Historische Entwicklung der Krisen und Potentiale im Mittleren Osten
Eine Oase inmitten der Wüste: Rojava
Süheyla Taş, politische Gefangene
Der Mensch ist nicht nur ein Kind des Universums, sondern auch dessen Zusammenfassung. Und der Mittlere Osten ist die Region, in der das Potenzial des Menschen, definiert als Mikrokosmos des Universums, besonders deutlich zum Vorschein tritt.
Historische Aufzeichnungen zeigen, dass diese Region nicht nur die Wiege der Evolution der meisten Gattungen des Menschen (außer des ersten Menschen, dem Homo Habilis) war, sondern auch die Quelle grundlegender menschlicher und gesellschaftlicher Werte. In dieser Region fanden wichtige Entwicklungen statt, wie die Entstehung des Ackerbaus und die dörfliche Revolution. Dort begann der Übergang von Stammes- zu neuen sozialen Strukturen und die Entwicklung der Schriftsprache. Während dieser gesellschaftlichen Veränderungen entstanden grundlegende Werte der menschlichen Zivilisation einschließlich moralischer und politischer Konzepte wie Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaft.
Diese Werte verbreiteten sich über eine kulturelle Expansion in alle Teile der Welt und wurden von anderen Gesellschaften übernommen und weiterentwickelt.
Der Mittlere Osten: Die Wiege zweier Zivilisationssysteme
Die universelle Bedeutung des Mittleren Ostens ist aber nicht nur auf diesen Zeitraum beschränkt. In der Periode der sumerischen Stadtstaaten hat das System der Zentralzivilisation seinen Ursprung. In diesem zentralistischen Zivlisationssystem liegt der Ursprung gesellschaftlicher Probleme: Macht und Staatlichkeit.
Das patriarchale Machtverständnis, das sich im System dieser Stadtstaaten herausbildete, dehnte seinen hegemonialen Einflussbereich und verbreitete sich allmählich in unterschiedlicher Form überallhin. Bis zum Aufkommen der griechisch-römischen Hegemonie lagen alle Staatsgebilde ebenfalls in dieser Region und waren weiterentwickelte Versionen der sumerischen Stadtstaaten. Aus diesem Grund können wir die griechisch-römische Zivilisation nach der gerade beschriebenen ersten Phase staatlicher Hegemonie als die zweite große Epoche der hegemonialen Periode1 bezeichnen. Auch wenn der Ursprung der griechisch-römischen Zivilisation in der heutigen Wahrnehmung als westlich erscheinen mag, liegt ihr Ursprung also im Mittleren Osten.
Der Aufstieg des Islams markiert den dritten Zeitabschnitt des Systems der Zentralzivilisation. Da die islamischen Reiche die zentralistische Zivilisation auf die nächste Ebene gehoben haben, wurden sie zu den neuen Hegemonialmächten dieses Zivilisationssystems. All diese Hegemonialmächte sind den heutigen USA in gewisser Hinsicht ähnlich. Die jüngsten Hegemonialmächte im System der Zentralzivilisation sind die Europäische Union und die USA. Diese Tatsache zeigt nochmal die Verlagerung der Hegemonie vom Mittleren Osten nach Westen.
Die historisch-gesellschaftliche Entwicklung lässt sich grob in zwei grundlegenden Zivilisationssystemen beschreiben: der staatlich organisierten Zentralzivilisation und der demokratischen Zivilisation.2 Sie sind die Grundlage der historischen Entwicklung. Es wäre irreführend, die Geschichte ausschließlich durch den engen Rahmen des Klassenkampfes zu erklären. Der Klassenkampf gewinnt erst dann an Bedeutung, wenn er im Kontext dieser beiden Zivilisationssysteme betrachtet und bewertet wird. In den historischen Beispielen, die wir diskutiert haben, entstand der Konflikt nicht primär zwischen den Klassen an den entgegengesetzten Enden des sozialen Spektrums, sondern zwischen den Kräften der beiden großen Zivilisationssysteme. Es waren nicht die versklavten Menschen, die sich gegen die Herrschenden von Babylon, Akkad und Assyrien erhoben und sie stürzten, sondern die armen und freien Bergstämme und Clans.
Dies zeigt sich z.B. in den Geschichten von Abraham und Moses, die sich gegen die Nimrods und Pharaonen auflehnten. Jesus, der sich gegen das mächtige Sklavenimperium auflehnte, soll dem armen Stamm der Essener angehört haben3. Die Französische Revolution wurde von der Bewegung der Sansculotten initiiert, und die sowjetische Revolution wurde von den Muschiks, den russischen Bauern, vorangetrieben.
Wie diese Beispiele zeigen, basiert die Suche nach Wahrheit und Freiheit sowie die historisch-soziale Entwicklung nicht ausschließlich auf dem Konflikt zwischen den Klassen »Sklave, Leibeigener, Proletarier«, sondern zwischen den Kräften der beiden Zivilisationssysteme. Der heutige Leviathan, repräsentiert durch autoritäre Strukturen, strebt unaufhaltsam nach Macht und Kontrolle, erobert Land, eignet sich Märkte an, versklavt Menschen und verschmutzt die Natur. Auf dieser Grundlage ist er antagonistisch gegenüber der Natur, der Gesellschaft und dem Menschen selbst.
Eine Antwort auf die Zivilisationskrise
Der Mittlere Osten ist als Ursprungsort gesellschaftlicher Werte ständig von den Interventionen hegemonialer Mächte betroffen. Die Region ist der Austragungsort der grundlegenden Krisen unserer Zeit. Dadurch wird den Menschen auch die Möglichkeit genommen, Antworten auf ihre gesellschaftlichen und politischen Probleme zu finden. Eine Antwort auf diese Krise ist jedoch dringend notwendig. Und sie kann nur durch diejenigen Kräfte gefunden werden, die sich in Opposition zu den Akteuren der Zentralzivilisation befinden. Deshalb ist das Modell, das im Mittleren Osten angewandt werden muss, die demokratische Lösung, die auf der Existenz und Autonomie der demokratischen Nation4 basiert. Nur unter dem Dach einer Union der demokratischen Nationen kann der Mittlere Osten seine universelle Bedeutung, die er einst hatte, zurückerobern und erfüllen.
Die Revolution in Kurdistan ist mehr als je zuvor eine Revolution im Mittleren Osten. Die kurdisch-demokratische Kraft repräsentiert auch die Union der demokratischen Nationen im Mittleren Osten. Die Revolution in Rojava kann als Brücke dienen, um die Union der demokratischen Nationen im Mittleren Osten zu bilden. Die Lösung für den Konflikt zwischen den beiden großen Zivilisationssystemen wird die Rückkehr der Revolution in ihr Ursprungsland sein. Während von den Hegemonialmächten versucht wird, Widersprüche zwischen den Völkern zu schaffen, um diese jahrtausendealte Kulturen zu zerstören, strebt die Rojava-Revolution danach, ein demokratisches Nationsverständnis unter der Führung von Frauen aufzubauen und Widersprüche zu überwinden.
Entstehung der Revolution in Rojava
Die Rojava-Revolution ist aus einer Phase der Krise und Depression entstanden: Am 6. März 2011 schrieben etwa 18 Jugendliche im Alter von 15 bis 17 Jahren in der südsyrischen Stadt Daraa, inspiriert von den Revolten in Tunesien und Ägypten, die Parole »Das Volk will den Sturz des Regimes!« an die Wände der Schulen. Sie wurden vom Geheimdienst gefasst und festgenommen. Trotz des Drucks ihrer Familien wurden sie nicht freigelassen. Als ihre Familien dann das Büro des Gouverneurs stürmten, wurden die Jugendlichen schließlich aus der Haft, wo man sie gefoltert hatte, entlassen. Als der Abu-Zayd-Clan die Flagge des Widerstands hisste, gingen am 18. März 2011 Tausende Menschen auf die Straße, und die Wut der Menschen entlud sich in einem Aufstand.
Natürlich reichen die Wurzeln der Konflikte in Syrien Jahrzehnte zurück, und es ist sinnvoll, einen kurzen Blick auf diesen historischen Prozess zu werfen.
Zur Vorgeschichte des syrischen Bürgerkriegs
Die Herrschaft des Baath-Regimes im Mittleren Osten begann mit der Unterdrückung der Kurd:innen, denen sogar die Staatsbürgerschaft verweigert wurde. Ein Projekt namens »Arabischer Gürtel« zielte darauf ab, die Region Cizîrê (Gouvernement al-Hasaka, kurd. Hesekê/Hesîçe) zu arabisieren. Das von den Kurd:innen bewirtschaftete Land, auf das sie ihren Anspruch wegen des Entzugs der Staatsbürgerschaft verloren, wurde arabischen Familien überlassen, die wiederum wegen des Baus des Tabqa-Staudamms ihre Heimat verloren hatten. Diese Situation führte zu großen Spannungen zwischen den beiden Volksgruppen – was zweifellos beabsichtigt war.
Die syrische Opposition im Rest des Landes verfolgte zunehmend eine »sunnitisch-islamistische« Position. Gerade die Muslimbrüder (Ikhwan-Bewegung) störten sich an den Bemühungen von Hafez al-Assad um die gesetzliche Gleichstellung von Männern und Frauen. Die Zulassung von Frauen zum Parlament, ihr Zugang zu verschiedenen Berufen, darunter dem Richter:innenamt, und sogar die Ernennung einer Frau zur Kulturministerin im Jahr 1976 führten zu Protesten der Ikhwan-Bewegung.
1976 wurden zahlreiche Regierungsbeamt:innen, Lehrer:innen, Ärzt:innen und Angestellte des Regimes, vor allem Alawit:innen, von der Muslimbruderschaft ermordet. Im Jahr 1980 überlebte Hafez al-Assad knapp ein Attentat und ließ daraufhin 550 ikhwanistische Gefangene hinrichten. Nach 1980 bildete das Regime die »Shabbah«-Miliz, die zahlreiche Massaker verübte. Nach dem Tod von Hafez al-Assad im Jahr 2000 wurde Bashar al-Assad als einziger Kandidat des Baath-Regimes zum Nachfolger gewählt. Er leitete zunächst einige Veränderungsprozesse im Land ein, die als »Damaszener Frühling« bekannt wurden. Er selbst würgte den Reformprozess jedoch ab, als er seine eigene Macht gefährdet sah. So setzte Bashar al-Assad schließlich die autoritäre Politik seines Vaters fort, was das Übergreifen des »Arabischen Frühlings« auf Syrien unausweichlich machte.
Vom syrischen Aufstand zur Revolution von Rojava
Obwohl die Bevölkerung aufgrund der Unterdrückung und Armut im Land frustriert war, blieb der Widerstand bis März 2011 lokal begrenzt. Das änderte sich jedoch im Laufe der Zeit: Oberstleutnant Hussein Hamoush gründete die Bewegung der Freien Offiziere, die erste bewaffnete Einheit. Nach Meinungsverschiedenheiten gründete Riyad al-Assad die Freie Syrische Armee (FSA), deren Stützpunkt Gerüchten zufolge in Hatay lag. Die Hisbollah griff ebenfalls in den Krieg in Syrien ein. Diese Geschehnisse verschärften die Krise. Auf die Forderungen nach Freiheit wurde nicht reagiert. Das zwang die Menschen dazu, sich für ihre eigene Freiheit zu erheben. Am 19. Juli 2012 begann unter der Führung der kurdischen Bevölkerung die Rojava-Revolution. Sie wurde zu einem Beispiel dafür, wie eine Revolution, die von der Gesellschaft ausgeht und von ihr institutionalisiert und organisiert wird, eine immense Kraft entfalten kann, im Gegensatz zu einem revolutionären Verständnis, das von oben diktiert wird. Heute ist die Rojava-Revolution von den Machthabenden der gesamten Region gefürchtet, denn sie fordert die Freiheit aktiv ein. Ein Alptraum für das bestehende kapitalistische System. Es ist zweifellos eine Revolution, die von fortschrittlichen Kräften der Menschheit unterstützt wird.
Die Revolution in Rojava beruht auf dem Vertrauen in die eigene Stärke. Die Basis dieses selbstbewussten Vertrauens bildet ein Gesellschaftsvertrag, den die Völker von Rojava auf der Grundlage der demokratischen Nation geschlossen haben.
In der Präambel des aktuellen Gesellschaftsvertrags heißt es:
»Wir, die Töchter und Söhne Nord- und Ostsyriens – Kurden, Araber, Assyrer, Turkmenen, Armenier, Tscherkessen, Tschetschenen, Muslime, Christen und Jesiden – haben uns zusammengefunden im Bewusstsein und im Glauben an die Verpflichtung, die uns von den Gefallenen auferlegt wurde, als Antwort auf das Bedürfnis unserer Völker nach einem Leben in Würde und als Antwort auf die großen Opfer, die die Syrer gebracht haben. Wir haben uns zusammengefunden, um in Nord- und Ostsyrien ein demokratisches System zu errichten, das die Grundlage bildet für den Aufbau eines zukünftigen Syriens ohne rassistische Tendenzen, Diskriminierung, Ausgrenzung oder Marginalisierung einer Identität.«5
Die globalen Hegemonialmächte und die souveränen Staaten der Region haben heute ihr Augenmerk auf das Paradigma gerichtet, das in Rojava geschaffen und vertraglich abgesichert wurde. In Rojava findet in jedem Bereich ein intensiver Kampf zwischen der kapitalistischen Moderne und der demokratischen Moderne statt. Die Revolution von Rojava ist eine Oase für die Völker inmitten des Dritten Weltkriegs. Dieser Krieg im Mittleren Osten hat das Potenzial, das Schicksal der gesamten Bevölkerung der Region zu bestimmen. Die Revolution von Rojava ist nicht nur eine politische Bewegung, sondern auch eine soziale Utopie und ein Modell für die egalitäre Revolution des 21. Jahrhunderts. So bietet sie, obwohl sie eine Revolution unter Belagerungszustand ist, eine historische Chance für die Völker des Mittleren Ostens, eine freie, gleiche und friedliche Zukunft aufzubauen. Daher liegt es auch in der Verantwortung der gesamten Menschheit, sie zu unterstützen.
Der Text erschien zuerst auf Türkisch unter https://demokratikmodernite.org/colde-bir-vaha-rojava/
1 Mit hegemonialer Periode ist der vorherrschende Einfluss des zentralistischen Zivilisationssystems gemeint.
2 vgl. die entsprechenden Ausführungen von Abdullah Öcalan im »Manifest der demokratischen Zivilisation« (auf dt. sind bisher die ersten vier von fünf Bänden erschienen. Münster, Unrast-Verlag)
3 Diese These ist in der Wissenschaft jedoch umstritten.
4 Öcalan schlägt als Ausweg aus der Krise des Systems der Nationalstaaten die Anwendung des demokratischen Konföderalismus auf der Ebene der Nation vor: Nation neu gedacht als demokratisch organisiertes Zusammenleben der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen. https://ocalanbooks.com/#/book/demokratische-nation
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024