Allein und ohne Fremdfinanzierungen werden wir diese enormen Herausforderungen nicht meistern können.
Die Unterversorgung der Bevölkerung wird die Sicherheitslage verschärfen
Wir sprechen mit der Projektkoordinatorin von Heyva Sor a Kurd, dem Kurdischen Roten Halbmond in Nord- und Ostsyrien, über die medizinische Versorgung in der Region.
Welche Aufgaben bei der medizinischen Versorgung in der DAANES übernimmt Heyva Sor a Kurd? Welche Schwerpunkte setzen sie in ihrer Arbeit?
Der Kurdische Rote Halbmond hat zwei Schwerpunkte:
1) Den Aufbau der medizinischen Grundversorgung
Wir bieten in mehreren Städten und Dörfern eine medizinische Grundversorgung an. Grundsätzlich sind diese Kliniken immer gleich aufgebaut: Pädiatrie, Gynäkologie und Inneres. Zusätzlich gibt es kleine Labore und Apotheken für die Medikamentenausgabe (nur mit Verschreibung unserer Ärzt:innen). In diesen Kliniken sind in der Regel auch Community Health Worker tätig, welche vor der Corona Pandemie auch Hausbesuche gemacht haben. Hauptsächlich bieten sie aber allgemeine medizinische Gesundheitsaufklärung an und assistieren den Ärzt:innen und den Patient:innen. Zudem gibt es in den meisten Fällen psycho-soziale Beratungen und Gesprächsangebote von Psycholog:innen. Angeschlossen an die Klinik ist zudem auch immer eine 24/7 Notfallambulanz mit mindestens einem ständig zur Verfügung stehenden Krankenwagen.
In kleineren Orten haben wir entweder sogenannte Health Posts (Gesundheitsstationen) mit Hebammen und einem Ärzt / einer Ärztin oder mobile Kliniken, hauptsächlich auch mit Gynäkolog:innen und Hebammen.
Das Öffentliche Gesundheitssystem zu stärken und zu entwickeln, das ist unsere langfristige Strategie. Solange wir die finanzielle Unterstützung für diese Einrichtungen haben, sorgen wir dafür, dass die Gebäude renoviert bzw. wieder aufgebaut werden, dass entsprechendes medizinisches Equipment zur Verfügung steht, dass das Personal weiter- und ausgebildet wird und bestimmte Systeme etabliert werden wie zum Beispiel das Patient Information System. Mit diesem System werden die Geschichten der Patient:innen erfasst und die medizinische Betreuung entsprechend angepasst. Diese Einrichtungen werden dann an die Selbstverwaltung übergeben und in das öffentliche Gesundheitssystem eingegliedert.
2) Emergency Response (Notfallversorgung)
Wir haben in allen Regionen Nord- und Ostssyriens, Şehba und Aleppo Emergency Zentren mit einem Netzwerk von insgesamt etwa 60 Krankenwagen, koordiniert von einer Koordinierungsstelle (EMCC). Das EMCC ist 24/7 mit Notfallsanitäter:innen und Pfleger:innen besetzt, die nach einer telefonischen Ersteinschätzung das nächstgelegene freie Krankenhaus in der jeweiligen Region benachrichtigen und den Transport dorthin organisieren.
Außerdem zählt zur »Emergency Response« die Gesundheitsversorgung in den Camps. In fast allen Camps in Nord- und Ostsyrien und Şehba betreiben wir PHCCs (Primary Health Care Center) nach dem gleichen Standard wie oben beschrieben. Die Emergency Response wird im allgemeinen beim Roten Halbmond bleiben.
Neben diesen beiden Schwerpunkten sind wir aber auch aktiv im Umweltschutz. Hauptsächlich mit unserem etabliertem »WaSH« (Water, Sanitation and Hygiene) Department. Hier geht es um die Etablierung von Hygiene Standards in unseren Kliniken, dem Health Waste Management (die ordnungsgemäße Entsorgung von medizinischem Abfall) aber auch um die Kontrolle der Wasserversorgung und Wasserquualität. Recycling- und Waste Management Projekte und der Aufbau alternativer
Energien z.B. Solaranlagen gehören auch zum »WaSH«-Department. Wenn Mittel zur Verfügung stehen, initiieren und unterstützen wir auch Baumpflanzprojekte und die Pflege von Grünanlagen.
2024 konnten wir die erste Krebsstation, in der behandelt werden kann, eröffnen. Da die Behandlung mit Chemotherapie sehr kostenintensiv ist, eine Dosis kostet derzeit etwa 500 USD, müssen die Patient:innen die entsprechenden Kosten leider selbst tragen. Die Personalkosten tragen zur Zeit wir. Die Behandlungskosten sind dadurch deutlich günstiger als in privaten Krankenhäusern und in Damaskus (für jede Chemotherapie-Dosis müssen die Patient:innen nach Damaskus reisen und das Medikament zusätzlich selbst bezahlen). Im neuen Krankenhaus wird außerdem eine Blutbank und eine Thalassämie-Station entstehen. Direkt nebenan, im Erdgeschoss unseres zentralen Bürogebäudes ist die Prothesenwerkstatt mit angeschlossener Physiotherapie und psychosozialem Unterstützungsangebot untergebracht.
Grundsätzlich sind alle Angebote des Roten Halbmondes kostenfrei für alle Patient:innen. Im Durchschnitt und ohne größere Katastrophen (wie das Erdbeben im letzten Jahr 2023) versorgen wir etwa eine Million Patient:innen im Jahr.
Wie sieht die Zusammenarbeit mit der zuständigen Verwaltung in der DAANES aus? Hat die DAANES eigene Gesundheitseinrichtungen?
Die DAANES hat eigene Einrichtungen und betreibt hauptsächlich die öffentlichen Krankenhäuser. Ich kann leider nichts zu deren Zahlen sagen und das Monitoring funktioniert noch nicht so gut. Wie oben kurz erwähnt, muss dieses langfristig etabliert werden, zusammen mit dem Patienten-Informations-System.
Langfristig sollen alle Kliniken (außerhalb der Camps) der Selbstverwaltung übergeben werden. Bisher fehlt es aber leider immer wieder an entsprechenden Mitteln in der Verwaltung, um diese dann auch ohne Qualitätsverlust weiter betreiben zu können. Derzeit ist dies vor allem auch den Angriffen der Türkei auf die öffentliche Infrastruktur geschuldet. Die Selbstverwaltung muss alle zur Verfügung stehenden Mittel für den Wiederaufbau dieser lebensnotwendigen Infrastruktur aufbringen, zum Beispiel für die Strom- und Wasserversorgung. Das hat zur Folge, dass es im Gesundheitsbereich immer wieder an entsprechenden finanziellen Mitteln fehlt. Auch ohne die Angriffe war es der Selbstverwaltung bisher kaum möglich mehr Einrichtungen zu übernehmen, geschweige denn die Krankenhäuser zu betreiben. Aber durch die Angriffe ist es nahezu unmöglich geworden, weshalb wir bis auf weiteres die vorher übergebenen Einrichtungen wieder übernehmen, soweit uns dies finanziell möglich ist.
Wie viele Menschen arbeiten bei Heyva Sor a Kurd Welche Berufe, welche Aufgaben haben sie? Wie ist die Arbeitsbelastung der Mitarbeiter:innen? Welchen Gefahren sind sie bei ihrer Arbeit ausgesetzt?
Wir haben etwa 1.200 Angestellte, davon etwa 70 im Hauptbüro. Weitere 50 Personen, decken den administrativen Bereich ab mit folgenden übergreifenden Aufgaben:
– Durchführung des Monitoring
– Koordinierung der Projekte und der Gesundheitsversorgung
Wir machen regelmäßige Schulung der Mitarbeiter:innen im Rahmen des Protection Departements, um sicherzustellen, dass alle Mitarbeiter:innen regelmäßig in humanitären Grundprinzipien geschult werden, dass unser Code of Conduct eingehalten wird und der Complaint Mechanismus funktioniert. Durch diese Schulungen wollen wir verhindern, dass es in der Behandlung von Patient:innen zu irgendeiner Form von Machtmissbrauch kommt.
Der Großteil unserer Mitarbeiter:innen sind Mediziner:innen, wir haben aber auch Techniker:innen in verschiedenen Bereichen, Laborant: innen, Pharmzeutiker:innen, Ingenieur: innen, IT‘ler und Projektmanager:innen. Die größte Abteilung, neben der Gesundheitsversorgung, ist vermutlich die Logistikabteilung. Im administrativen Bereich haben wir neben der Logistik aber auch noch die Personalabteilung, das Finanzmanagement und das neu eingerichtete Compliance Departement, um sicherzustellen, dass wir auch auf administrativer Ebene unserer Sorgfaltspflicht gerecht werden. Zudem das bereits erwähnte Protection Departement und außerdem das MEAL (Monitoring, Evaluation, Accountability and Learning) Department. Grundsätzlich laufen alle Aktivitäten im Hauptbüro zusammen und werden von dort aus koordiniert. Allerdings haben wir in den jeweiligen Regionen auch kleinere Verwaltungen, welche der Hauptverwaltung zuarbeiten und lokale Aufgaben übernehmen. Zudem gibt es in jeder Region »Regional Coordinators« (immer weiblich und männlich besetzt), deren Arbeitsschwerpunkt ist der Personaleinsatz und die Zusammenarbeit mit den lokalen Gesundheitskomitees und anderen offiziellen Stellen.
Das größte Risiko trägt immer noch das medizinisches Personal, welches nahe der Fronten eingesetzt wird und die Fahrer der Krankenwagen. Aber auch im Camp Al Hol sind unsere Mitarbeiter:innen täglich massiv gefährdet durch IS-Angehörige. 2022 wurde ein Mitarbeiter beim Versuch den Mord an einer Patientin und ihrem Babys zu verhindern, erschossen. Sie und das Baby haben überlebt und wurden daraufhin in Sicherheit in ein anderes Camp gebracht. Unser Mitarbeiter hat dies leider nicht überlebt.
Arbeiten Menschen ehrenamtlich bei Heyva Sor a Kurd?
Ja, es gibt Ehrenamtliche, mal mehr mal weniger, je nachdem. Wir haben perspektivisch allerdings vor, das Ehrenamt zu stärken, auch weil uns die Mittel fehlen, um dringend benötigtes Personal einzustellen.
Bitte geben sie uns einen Überblick über die Lage der medizinischen Versorgung in der DAANES vor und nach den Angriffen Ende 2023?
Die medizinische Versorgung war vor den Angriffen bereits desolat. Daran hat sich nicht viel geändert, außer dass die Übernahme der Einrichtungen durch die Selbstverwaltung in noch weitere Ferne rückt. Konkret mussten wir aus diesem Grund zum Beispiel die Klinik in Minbic wieder zurücknehmen. Kobanê hat es am schlimmsten getroffen. Schon vor den Angriffen mussten wir unsere Klinik wegen mangelnder Finanzierung schließen. Wir betreiben dort lediglich noch das Emergency Department. Im Dezember 2023 wurde dann auch noch eine vom deutschen Verein »Armut und Gesundheit« geförderte und betriebene Klinik angegriffen und komplett zerstört. Jetzt gibt es dort kein kostenfreie medizinische Versorgung mehr. Das öffentliche Krankenhaus steht zwar noch, aber es fehlen Ärzte und das Geld, um es kontinuierlich zu betreiben.
Andere Zerstörungen, die unsere Arbeit massiv behindern und langfristige Folgen für die Gesundheitsversorgung haben sind:
In Qamişlo wurde die einzige Oxygen-Anlage in Nord- und Ostsyrien komplett zerstört. Das stellt uns nun vor neue große und vor allem kostenintensive Herausforderungen, um Patient:innen im Notfall beatmen zu können.
Einrichtungen für die Wasserversorgung wurden getroffen, was zu noch größeren Gesundheitsproblemen führt.
Stromversorgungsanlagen wurden zerstört und in einigen Gesundheitseinrichtungen ist die Stromversorgung völlig zusammengebrochen. Wir mussten zusätzliche Generatoren anschaffen und sind dauerhaft auf diese angewiesen, mit allen negativen Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit.
Die Zerstörung eines Saatgutlagers birgt langfristig die Gefahr von Unterernährung, da dieses Lager Samen hauptsächlich für Weizen gelagert hatte.
Viele Ölförderanlage wurden zerstört und die Kosten für den knappen Diesel sind enorm gestiegen. Wir können deshalb auch notwendige Generatoren nicht dauerhaft betreiben und auch für die Krankenwagen und andere nötige Fahrzeuge steht nicht genügend Öl und Diesel zur Verfügung. Auch aus diesen Gründen ist es umso wichtiger, mehr auf Solarenergie zu setzen.
Wie schätzen sie den Gesundheitszustand der Bevölkerung ein? Wie viele Menschen leben in in der DAANES?
Schwierige Fragen … Genaue Zahlen gibt es nicht und es gibt eine sehr hohe Fluktuation. Grob geschätzt leben in Nordost-und Nordwest Syrien zwischen drei und fünf Millionen Menschen.
Den Gesundheitszustand der Bevölkerung würde ich grundsätzlich eher als schlecht einschätzen. Im Sommer wird es vermutlich wieder viele Todesopfer, vor allem Babys, geben. Die schlechte Wasserqualität und der schlechte Ernährungszustand der Mütter sind dafür verantwortlich. Im Sommer haben wir vor allem in den Camps mit der schlechten Wasserqualität zu kämpfen, die Hitze führt zusätzlich zu Dehydration und die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist eher schlecht. Wenn Pandemien ausbrechen, wie z.B. Cholera oder Corona, ist das Problem kaum noch zu bewältigen.
Zudem haben wir einen massiven Anstieg an Krebserkrankungen festgestellt. Bisher können wir diesen Anstieg nicht mit Statistiken und Studien belegen. Allerdings haben auch Ärzt:innen in Damaskus diesen Trend bestätigt. In den letzten ein bis zwei Jahren kamen deutlich mehr Krebspatient:innen aus Nord- und Ostsyrien. Mit der neuen Krebsstation erfassen wir nun auch die Zahlen und versuchen herauszufinden, ob bestimmte Umstände zu dem Anstieg führen. Denkbar ist, dass durch alte Munition im Boden bestimmte Regionen schwerer betroffen sind, die Luft in den Städten ist spürbar schlechter geworden durch die massive Nutzung von Generatoren und grundsätzlich gibt es viel zu wenig Bäume, die dazu beitragen könnten, dass die Luft sich verbessert. Die Arbeitsbedingungen in den Gas- und Ölförderanlagen sind auch schlechter geworden, die Verarbeitung an sich ist schon krebserregend und es gibt kaum Schutzmöglichkeiten. Zudem versickern insgesamt sehr viele Schadstoffe im Boden, weil es kaum Müllverbrennungsanlagen gibt. Meist wird der Müll irgendwo auf freier Fläche mehr schlecht als recht verbrannt, damit sickern die Schadstoffe und das Mikroplastik in das Grundwasser. Bei den Angriffen wurden Pipelines zerstört und das Grundwasser durch austretendes Öl stark belastet.
Im letzten Jahr war der Wasserstand des Euphrat auf den tiefsten Stand seit vielen Jahren und auch verschiedene internationale NGOs haben deshalb Alarm geschlagen. Die Austrocknung der Nebenarme hat unter anderem auch zur Folge, dass sich schädliche Insekten weiter ausbreiten. Zum Beispiel haben wir wieder einen Anstieg von Leishmaniose festgestellt. Aber immerhin steigt insgesamt auch das Bewusstsein für Krankheitsprävention in der Bevölkerung. Aber die beste Aufklärung hilft nur bedingt, wenn es zum Beispiel nicht genug Wasser gibt bzw. die meisten Menschen sich keine Filter, Chlor oder abgefüllten Flaschen leisten können.
Wie wirkt sich die Inflation auf die medizinische Versorgung der Bevölkerung aus? Können sich die Menschen noch eine gute medizinische Versorgung leisten?
Die Inflation wirkt sich massiv aus. Es gibt immer noch überwiegend private Krankenhäuser und Gesundheitszentren. Das können sich aber nur noch die wenigsten Menschen leisten. Zudem wird das Essen immer teurer, das führt zu Unterversorgung in manchen Familien. Zeitgleich finden sich immer mehr ungesunde Lebensmittel auf dem Markt, zum Beispiel dominieren »Nestle« Produkte mit ihrem hohen Zuckergehalt in den Läden, vor allem als Babynahrung. Dazu muss gesagt werden, dass der gesamte Mittlere Osten seit Jahren von Billigprodukten überschwemmt wird. Billigprodukte im Sinne von billig und nicht besonders nachhaltig produziert. Das ist auch so gewollt. Die meisten dieser Produkte kommen aus China, der Türkei und dem Iran. Wobei die Türkei und China vermutlich die Vorreiter sind, zumindest im Irak und in Syrien.
Aber natürlich hat das alles auch Auswirkungen auf die mentale Gesundheit. Die schwierige finanzielle Lage, die schlechten Lebensbedingungen und immer wieder die tödliche Bedrohung aus der Luft belasten die Bevölkerung.
Und natürlich hat das auch Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung im allgemeinen. Auch für uns steigen die Preise. Die laufenden Kosten für Diesel (für die Stromversorgung), Wasser, Abfallbeseitigung, Autos/Krankenwagen und Medikamente steigen. Wir können für die laufenden Kosten kaum noch aufkommen, selbst wenn ein Projekt unterstützt wird. Deshalb mussten wir Gehälter kürzen, was uns schwer fällt, denn eigentlich müssten wir die Gehälter anheben.
Wir hängen in einer finanziellen Abwärtsspirale fest und darunter leidet die gesamte Versorgung, sowohl im Gesundheitsbereich als auch in allen anderen essenziellen Bereichen.
Gibt es eine Krankenversicherung für die Menschen in der DAANES?
Nein, es gibt weder Krankenversicherungen noch sonstige soziale Absicherungen. Das Einzige was die Menschen schützt sind die Familienzusammenhänge. Aber auch das ist zunehmend schwerer durch die gesamte Situation und durch die Inflation.
Wir haben vor zwei Jahren ein vergleichbares System für unsere Mitarbeiter:innen eingeführt. Das ist bei uns der »Solidarity Fund«. Bei Projektgeldern bekommen wir von den Geldgeber:Innen die Bruttogehälter (für alle die über das Projekt finanziert werden). Wir behalten einen kleinen Anteil ein (er richtet sich nach der Höhe der Gehälter). Das ist dann die Abgabe an den Solidarity Fund. Er funktioniert wie eine Versicherung für Mitarbeiter:innen, die verletzt werden, eine dringend notwendige OP brauchen, krankheitsbedingt ausfallen oder ihre Arbeit verlieren, weil Einrichtungen unvorhergesehen geschlossen werden müssen wie 2019 in Serê Kaniyê nach dem Einmarsch der Türkei. Damals haben wir eine frisch renovierte Klinik verloren und unser Team musste evakuiert werden. Auch Familien von im Dienst ums Leben gekommenen Mitarbeiter:innen können unterstützt werden.
Aber dieser Fond stellt auch sicher, dass wir in Notfällen sofort eingreifen können ohne erst auf Zusagen von Geldgeber:innen warten zu müssen, so zum Beispiel geschehen nach dem Erdbeben 2023. Durch den Solidarity Fund waren wir in der Lage bereits am selben Tag sofort Hilfe zu leisten. Später konnte das Geld durch Geldspenden zurückfließen. Er ist also ein finanzieller Puffer, auch für Personalkosten, aber in erster Linie gibt er unseren Mitarbeiter:innen ein kleines bisschen Sicherheit. Er könnte auch als Modellprojekt für eine soziale Absicherung verstanden werden in einer hoffentlich stabileren Zukunft.
Auf lange Sicht sollte eine umfassende Gesundheitsversorgung für alle kostenlos sein. Im Moment ist das noch ein Ziel, denn durch die instabile politische Situation reichen die Finanzen dafür nicht aus. Zudem spielt auch das altbekannte Vorurteil, dass alles, was es umsonst gibt, qualitativ schlecht sein muss, eine Rolle. Deshalb gibt es in der Bevölkerung und beim Gesundheitspersonal selbst starke Vorbehalte gegen eine kostenlose Versorgung. Das heißt, neben den ganzen anderen Herausforderungen und Problemen, muss natürlich auch daran gearbeitet werden.
Die Gehälter für Mitarbeiter:innen in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sind noch zu gering, um eine qualitativ hochwertige Versorgung zu gewährleisten.
Noch einmal zu den Folgen der Zerstörungen durch die Angriffe der Türkei Ende 2023 und Anfang 2024. Welche Folgen hatten sie auf die medizinische Versorgung der Bevölkerung und auf ihre Arbeit?
Wir müssen massiv den Diesel- und Ölverbrauch einschränken. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Reichweite der mobilen Kliniken, Krankenwagen aber auch auf die Koordinierung, Besichtigungen und schlicht das Erreichen der Arbeitsstellen für unsere Mitarbeiter:innen. Die mangelnde Stromversorgung durch das öffentliche Stromnetzwerk zwingt uns Generatoren häufiger zu nutzen z.B. für die Kühlung der Medikamente. Auch dafür braucht es Diesel. Insgesamt werden wir, wie auch andere NGOs und öffentliche Einrichtungen, bei der Verteilung von Strom bevorzugt. Einschränken müssen wir uns trotzdem. Denn Strom und Diesel fehlen auch bei der Versorgung der Bevölkerung, in der Landwirtschaft, beim Transport usw.
Die ohnehin schwierige Wasserversorgung ist abhängig von Pumpen, die Energie brauchen.
Wir haben massive Probleme ausreichend Sauerstoffflaschen zu bekommen, da die einzige Abfüllanlage (Oxygenanlage) zerstört wurde (s.o.). Zum Glück sind die Coronazahlen und die Zahl der Patient:innen, die beatmet werden müssen, zur Zeit nicht so hoch. Ich denke den größten Teil der nachhaltigen Auswirkungen habe ich oben bereits beschrieben.
Bei unseren Mitarbeiter:innen sind die mentalen Auswirkungen der Angriffe natürlich auch zu spüren. Die ständige Bedrohung eventuell doch noch zum Ziel zu werden, schwebt über uns allen wie ein Damoklesschwert. Teilweise können wir die Orte nicht erreichen weil eine Drohne in der Nähe eingeschlagen ist oder stark gefährdete Orte auf der Strecke liegen. Das Hauptbüro haben wir bisher zweimal evakuiert, weil die Einschläge zu nahe kamen, das war im Dezember 2023. Du weißt nicht, ob nicht dein Haus getroffen wird oder das Auto, in dem du sitzt, zum Ziel wird. Das alles geht natürlich auch an uns nicht spurlos vorüber.
Wie ist die medizinische Versorgung für Kinder, Frauen, alte Menschen und chronisch kranke Menschen? Vor welchen besonderen Herausforderungen steht ihre Organisation bei der Bekämpfung der verschiedenen Krankheiten?
Die Versorgung mit Medikamenten für chronische Erkrankungen ist insgesamt schlecht. Der Mangel an Medikamenten allgemein wirkt sich für chronische Erkrankte nochmal stärker aus z.B. wenn plötzlich auf eine andere Dosis zurückgegriffen werden muss, weil die eigentlich benötigte Dosis plötzlich nicht mehr verfügbar ist. Das grundsätzliche Problem sind aber die Kosten, denn es gibt eigentlich alles Notwendige in Syrien in ausreichender Qualität. Zudem kommen noch Vorgaben der Geldgeber:innen, die es uns teilweise verbieten die Medikamente vor Ort zu kaufen. In Europa gekaufte Medikamente haben einen langen und zeitaufwendigen Transportweg der die Laufzeit des Projekts manchmal überschreitet.
Wie bereits erwähnt sind der Wassermangel und die Wasserqualität eines der größten Probleme. Das wirkt sich auch auf die Hygiene aus.
In der Emergency Zentrale stehen wir aber auch noch vor einer besonderen Herausforderung: Wir können keine feste Notrufnummer einrichten, denn die syrische Regierung stellt uns keine Festnetzleitung zur Verfügung. SIM-Karten können nur auf private Namen laufen und Menschen, auf deren Namen eine Karte registriert ist, könnten gefährdet sein. Deshalb sind wir gezwungen immer wieder die Telefonnummern zu ändern, um niemanden den Repressalien des syrischen Staates auszusetzen. Das macht es für Privatpersonen schwierig uns im Notfall zu erreichen.
Insgesamt gibt es viel zu wenig medizinisches Fachpersonal. Die Ärzt:innen müssen alle mehrere Aufgaben gleichzeitig übernehmen um den Bedarf zu decken. Es gibt aber Anlass zu Hoffnung, da die ersten Jahrgänge der Gesundheitsakademie bald ihren Abschluss machen und die Ausbildung tatsächlich gut ist.
Beobachten sie die Zunahme bestimmter Krankheiten? Haben sie mit Epidemien zu kämpfen? Hat die Klimaveränderung Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung?
In den letzten Jahren hat uns neben Corona am meisten Cholera beschäftigt. Es gibt immer noch Coronaausbrüche, aber insgesamt ist die Bevölkerung wahrscheinlich mittlerweile relativ gut immunisiert. Cholera ist allerdings immer noch ein Thema und es ist sehr wahrscheinlich, dass die Zahlen im Sommer wieder steigen werden.
Der Klimawandel hat massive Auswirkungen mit Wassermangel und steigenden Temperaturen. Die Wüste wächst stetig, die Austrocknung der Nebenarme der großen Flüsse und der Tümpel führt zu einem Anstieg der durch Insekten übertragenen Krankheiten. Grundsätzlich hat es in den letzten Jahren zu wenig geregnet, die Erde ist zu sehr ausgetrocknet und die Anbauflächen werden weniger.
Die Wasserqualität verursacht immer wieder neue Hautausschläge und Allergien, Krankheiten wie Meningitis und Krebs nehmen zu.
Die immer weiter steigende Hitze belastet das Leben der Menschen. Durch die hohenTemperaturen steigt auch der Bedarf an Klimaanlagen, was wiederum einen Mehrbedarf an Generatoren bzw. Strom verursacht. Wir müssen zunehmend auf alternative Energiequellen setzen. Solarenergie und Windkrafträder wären eine Lösung. Wasserkraft ist nur dann von Nutzen, wenn es auch genügend Wasser gibt. Und es bleibt immer die Frage der Finanzierung. Momentan befinden wir uns auch in den Bereichen Umwelt, Klima und Ökologie permanent in der Defensive. Das heißt wir können derzeit immer nur reagieren aber nicht nachhaltig und vorbeugend investieren.
Wie ist die technische Ausstattung ihrer Gesundheitseinrichtungen?
Die Einrichtungen, finanziert durch Projektgelder, sind im Großen und Ganzen gut ausgestattet. Anders sieht es in den Einrichtungen aus, die nicht von Projektgeldern profitieren. Hier mangelt es häufig an einfachem Equipment. Aber wir geben immer unser Bestes um auch hier die bestmögliche Versorgung sicherzustellen und langsam sind wir insgesamt auf einem guten Stand. Bei den öffentlichen Einrichtungen der DAANES sieht es allerdings noch nicht so gut aus.
Wie ist die Notfallversorgung ausgestattet und organisiert? Vor welchen besonderen Herausforderungen stehen sie bei der Notfallversorgung?
Wir betreiben etwa 60 Krankenwagen für die Notfallversorgung, die über die ganze Region der DAANES verteilten in 11 Emergency Zentren stationiert sind.
Zusätzlich betreiben wir im Camp Al Hol noch den Operation Desk (OD), da nur wir Patient:innen in Krankenhäuser außerhalb des Camps bringen können. Patient:innen, die nicht im Camp versorgt werden können, werden in die nächstgelegenen Krankenhäuser gebracht. In Qamişlo ist die Zentrale, das EMCC (Emergency Management Coordination Center), das die Transfers überregional koordiniert. Täglich werden die Kapazitäten aller Krankenhäuser überprüft und im Notfall werden dann die infrage kommenden Krankenhäuser kontaktiert und Patient:innen dorthin gebracht. Das Personal ist ausgebildet für die Triage am Telefon und das Personal in den Emergency Centren für die Triage vor Ort z.B. im Falle von Massenverletzungen.
Unser größtes Problem ist, dass es kaum Krankenhäuser gibt in welche wir die Patient:innen bringen können und die gut ausgestatteten Krankenhäuser sind meistens Privatkrankenhäuser und mit hohen Kosten für die Patient:innen verbunden. In Hesekê ist die Situation besonders schlimm, denn unter den schwierigen Lebensbedingungen in den vielen Camps in der Umgebung der Stadt leidet der Gesundheitszustand der Campbewohner und es kommt außerdem häufig zu Unfällen. Bis vor kurzem hatte die WHO noch einen Vertrag mit einem Privatkrankenhaus, um alle Patient:innen aus den Camps zu versorgen, koordiniert von Heyva Sor a Kurd. Dieses System war problematisch, da das Krankenhaus trotz vertraglicher Verpflichtung nicht zuverlässig alle Patient:innen aufgenommen hat, denn die WHO hat eine Pauschale bezahlt, die dem Krankenhaus nicht kostendeckend schien. Darunter hat die Behandlung der Patient:innen gelitten. Wir mussten oft Druck über die WHO ausüben, damit die Patient:innen auch akzeptiert wurden. Nun wurde der Vertrag durch die WHO nicht verlängert, was uns vor ein sehr großes Problem stellt. Jetzt bleibt nur noch das technisch mangelhaft ausgestattete öffentliche Krankenhaus, betrieben durch die DAANES, das auch noch unter Fachpersonalmangel leidet. Die Gehälter sind so gering, dass alle Zweitjobs annehmen müssen und das in erster Linie in Privatkliniken. Das führt zu massiven Personalmangel.
Der WHO fehlen wohl die finanziellen Mittel, um den Vertrag mit dem Privatkrankenhaus zu verlängern. Aber es ist auch ein politisches Problem. Es wäre von Anfang an sinnvoller gewesen das öffentliche Krankenhaus der DAANES zu unterstützen und eine technisch gute Ausstattung, die Instandhaltung des Gebäudes (es wurde stark beschädigt im Kampf gegen den IS) und die Fortbildungen für das Personals zu gewährleisten. Stattdessen hat die WHO ein Privatkrankenhaus finanziert, das der syrischen Regierung nahesteht. Es ist naheliegend, dass diese Entscheidung auf Druck aus Damaskus zurückgeht. Die UN-Organisationen dürfen es sich natürlich nicht mit dem Regime in Damaskus »verscherzen« um den Zugang zu ganz Syrien nicht zu verlieren. Aus diesem Grund ist die UN in Nord- und Ostsyrien grundsätzlich schlecht vertreten und nur in einzelnen Camps aktiv, solange Damaskus dies erlaubt.
Noch ein Beispiel für wenig nachhaltige Unterstützung: Eine internationale NGO hat für einen begrenzten Zeitraum im öffentlichen Krankenhaus der Stadt Hesîçe gearbeitet. Statt direkt im Krankenhaus zu arbeiten und die Lage dort zu verbessern haben sie sehr gut ausgestattete Container auf dem Gelände aufgestellt, Personal vom Krankenhaus abgezogen und fortgebildet. Dieses Personal hat für lokale Verhältnisse sehr hohe Gehälter bekommen. Von einem Tag auf den anderen hat diese NGO dann aber alles abgebrochen (aus Sicherheitsgründen) und hat das Krankenhaus und das Personal in einem sehr desolaten Zustand hinterlassen. Alles neuwertige Equipment wurde abtransportiert statt es zu spenden. Der größte Teil des gut fortgebildeten Personals hat aus verständlichen Gründen dann für andere NGOs gearbeitet um das Gehaltsniveau zu halten.
Die eben erwähnte NGO hat sich schlicht an ihr Neutralitätsgebot gehalten und deshalb nicht im Krankenhaus, sondern davor gearbeitet. Im Prinzip ist dieses Neutralitätsgebot sinnvoll, richtet aber in dem beschriebenen Fall auf längere Sicht Schaden an. Auch dass internationale NGOs höhere Gehälter an ihre lokalen Mitarbeiter:innen zahlen wollen ist auf den ersten Blick nicht verwerflich. Sie ziehen aber damit das Fachpersonal aus den öffentlichen Einrichtungen ab. Damit werden ganze Regionen abhängig gehalten von internationalen NGOs und deren Geldgeber:innen. Bricht die Finanzierung humanitärer Aufgaben plötzlich weg entstehen größere Lücken als vorher. Es ist ein Irrglaube, dass das Personal zurück in die öffentlichen Einrichtungen kommt. Stattdessen kämpfen alle um die verbliebenen Jobs bei internationalen NGOs oder versuchen die Region zu verlassen. Hier muss sich dringend und grundlegend die Arbeitsweise internationaler NGOs und deren Geldgeber:innen ändern. Nicht nur in Rojava!
Um wieder zurück zu unserem Problem zu kommen … Wir werden in diesem Sommer vor großen Herausforderungen stehen und es ist sehr wahrscheinlich, dass wir mehr Todesfälle haben werden als sonst, vor allem Babys und Kleinkinder. Das Problem beginnt schon mit der Unterversorgung der Mütter während der Schwangerschaft.
Aber die Krankenhäuser sind derzeit tatsächlich unser größtes Problem. Leider wurden auch bei uns die Mittel gekürzt und einer der wichtigsten Geldgeber, der Fond der europäischen humanitären Hilfen (ECHO) hat unseren letzten Antrag abgewiesen. Seit 2017 waren sie verlässliche Geldgeber. Dieses fehlende Geld gefährdet auch die Versorgung in den Camps. Wir können die Versorgung in den Camps und auch die übrige Notfallversorgung nur noch für die nächsten 5 Monate zuverlässig aufrechterhalten. Danach werden wir großflächig Einrichtungen schließen müssen, da uns nicht mehr genügend Mittel zur Verfügung stehen. Das führt unweigerlich zur nächsten Katastrophe, wenn sich nicht andere Lösungen finden.
Wie ist die Lage der medizinischen Versorgung in den Camps? Wie viele Menschen müssen dort versorgt werden? Wie ist die physische und psychische Gesundheitssituation der Menschen in den Camps?
Insgesamt gibt es etwa 17 offizielle Camps, offiziell registriert von der Selbstverwaltung. Es gibt aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit noch einige inoffizielle bzw. provisorische Camps, denn in der Region herrscht eine hohe Fluktuation. Die Menschen wechseln von einem Ort zum anderen auf der Suche nach einem leerstehenden Haus als vorübergehende Unterkunft. Nicht alle von der Selbstverwaltung offiziell registrierten Camps sind auch offiziell bei der UN bzw. in Damaskus registriert, und die die UN kann deshalb nicht aktiv werden.
In den 17 Camps, registriert von der Selbstverwaltung, leben etwa 145.239 Menschen, das sind etwa 30.885 Familien. Allerdings herrscht auch hier eine hohe Fluktuation. Aber insgesamt betrachtet sind diese Zahlen durchschnittlich gleichbleibend. Soweit ich weiß, war die UN bis jetzt nur in zwei, vielleicht drei Camps aktiv. Die anderen Camps sind zwar bei der UN registriert, aber nicht in Damaskus. Deshalb hat die UN keine Berechtigung in diesen Camps zu arbeiten. Sie können, und das tun sie soweit ich weiß auch, lediglich die Koordinaten der Camps beim UN-Sicherheitsrat registrieren um zu verhindern, dass diese Camps durch Drittstaaten wie die Türkei angegriffen werden. Aber das funktioniert auch nicht immer – erinnern wir uns an das ehemalige Camp in Ain Issa, nahe der türkischen Grenze, wo 2019 gezielt um das Camp herum angegriffen wurde, mit beachtlichen Schäden im Camp. Dadurch sind einige IS-Anhänger:innen über die türkische Grenze entkommen. Auch werden die Sicherheitsstrukturen um das Camp Al Hol immer wieder angegriffen. Al Hol mit »nur noch« 45.402 Bewohner:innen gilt wohl mittlerweile weltweit als eines der gefährlichsten Camps. Hier leben überwiegend irakische und internationale IS-Anhänger:innen. Das Camp (gegründet 2015) war ursprünglich für 10.000 syrische Geflüchtete geplant. Nach der Befreiung von Raqqa und Deir ez Zour 2018/2019 stieg die Zahl rapide auf ca 70.000 Bewohner:innen an. Vor allem die Familien der IS-Kämpfer kamen hier unter. Nachweislich direkt in IS-Aktivitäten involvierte Frauen und Männer wurden in Gefängnissen interniert. Die Infrastruktur des Camps war niemals auf diese hohe Anzahl Menschen ausgelegt. Es wurde offiziell durch die UN eingerichtet und auch von Damaskus gebilligt und UNICEF, UNHCR, WHO und die WFP hatten die Leitung. Die große Zahl der Internierten hat die UN-Strukturen komplett überfordert. Es gab nicht genügend Lebensmittel, Zelte, Schulen, medizinische Versorgung etc. Erst nach und nach sind internationale NGOs nachgerückt. Der kurdische rote Halbmond war neben der UN einer der ersten, die in dem Camp gearbeitet haben. Das Ort hat sich schnell zu einer Kleinstadt aus Zelten entwickelt in der die Bereiche mit den internationalen IS-Anhänger:innen (hauptsächlich Frauen und Kinder) besonders abgesichert werden. Viele der Frauen kamen im Teenageralter aus westlichen Ländern. Die miserablen Lebensbedingungen sind ein guter Nährboden für fortdauernde Radikalisierung. Menschen, die Zweifel an der IS-Ideologie durchblicken lassen werden umgebracht. Die Todesrate in diesem Camp war immens hoch in den letzten Jahren. Vermutlich sind immer noch Waffenlager im Camp, Schmuggeltunnel werden gefunden und neue Waffen in das Camp geschmuggelt. Leider sind vermutlich die Kinder sehr gefährlich. Sie werden als die neuen Gotteskrieger erzogen und sind die Hauptinformationsquelle für alles, was im Camp passiert. Sie schlüpfen überall durch.
Das Camp ist zu Recht eines der am stärksten bewachten Camps und trotzdem immer noch eines der gefährlichsten. Das Roj Camp, ausschließlich von internationalen IS- Anhänger:innen bzw. ehemaligen Anhänger:innen bewohnt, ist relativ sicher. Aber natürlich ist auch dieses Camp stark bewacht. Hier wohnen zur Zeit etwa 2.600 Menschen. Dieses Camp wurde nie offiziell durch UN-Strukturen anerkannt, die Selbstverwaltung hat dieses Camp eingerichtet und von Anfang an den größten Wert auf psychologische Rehabilitation gesetzt. Die Versorgung war in Ordnung. Anfangs waren keine internationalen Strukturen involviert, nur der Kurdische Rote Halbmond hatte hier eine relativ gut ausgestattete Klinik. Nach und nach sind andere NGOs nachgerückt, weil sie die Notwendigkeit, das Camp Al Hol durch Verlegung von Menschen in das Roj Camp zu entlasten, erkannt haben.
Auch im Arêşa Camp mit über 12.000 Bewohner:innen sind überwiegend ehemalige IS-Anhänger:innen untergebracht.
Vergessen wir nicht die anderen Camps mit Flüchtlingen aus den durch die Türkei besetzen Gebieten Serê Kaniyê/Tell Abiad und Efrîn. In der Region Şehba, in der viele Geflüchtete aus Efrîn in verschiedenen Camps leben, arbeitet außer uns keine internationale NGO, denn das syrische Regime verwehrt den Zugang. Die Camps mussten nach dem Erdbeben im letzten Jahr nochmals erweitert werden.
Für die Camps, in denen Geflüchtete aus syrischen Gebieten wie Idlib oder Homs untergekommen sind gibt es fast keine Unterstützung, auch nicht für unsere oder die Arbeit internationaler NGOs. Der Grund ist auch hier: sie sind nicht anerkannt von Damaskus. Hier ist die Versorgungslage wohl am schlimmsten. Die ohnehin knappe finanzielle Unterstützung durch die Selbstverwaltung wird durch die andauernden Angriffe auf die Infrastruktur der Region gefährdet.
Und wieder: eines der größten Probleme in allen Camps ist die Versorgung mit sauberem Trinkwasser. Im Sommer drohen wieder mehr Todesfälle durch Durchfallerkrankungen vor allem bei Säuglingen, Kleinkindern und alten Menschen.
Auch in den von der UN unterstützten Camps drohen Versorgungsengpässe, denn die UN hat Gelder gestrichen.
Das und die gezielten Angriffe auf die Sicherheitsstrukturen, sowie die Unterversorgung in der Bevölkerung wird nochmals die Sicherheitslage verschärfen. Angriffe und mangelnde Versorgung stärken den IS und sind ein Nährboden für weitere Radikalisierungen, sowohl in den Camps als auch außerhalb.
Haben sie Pläne und Projekte für die Zukunft?
Grundsätzlich versuchen wir entsprechend unseren Möglichkeiten die medizinische Versorgung aufrecht zu erhalten, das öffentliche Gesundheitssystem zu stärken und zu unterstützen. Wir wollen verstärkt im WaSH (Water, Sanitation and Hygiene) beziehungsweise im Umweltsektor aktiv werden. Eines der dringendsten Probleme ist die Wasser und Stromversorgung, um den Gesundheitszustand der Bevölkerung nicht weiter zu gefährden. Auch für die gesundheitlichen Folgen der Klimaveränderung versuchen wir nachhaltige Lösungen zu finden. Es wird sich allerdings zeigen, ob wir das tatsächlich schaffen können, wenn gleichzeitig die medizinische Grundversorgung stark gefährdet bzw. noch kritischer ist als zuvor. Außerdem steht ganz oben auf der Liste unsere Kapazitäten so auszubauen, dass wir in der Lage sind, direkte finanzielle Unterstützung durch große Geldgeber:innen zu bekommen. Eines der Hauptprobleme bei der Verteilung der Gelder für humanitäre Zwecke ist die Vergabe der Gelder nur an internationale NGOs. Das ist der Grundsatz westlicher Geldgeber:innen. Damit wird der größte Teil der Gelder für den Aufbau der NGO-Strukturen vor Ort und für hohe Gehälter für internationale Mitarbeiter:innen verwendet. Diese übersteigen übrigens weit den Verdienst der lokalen Mitarbeiter:innen. Wir sind die sogenannten Implementierungspartner der internationalen NGOs. Und auch wir müssen unsere Strukturen aufrechterhalten, damit wir arbeitsfähig bleiben. Wir setzen darauf, dass die Geldgeber:innen diese Mängel auch erkennen und anfangen, verstärkt lokale Strukturen direkt zu finanzieren. Das birgt natürlich einige Risiken für die Geldgeber:innen, aber das derzeitige System ist nicht mehr tragfähig angesichts der zunehmenden Krisen und der geringeren humanitären Geldmittel. Wir wissen nicht, ob es entsprechende Änderungen geben wird, aber wir bereiten uns darauf vor. Das heißt, dass wir vor allem im administrativen Bereich besser werden und klare und transparente Strukturen aufzeigen müssen. Es ist wichtig unserer Sorgfaltspflicht nachzukommen und sie transparent zu machen. Obwohl es unklar bleibt, ob die Geldgeber:innen einlenken werden, ist es doch unsere einzige Chance. An sich sind diese Verbesserungen kein Problem für uns, aber letztendlich ist es doch auch eine Frage des Vertrauens.
Es gibt hier kein funktionierendes Bankensystem. Das heißt wir zahlen hier alles in bar, auch die Gehälter. Wir können zwar durch die Abrechnungen beweisen, dass wir die Gehälter auch tatsächlich ausgezahlt haben, allerdings geht das einigen Geldgeber:innen nicht weit genug. Es gibt ein relativ neues System hier, was vergleichbar wäre mit einem Bankensystem: Eine Karte auf die das Geld geladen wird. Allerdings ist es für uns immer noch unklar, was mit den Daten passiert. Wir tragen eine große Verantwortung für unsere Mitarbeiter:innen, da die politische Situation wohl auch längerfristig instabil bleiben wird. Solange unklar ist, ob die DAANES sich durchsetzen kann oder die Türkei noch mehr Gebiete besetzen oder das syrische Regime die Kontrolle zurückgewinnen wird, können wir nicht leichtfertig mit den Daten unserer Mitarbeiter:innen umgehen. Sowohl durch das syrische Regime als auch durch die Türkei würden wir unsere Mitarbeiter:innen gefährlichen Repressionen aussetzen. Daher können wir an einigen Punkten leider nicht darauf eingehen, was die Geldgeber:innen von uns erwarten. Aber wir sind zuversichtlich auch hierfür Lösungen zu finden.
Unsere oberste Priorität bleibt die Notfallversorgung der Bevölkerung. Ein neues Projekt ist dementsprechend schon in den Startlöchern. Hier geht es darum, den Zivilschutz zu stärken. Das heißt wir werden neben und mit unseren Emergency Zentren eine Civil Defense Unit in der gesamten Region aufbauen. Hauptsächlich durch trainierte Ehrenamtler:innen soll sie in Notfällen, wie zum Beispiel einem Erdbeben wie im letzten Jahr, sofort einsatzbereit sein. Das Vorbild dafür sind die Weißhelme.
Wie sieht aktuell die Finanzierung ihrer Arbeit aus? Von welchen Seiten werden sie unterstützt?
Die meisten und wichtigsten Gelder sind öffentliche humanitäre Gelder. Das heißt zum Beispiel durch den Europäischen Funding Pool (ECHO), zumindest bis Anfang des Jahres. Damit vergleichbar ist der USAID. Aber auch aus einzelnen europäischen Staaten kommt Unterstützung in Form von öffentlichen Geldern (nicht von Deutschland) und von privaten Spendern und Stiftungen. Die privaten Geldspenden könnten bei weitem größer sein, wenn wir zum Beispiel ein Spendenkonto in Europa eröffnen könnten. Aber auch das ist nicht einfach, da wir nirgendwo registriert sind, Registrierungen sind teuer und wir müssten dann auch unserer Sorgfaltspflicht nachkommen und Stellen in Europa finanzieren. Privatspenden sind sehr wichtig, da sie flexibler einsetzbar sind. Die öffentlichen Gelder sind immer projektgebunden. Zudem werden einige strukturelle und administrative Positionen nicht von Projektgeldern getragen, weil sie nicht unmittelbar an das eine, bestimmte Projekt angebunden sind. Daher sind wir hier auch auf Privatspenden angewiesen, um auch die strukturell notwendigen Positionen zu besetzen und zu finanzieren.
Welche Wünsche haben sie an die Menschen in Deutschland, an unsere Leser:innen?
In erster Linie wünschen wir uns, dass das Interesse an dieser Region nicht weniger wird! Das ist angesichts der ganzen Krisen auf dieser Welt nicht ganz einfach. Aber wenn das demokratische Projekt in Nord- und Ostsyrien funktionieren soll, brauchen wir auch eine starke Lobby in Europa bzw. in den westlichen Ländern.
Auch aus humanitärer Perspektive benötigen wir eine Stärkung der lokalen Strukturen hier. Das kann auf viele verschiedene Arten geschehen z.B. indem man den Menschen hier von Zeit zu Zeit zeigt, dass sie nicht vergessen sind. Unabhängig davon müssen aber Demokratien offenbar zurzeit überall verteidigt und erkämpft werden und dieser Kampf sollte niemals aufgegeben werden, sonst ist nicht nur die DAANES als Projekt gefährdet.
Es gibt aber auch konkrete Möglichkeiten, wie Menschen uns unterstützen können. Zum Beispiel wird es am 24.06.2024 eine Auftaktveranstaltung im SO36 in Berlin geben, um eine neue große Kampagne zu starten: Unterstützung für den Aufbau von Solaranlagen in Rojava. An der Kampagne sind auch wir beteiligt und verantwortlich für die Durchführung der Projekte. Hier wird in erster Linie dringend benötigtes Geld gesammelt und in der Unterstützung liegt ein großes Potential.
Des weiteren sind Netzwerke und Strukturen immer wieder wertvoll, vor allem angesichts der gesunkenen humanitären Geldmittel müssen dringend andere Netzwerke aufgebaut werden, denn allein und ohne Fremdfinanzierungen werden wir diese enormen Herausforderungen nicht meistern können.
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024