimes zum Nachfolger gewählt. Er leitete zunächst einige Veränderungsprozesse im Land ein, die als »Damaszener Frühling« bekannt wurden. Er selbst würgte den Reformprozess jedoch ab, als er seine eigene Macht gefährdet sah. So setzte Bashar al-Assad schließlich die autoritäre Politik seines Vaters fort, was das Übergreifen des »Arabischen Frühlings« auf Syrien unausweichlich machte.
Vom syrischen Aufstand zur Revolution von Rojava
Obwohl die Bevölkerung aufgrund der Unterdrückung und Armut im Land frustriert war, blieb der Widerstand bis März 2011 lokal begrenzt. Das änderte sich jedoch im Laufe der Zeit: Oberstleutnant Hussein Hamoush gründete die Bewegung der Freien Offiziere, die erste bewaffnete Einheit. Nach Meinungsverschiedenheiten gründete Riyad al-Assad die Freie Syrische Armee (FSA), deren Stützpunkt Gerüchten zufolge in Hatay lag. Die Hisbollah griff ebenfalls in den Krieg in Syrien ein. Diese Geschehnisse verschärften die Krise. Auf die Forderungen nach Freiheit wurde nicht reagiert. Das zwang die Menschen dazu, sich für ihre eigene Freiheit zu erheben. Am 19. Juli 2012 begann unter der Führung der kurdischen Bevölkerung die Rojava-Revolution. Sie wurde zu einem Beispiel dafür, wie eine Revolution, die von der Gesellschaft ausgeht und von ihr institutionalisiert und organisiert wird, eine immense Kraft entfalten kann, im Gegensatz zu einem revolutionären Verständnis, das von oben diktiert wird. Heute ist die Rojava-Revolution von den Machthabenden der gesamten Region gefürchtet, denn sie fordert die Freiheit aktiv ein. Ein Alptraum für das bestehende kapitalistische System. Es ist zweifellos eine Revolution, die von fortschrittlichen Kräften der Menschheit unterstützt wird.
Die Revolution in Rojava beruht auf dem Vertrauen in die eigene Stärke. Die Basis dieses selbstbewussten Vertrauens bildet ein Gesellschaftsvertrag, den die Völker von Rojava auf der Grundlage der demokratischen Nation geschlossen haben.
In der Präambel des aktuellen Gesellschaftsvertrags heißt es:
»Wir, die Töchter und Söhne Nord- und Ostsyriens – Kurden, Araber, Assyrer, Turkmenen, Armenier, Tscherkessen, Tschetschenen, Muslime, Christen und Jesiden – haben uns zusammengefunden im Bewusstsein und im Glauben an die Verpflichtung, die uns von den Gefallenen auferlegt wurde, als Antwort auf das Bedürfnis unserer Völker nach einem Leben in Würde und als Antwort auf die großen Opfer, die die Syrer gebracht haben. Wir haben uns zusammengefunden, um in Nord- und Ostsyrien ein demokratisches System zu errichten, das die Grundlage bildet für den Aufbau eines zukünftigen Syriens ohne rassistische Tendenzen, Diskriminierung, Ausgrenzung oder Marginalisierung einer Identität.«5
Die globalen Hegemonialmächte und die souveränen Staaten der Region haben heute ihr Augenmerk auf das Paradigma gerichtet, das in Rojava geschaffen und vertraglich abgesichert wurde. In Rojava findet in jedem Bereich ein intensiver Kampf zwischen der kapitalistischen Moderne und der demokratischen Moderne statt. Die Revolution von Rojava ist eine Oase für die Völker inmitten des Dritten Weltkriegs. Dieser Krieg im Mittleren Osten hat das Potenzial, das Schicksal der gesamten Bevölkerung der Region zu bestimmen. Die Revolution von Rojava ist nicht nur eine politische Bewegung, sondern auch eine soziale Utopie und ein Modell für die egalitäre Revolution des 21. Jahrhunderts. So bietet sie, obwohl sie eine Revolution unter Belagerungszustand ist, eine historische Chance für die Völker des Mittleren Ostens, eine freie, gleiche und friedliche Zukunft aufzubauen. Daher liegt es auch in der Verantwortung der gesamten Menschheit, sie zu unterstützen.
Der Text erschien zuerst auf Türkisch unter https://demokratikmodernite.org/colde-bir-vaha-rojava/
1 Mit hegemonialer Periode ist der vorherrschende Einfluss des zentralistischen Zivilisationssystems gemeint.
2 vgl. die entsprechenden Ausführungen von Abdullah Öcalan im »Manifest der demokratischen Zivilisation« (auf dt. sind bisher die ersten vier von fünf Bänden erschienen. Münster, Unrast-Verlag)
3 Diese These ist in der Wissenschaft jedoch umstritten.
4 Öcalan schlägt als Ausweg aus der Krise des Systems der Nationalstaaten die Anwendung des demokratischen Konföderalismus auf der Ebene der Nation vor: Nation neu gedacht als demokratisch organisiertes Zusammenleben der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen. https://ocalanbooks.com/#/book/demokratische-nation
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024