Aktuelle politische Lage
Konkrete Schritte in eine ungewisse Zukunft
Arif Rhein, Journalist
Der Dritte Weltkrieg hat in den letzten Wochen und Monaten rasant an Fahrt gewonnen – und damit für alle sichtbar den Mittleren Osten als eines der Zentren dieses Krieges wieder mit voller Wucht in das globale Rampenlicht zurückbefördert. Der Krieg in Palästina, ein direkter militärischer Schlagabtausch zwischen Israel und dem Iran und die schweren Turbulenzen in der Türkei und Nordkurdistan nach den Kommunalwahlen sind nur einige der schmerzhaften Symptome, die auf einen grundlegenden Trend in der Region verweisen: Die seit mehr als 30 Jahren andauernde Neuordnung des Mittleren Ostens befindet sich in einer äußerst kritischen Phase, in der die verschiedenen Akteure versuchen Fakten zu schaffen. Prägend sind dabei nicht nur globale Mächte wie die USA, EU und China oder Regionalmächte, wie z. B. die Türkei und der Iran. Auch die Völker des Mittleren Ostens und die von ihnen unterstützten gesellschaftlichen Kräfte, allen voran Kurd:innen und die um die PKK versammelte Freiheitsbewegung Kurdistans, nehmen starken Einfluss auf die Neugestaltung der Region. Angesichts des Tempos der aktuellen Entwicklungen erscheint es ratsam, sich auf einige strategische Ereignisse und Trends der letzten Wochen und Monate zu konzentrieren: Das Beharren auf die Durchsetzung des IMEC (India-Middle East-Europe-Economic Corridor), die vielfältige Krise des türkischen Staates angesichts der Wahlniederlage der faschistischen AKP-MHP-Regierung bei den Kommunalwahlen und das gesteigerte Tempo, mit dem sich die Freiheitsbewegung Kurdistans in jüngster Zeit für ein Ende der Kolonialisierung Kurdistans und die Demokratisierung des Mittleren Ostens einsetzt. Anhand dieser zentralen Entwicklungen lässt sich erkennen, von welcher enormen Bedeutung das laufende Jahr für die Neugestaltung Kurdistans, des Mittleren Ostens und letztendlich der gesamten globalen Ordnung ist.
Der IMEC und die »Korridorisierung der Welt«
Am 15. September 2020 unterschrieben Vertreter Israels, der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Bahrains in Washington die sogenannten »Abraham Accords« (Abraham Accords Declaration), in deren Rahmen die Anerkennung Israels durch die beiden arabischen Staaten und eine Aufnahme diplomatischer Beziehungen beschlossen wurde. Seither haben die USA ihre Bemühungen intensiviert, für die Neuordnung des Mittleren Ostens Fakten zu schaffen. Am Rande des G20-Gipfels in Neu-Delhi im September des Jahres 2023 erfolgte ein weiterer wichtiger Schritt in diese Richtung: Die Staats- und Regierungschefs der USA, Indiens, Saudi-Arabiens, der VAE, Italiens, Deutschlands, Frankreichs und die EU als Staatenbund kündigten die Einrichtung des IMEC an. Damit sollen Ost- und Westeurasien – also Indien und Europa – über den Mittleren Osten in Form eines neuen Transport-, Pipeline-, Strom- und Datenkabelnetzes miteinander verbunden werden. Diese geostrategisch folgenreiche Entscheidung ist einer der treibenden Faktoren hinter der Eskalation der Konflikte, die seit dem Herbst 2023 im Mittleren Osten zu beobachten ist.
Der IMEC reiht sich ein in eine lange Liste von Korridor-Projekten, mit denen die führenden Mächte der kapitalistischen Moderne die Welt in ihrem Sinne neu gestalten möchten. China verfolgt seit 2013 mit der »Belt and Road Initiative« (BRI, auch als ‚Neue Seidenstraße‘ bekannt) ein sehr ambitioniertes Projekt, das 150 Länder entlang von fünf Landkorridoren und einem Seekorridor umfasst. Die EU kündigte Ende 2021 in Form der »Global Gateway Initiative« Investitionen in Höhe von 300 Milliarden Euro in Infrastrukturprojekte weltweit an, was weithin als ein Gegenprojekt zur BRI verstanden wurde. Ein weiteres Projekt, stellt der »International North–South Transport Corridor« (INSTC, er führt von Indien über Iran und Aserbaidschan nach Russland) dar, der auf einen Beschluss Indiens, Russlands und des Irans aus dem Jahr 2002 zurückgeht. Auch an ihm wird weitergearbeitet, was an der Entscheidung Indiens im Mai dieses Jahres zu erkennen ist, umfassend in den iranischen Hafen Chabahar zu investieren. Mit dem IMEC wurde der Weltöffentlichkeit nun unter Führung der USA ein weiteres Korridor-Projekt präsentiert. Die Liste dieser Abkommen, deren jeweilige Umsetzung letztendlich eine Frage des Kräfteverhältnisses zwischen den verschiedenen konkurrierenden Mächten ist, ließe sich noch weiter fortsetzen. Der Umstand, dass alle Führungsmächte der kapitalistischen Moderne samt zahlreicher Regionalmächte an der Umsetzung derartiger Projekte arbeiten, hat den indischen Think-Tank-Mitarbeiter Dr. N. Janardhan bereits dazu veranlasst, von einer »Korridorisierung der Welt« zu sprechen1.
Der Widerstand der Türkei gegen den IMEC hat in den vergangenen Monaten entscheidend dazu beigetragen, den Mittleren Osten in eine noch schwerwiegendere kriegerische Eskalation zu stürzen. Bereits im November letzten Jahres hatte Duran Kalkan, Mitglied im PKK-Exekutivrat, vor diesem Hintergrund auf die Verwicklung der Türkei in den Hamas-Angriff auf Israel hingewiesen: »In ähnlicher Weise hat er [Erdoğan] die Hamas dazu gebracht, Israel anzugreifen und so einen Krieg auszulösen. Der türkische Staat tut das, um die Region unsicher zu machen und zu erreichen, dass die Energieversorgungsroute durch die Türkei geführt wird.«2 Diese Analyse hat in internationalen Medien und unter demokratischen Kräften leider zu wenig Aufmerksamkeit erhalten. Ohne die Türkei als eine treibende Kraft hinter islamistischen Kräften wie der Hamas in Palästina, der Hisbollah im Libanon oder dem Islamischen Staat in Syrien und dem Irak zu erkennen, lässt sich die immer weiter drehende Gewaltspirale im Mittleren Osten nicht verstehen. Schon ein kurzer Blick auf die Türkei-Hamas-Beziehungen spricht Bände3: Die Türkei erkennt die Hamas nicht als Terrorgruppe an. Erdoğan bezeichnete die Organisation stattdessen wiederholt als »Widerstandsgruppe«. Ismail Hanija, der politische Anführer der Hamas, befindet sich seit 2012 auf Einladung Erdoğans in der Türkei und erhielt zudem einen türkischen Pass. Die Hamas verfügt über mehrere Konten bei türkischen Banken und soll pro Jahr teilweise bis zu 300 Millionen Euro von der Türkei erhalten haben. Seit dem 7. Oktober letzten Jahres traf der Hamas-Anführer Hanija mehrmals Erdoğan und den türkischen Außenminister, zuletzt am 20. April dieses Jahres. Das letzte Treffen veranlasste den israelischen Außenminister Katz Ende Mai zu deutlicher Kritik: »Derjenige, der des Völkermordes angeklagt werden sollte, ist Diktator Erdoğan, der seine kurdischen Bürger:innen ermordet, den nördlichen Teil Zyperns besetzt hält und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht.“4 Es liegt sehr nahe, davon auszugehen, dass der türkische Staat direkten Einfluss auf die Führungsebene der Hamas hat. Erdoğan reagierte bereits auf der Rückreise vom G20-Gipfel im September letzten Jahres sehr verärgert auf die Ankündigung des IMEC: »Einen Korridor ohne die Türkei wird es nicht geben. Die am besten geeignete Strecke für die Ost-West-Verbindung führt durch die Türkei.“5 Diese unverhohlene Drohung stellte den Startschuss für die türkische Intervention gegen den IMEC dar. Diese Intervention dauert bis heute an, und zwar nicht nur in Form finanzieller, politischer, logistischer6 und sehr wahrscheinlich auch militärischer Unterstützung der Türkei für die Hamas. Auch der Irak-Besuch Erdoğans am 22. April in diesem Jahr erfolgte in diesem Zusammenhang. Ganz oben auf der türkischen Agenda stand die sogenannte »Development Road«. Dabei handelt es sich um ein weiteres Korridor-Projekt, bestehend aus einem Schienen-, Straßen- und Pipelinenetz, mit dem der Persische Golf über den Irak und die Türkei mit Europa verbunden werden soll. Die Türkei arbeitet also ganz offen an einer regionalen Alternative zum IMEC. Die KCK-Ko-Vorsitzende Besê Hozat bezeichnete dieses Vorhaben als eine »Falle für den Irak«, mit der die Türkei ihre »neo-osmanischen, besatzerischen und expansionistische Politik« verdecke.7
Auch nach der absehbaren Vertreibung der Hamas aus Gaza wird die Türkei darum bemüht sein, den Mittleren Osten zu destabilisieren und so den IMEC zu verhindern. Mithilfe der Hisbollah könnte sie beispielsweise versuchen, den Libanon und damit die unmittelbare Nachbarschaft zur Hafenstadt Haifa – ein unverzichtbares IMEC-Drehkreuz – zu destabilisieren. Ähnliches gilt für die nicht weit entfernt liegende Region Aleppo in Nordsyrien, die die Türkei durch die von ihr kontrollierten islamistischen Milizen in Idlib, Efrîn und Cerablûs erneut ins Chaos stürzen kann. Und auch im Irak verfügt die Türkei durch Zehntausende eigene Soldaten, die südkurdische PDK und turkmenische Milizen in Kerkûk über weitreichende Möglichkeiten, Konflikte zu schüren.
Doch auch die am IMEC beteiligten Mächte beharren mit aller Kraft auf die Durchsetzung des Projekts. Das zeigt sich allein schon an der Brutalität der israelischen Kriegsführung in Gaza. Auch wenn der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar jüngst einräumen musste, die Entwicklungen in der Region seien »definitiv eine Quelle der Besorgnis für uns, und die Erwartungen, die wir bei der Unterzeichnung der Vereinbarung im September hatten, mussten wir ein wenig anpassen“8, hält Indien weiter an der Umsetzung des IMEC fest: »Wir nehmen die Sache [IMEC, A.R.] sehr ernst und stehen miteinander im Austausch. Es muss nicht alles sofort klappen, damit etwas in Gang kommt. Wo immer wir etwas in Bewegung setzen können, werden wir es tun“9, sagte der indische Außenminister im Mai. Dementsprechend scheint man sich in IMEC-Kreisen dafür entschieden zu haben, in der Golfregion mit ersten praktischen Schritten der Umsetzung zu beginnen, während die Arbeiten rund um den Hafen Haifa zunächst schwierig bleiben dürften. In dieses Bild passt ein Besuch von Vertretern der indischen Schiffahrts- und Handelsministerien im Mai 2024 in den VAE, in dessen Rahmen die Häfen Kandla, Khalifa und Jebel Ali besichtigt wurden.10 Eine weitere wichtige Entwicklung ist die Benennung von Gérard Mestrallet als IMEC-Sondergesandten Frankreichs durch den französischen Präsidenten Macron im Februar. Mestrallet machte sich jüngst für Marseille als »den europäischen Brückenkopf für den Korridor“11 stark und forderte, dass »wir mit der Ausarbeitung des Projekts nicht bis zum Ende des [Gaza-]Krieges warten sollten“12.
Die Türkei nach den Wahlen: ein (zu) vorsichtiger Blick in den Spiegel
Die Destabilisierung des Mittleren Ostens durch den türkischen Staat hat nicht erst als Reaktion auf den IMEC begonnen. Auf der Grundlage der neo-osmanischen Misak-ı Milli-Strategie (dt.: Nationalpakt, Ziel ist die türkische Annexion u. a. Nordsyriens und des Nordirak) verfolgt die Türkei seit dem Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings im Jahr 2011 ganz unverblümt wirtschaftliche, politische und militärische Hegemoniebestrebungen in der Region. Dazu gehört insbesondere der brutale Krieg gegen die kurdische Bevölkerung und deren Selbstorganisierung in Nordkurdistan (Türkei), Rojava (Syrien) und Südkurdistan (Irak). Seit Juni 2015 – also seit mittlerweile neun Jahren – mobilisiert der türkische Staat all seine Mittel für diesen Krieg. In diesem Zeitraum hat die Türkei nach offiziellen Angaben mehr als 191 Milliarden Dollar für Rüstung und Militär ausgegeben. Allein zwischen 2023 und 2024 wurde das Budget des türkischen Militärs um 150%13 erhöht. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass die tatsächlichen Ausgaben für Geheimdienst, Polizei, Militär, Rüstung etc. deutlich höher liegen.
Nach neun Jahren Krieg steht der türkische Staat samt seiner AKP-MHP-Regierung heute vor einem sozialen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Scherbenhaufen. So lebt laut offiziellen staatlichen Stellen ca. ein Drittel der Bevölkerung in Armut14. Die Krise tritt seit der Wahlniederlage der AKP bei den Kommunalwahlen am 31. März 2024 besonders deutlich zutage. Das starke Abschneiden der CHP (Cumhuriyet Halk Partisi) und der Volksaufstand Hunderttausender DEM-Partei-Anhänger:innen (Halkların Eşitlik ve Demokrasi Partisi) in der nordkurdischen Stadt Wan zur Verteidigung der Wahlergebnisse haben Erdoğan und seine Regierung schwer in Bedrängnis gebracht. Seither dominieren drei Stränge die Politik des Landes:
Innerhalb des AKP-MHP-Regierungslagers finden in Form juristischer Scharmützel offene Machtkämpfe statt, während Erdoğan zugleich versucht, insbesondere die oppositionelle CHP durch Zugeständnisse ruhig zu stellen. So entließ er am Tag der Urteilsverkündung gegen führende HDP-Politiker:innen sieben Generäle aus dem Gefängnis, die ideologisch der CHP zugeordnet werden können. Außerdem umwarb Erdoğan mit einem medial pompös begleiteten Treffen am 3. Mai den neuen CHP-Vorsitzenden Özel und stellt seither weitere Treffen in Aussicht. Erdoğan geht es darum, die CHP für die Verabschiedung einer neuen Verfassung zu gewinnen und sich dadurch die Unterstützung der Opposition für sein Regime zu sichern. Zugleich bereitet er sich auf ein Scheitern dieses Versuchs vor und sicherte sich jüngst durch einen Erlass das alleinige Recht zu, eine Generalmobilisierung anzuordnen und Krieg zu erklären. Diese Entscheidung ist auch außenpolitisch wichtig, da die AKP-MHP-Regierung weiterhin offen mit neuen Bodenangriffen in Rojava/Nordsyrien und Südkurdistan/Nordirak droht.
Die CHP stellt sich bisher öffentlich gegen eine neue Verfassung, versucht aber zugleich unter der Losung einer »Normalisierung« eine eigene Debatte zur AKP-MHP-Politik anzustoßen. Damit scheint die Partei darauf abzuzielen, Erdoğan weiter in die Ecke zu drängen, um ihn zu politischen Zugeständnissen für die CHP-Klientel zu zwingen, ohne jedoch grundlegende Veränderungen in der türkischen Staatspolitik herbeizuführen. Denn die CHP kritisiert zwar offen den miserablen Zustand der Wirtschaft des Landes und beklagt die Armut und den Hunger der Bevölkerung, so z. B. im Rahmen einer Protestreihe im Mai in Istanbul und Ankara, bei der Zehntausende auf die Straßen gingen. Aber den wichtigsten Grund für die Wirtschaftskrise – den Krieg gegen die Kurd:innen – erwähnt die CHP bisher mit keinem einzigen Wort.
Genau dieser schwere Fehler veranlasste die KCK-Ko-Vorsitzende Besê Hozat in einem Interview Ende Mai zu folgender Warnung: »Wenn wir uns die Arbeit der CHP nach den Kommunalwahlen ansehen, dann können wir sie als sehr mittelmäßig bezeichnen. Seither hat sie fast ihr gesamtes Oppositions- und Kritikpotential gegenüber der Regierung eingebüßt. […] Aktuell ist von einer ›Normalisierung‹ die Rede. Doch was bedeutet solch eine Normalisierung in der Türkei? Es bedeutet das Ende des Folter- und Isolationssystems in İmralı [Bezug zu Inhaftierung Abdullah Öcalans, A.R.]. Es bedeutet die Gewährleistung der Gesundheit, Sicherheit und Freiheit von Rêber Apo [Abdullah Öcalan, A.R.]. Und es bedeutet die Lösung der kurdischen Frage auf einer demokratischen Grundlage. Wenn all dies geschieht, werden Recht, Demokratie und Freiheit in der Türkei herrschen. Normalisierung bedeutet nicht die Freilassung von sieben Generälen. Normalisierung bedeutet nicht, Gespräche mit der Opposition zu führen. Und Normalisierung bedeutet auch nicht die Freilassung von ein paar Gezi-Gefangenen.“15 Der oben erwähnte dritte Strang in der aktuellen politischen Landschaft der Türkei wird von der DEM-Partei vertreten und verfolgt eine ähnliche Politik wie von Besê Hozat beschrieben. Vertreter:innen der Partei fordern praktisch täglich im Parlament und bei Protestkundgebungen ein Ende der Totalisolation Abdullah Öcalans, einen Stopp der staatlichen Repressionen gegen kurdische Politiker:innen und Aktivist:innen, die Beendigung des Krieges in der Türkei, dem Irak und Syrien gegen die dortige kurdische Bevölkerung und eine wirkliche »Normalisierung« durch praktische Schritte zur Lösung der kurdischen Frage in der Türkei. Dafür trafen sich die beiden DEM-Partei-Ko-Vorsitzenden Tuncer Bakırhan und Tülay Hatimoğulları auch Anfang Mai mit dem CHP-Vorsitzenden Özgür Özel.
Schon dieser kurze Einblick in die aktuelle politische Dynamik des Landes zeigt, dass sich nach den Kommunalwahlen die Chance für einen demokratischen Wandel in der Türkei ergeben hat. Klar ist aber, dass dies nicht mit der aktuellen AKP-MHP-Regierung geschehen kann. Erdoğan, Bahceli und viele Kader in der Staatsbürokratie haben sich in den letzten 22 Jahren ihrer Regierungszeit zahlreicher Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen schuldig gemacht. Sie alle gehören so schnell wie möglich vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, ähnlich wie Netanjahu oder die Hamas-Führung. Die parlamentarische und außerparlamentarische Opposition im Lande ist also gefordert, gemeinsam die Gunst der Stunde zu nutzen, den Druck auf die Regierung zu erhöhen und durch die Erzwingung von Neuwahlen, den Weg für eine wirkliche »Normalisierung« in der Türkei zu ebnen.
Große Dynamik des kurdischen Freiheitskampfes im Jahr 2024
Der Freiheitskampf des kurdischen Volkes beschränkt sich nicht nur auf parlamentarische Arbeiten mithilfe von Parteien wie der DEM-Partei. Im Verlaufe der vergangenen 50 Jahre hat sich eine breite gesellschaftliche Bewegung entwickelt, die im Einklang mit der eigenen organisatorischen Stärke und der jeweiligen politischen Phase einen sehr vielfältigen Widerstand leistet. Aktuell wird dieser Kampf von einem besonders hohen Tempo und täglich neuen diplomatischen, politischen und militärischen Initiativen getragen.
Die seit Oktober letzten Jahres andauernde globale Kampagne »Freiheit für Öcalan und eine politische Lösung der kurdischen Frage” baut auch weiterhin Druck auf verantwortliche Institutionen wie das türkische Justizministerium, den Europarat und das Europäische Komitee zur Verhinderung von Folter (CPT) auf. Die breite internationale Unterstützung solidarischer Kreise, öffentliche Botschaften bedeutender Persönlichkeiten wie Slavoj Žižek oder der Protest von insgesamt weit mehr als 100.000 Menschen in Köln im Februar und in Frankfurt am Main im März 2024 sind allesamt wichtige Teile dieser Kampagne. Der diplomatische Druck auf die EU und die Türkei, sich zu ihrer gemeinsamen Verantwortung für die Totalisolation Abdullah Öcalans zu bekennen und diese sofort zu beenden, geht auch aktuell weiter. Jüngst wurde dieser Forderung erneut auf verschiedene Art und Weise Nachdruck verliehen: Dutzende bekannte Persönlichkeiten aus Großbritannien, Irland, Italien und den USA – inklusive Noam Chomsky und Jeremy Corbyn – forderten in einem offenen Brief an den CPT-Präsidenten Alan Mitchell, umgehend eine Delegation auf die türkische Gefängnisinsel İmralı zu entsenden; die DEM-Partei-Abgeordneten Cengiz Çiçek und Newroz Uysal beantragten die Einrichtung eines Sonderausschusses im türkischen Parlament, um Klarheit über die Situation auf der Gefängnisinsel İmralı zu schaffen; dutzende italienische Organisationen, Politiker:innen, Jurist:innen etc. forderten das CPT in einem offenen Brief dazu auf, eine Delegation nach İmralı zu entsenden und den Kontakt Öcalans zu seinen Anwält:innen sowie seiner Familie zu gewährleisten; diesen Forderungen schlossen sich auch 81 Organisationen und Einzelpersonen aus Spanien in einem weiteren offenen Brief an das CPT an; die Sprecher:innen der Rechtskommission der DEM-Partei beantragten beim türkischen Justizministerium eine Genehmigung für einen Besuch bei Abdullah Öcalan; im Rahmen einer von der kurdischen Frauenbewegung TJK-E organisierten Briefkampagne schickten über eintausend Menschen Briefe an das CPT und forderten umgehend wirksame Maßnahmen gegen die Isolation Abdullah Öcalans; Anfang Juni wandten sich auch 93 Personen des öffentlichen Lebens und der Politik aus Deutschland mit einem Brief an das CPT und forderten, ein Expertenteam nach İmralı zu entsenden und Klarheit über die Situation Abdullah Öcalans zu schaffen. Dass der türkische Staat mit Unterstützung der EU, Englands oder den USA weiter auf die Isolationspolitik besteht, zeigte sich Ende Mai an einer Entscheidung des für İmralı zuständigen Vollzugsgerichts in Bursa: ein weiteres sechsmonatiges Besuchsverbot für die Anwält:innen Abdullah Öcalans. Derartige Entscheidungen steigern die Wut der Kurd:innen und ihrer internationalen Freund:innen nur noch weiter, weshalb sie in Zukunft gemeinsam umso entschlossener für die Freiheit Abdullah Öcalans eintreten werden.
Politisch betrachtet ist zurzeit insbesondere die kurdische Bevölkerung in Nordkurdistan (Osttürkei) sehr lebendig. Seit dem 4. April 2024 haben Tausende gefangene PKK- und PAJK-Mitglieder in türkischen Gefängnissen ihren im vergangenen Jahr als Hungerstreik begonnenen Protest gegen die Totalisolation Abdullah Öcalans verändert und führen diesen nun in Form einer Verweigerung von Telefongesprächen, der persönlichen Teilnahme an Gerichtsverfahren und dem Besuch von Familienangehörigen fort. Sie haben sich damit dafür entschieden, unter vergleichbaren Isolationsbedingungen wie die Abdullah Öcalans zu leben. Begleitet wird dies von wöchentlich stattfindenden Protestaktionen vor Gefängnissen in der Türkei und Nordkurdistan. Unter dem Motto »Erhebt eure Stimme für die Freiheit« kommen in diesem Rahmen die Mütter und Väter der Gefangenen jeweils zu Hunderten in Städten wie Amed, Êlih (Batman), Mersin, Adana, Izmir und Istanbul zusammen und trotzen damit massiven staatlichen Einschüchterungs- und Repressionsversuchen. Bei einer Nachwahl in der kurdischen Kreisstadt Curnê Reş (tr.: Hilvan) gewannen die beiden DEM-Partei-Kandidat:innen Anfang Juni deutlich. Damit bestätigte sich der Trend der Kommunalwahlen vom 31. März 2024. Trotz der durch die AKP-Zwangsverwalter angehäuften enormen Schulden, die Arbeit verweigernder AKP-Stadtverwaltungsangestellter und täglicher Polizeirepressionen arbeiten die über 70 Stadtverwaltungen der DEM-Partei seit Anfang April unter Hochdruck an praktischen Verbesserungen im Leben der Menschen. Insgesamt lässt sich seit den Kommunalwahlen beobachten, dass die Bevölkerung Nordkurdistans ihrer Wut mutigen und spontanen Ausdruck verleiht. Abgesehen davon sind es auch sehr langfristig angelegte Proteste, wie die jeden Samstag stattfindende Kundgebung der »Samstagsmütter« in Istanbul, die mit ihrer Forderung nach einer Aufarbeitung Tausender Morde durch den türkischen Staat in den 1990er Jahren einen wichtigen Beitrag zu dem politischen Kampf der kurdischen Bevölkerung in der Türkei beitragen. Ende Mai wurde die 1000. Woche der »Samstagsmütter«-Proteste mit einer Großkundgebung auf der Istiklal-Straße in Istanbul begangen, worüber auch umfassend in internationalen Medien berichtet wurde.
Aufgrund der andauernden Kolonisierungs- und Genozidpolitik des türkischen Staates und seiner NATO-Verbündeten gegen die Kurd:innen ist und bleibt der militärische Widerstand das zentrale Mittel. Auch in diesem Bereich sind zuletzt wichtige Entwicklungen zu verzeichnen. Angesichts der Drohung Erdoğans, die seit 2021 andauernde türkische Besatzungsoperation in Südkurdistan (Nordirak) in diesem Sommer auszuweiten, geht der Widerstand der Guerillakräfte HPG und YJA-Star mit hoher Intensität weiter. Nachdem die HPG im Frühling den Abschuss von 15 türkischen Drohnen verkündet hatte, wurde am 27. Mai 2024 die 16. dieser millionenschweren Kriegsmaschinen von der Guerilla abgeschossen. Damit hat die Guerilla bewiesen, dass sie langfristig dazu in der Lage sein wird, Drohnen der türkischen Armee und damit eine der zentralen Säulen der türkischen Kriegsführung außer Gefecht zu setzen. Und nicht nur das: Wie jüngste Angriffe in der südkurdischen Region Zap auf mehrere türkische Militärposten zeigen, verfügt die Guerilla mittlerweile auch über Kamikaze-Drohnen.16 Damit ist sie in der Lage, aus der Distanz noch wirksamer und öfter die türkischen Stellungen in der Region anzugreifen. Und trotzdem, die Angriffe des türkischen Staates auf die Medya-Verteidigungsgebiete, die von der Guerilla kontrollierten Gebiete in Südkurdistan, halten weiter an. Die Bilanz der HPG für den Mai dieses Jahres verdeutlicht, wie schwer die täglichen Gefechte in der Region sind: Bei 82 Angriffen der HPG und YJA-Star auf die türkischen Besatzungstruppen wurden 43 türkische Soldaten getötet und 4 verletzt. Neben einer abgeschossenen Aksungur-Drohne – das teuerste Modell der türkischen Drohnen-Reihe – wurde auch ein türkischer Hubschrauber durch Guerilla-Beschuss beschädigt. Die türkische Besatzerarmee führte ihrerseits laut der HPG 245 Luftangriffe, 43 Helikopterangriffe, 61 Angriffe mit Kamikaze-Drohnen, 37 Angriffe mit verbotenen Sprengstoffen und 286 Chemiewaffenangriffe durch.17 Besonders hervorzuheben ist, dass das türkische Militär in den letzten Wochen den Einsatz chemischer Waffen gegen die Höhlen- und Tunnelsysteme der Guerilla erneut massiv verstärkt hat. Murat Karayılan, HPG-Kommandant und zugleich Mitglied des Exekutivrats der PKK, stellte in diesem Zusammenhang in einem jüngst veröffentlichten Interview fest: »Dieser Widerstand ist historisch betrachtet etwas völlig Neues für die Menschheit. Eine große, mit modernster Waffentechnologie ausgerüstete Armee wurde gestoppt und der Widerstand gegen sie wird auch weiter fortgesetzt. Das ist keine alltägliche Sache. Ja, im Moment gelingt es uns nicht, diesen Widerstand der Weltöffentlichkeit angemessen zu vermitteln. Das betrifft zwei Aspekte: Der erste ist, dass seit drei Jahren [von der Guerilla, A.R.] eine Kriegsdoktrin verfolgt wird, mit der die zweitgrößte Armee der NATO aufgehalten werden konnte. Das ist der bemerkenswerteste Aspekt. Der zweite ist, dass hier verbotene Waffen eingesetzt werden. Chemische Waffen, taktische Atomwaffen und verschiedenste andere Arten von Waffen. […] Spüren unsere Menschen in Kurdistan oder in Europa, dass hier rund um die Uhr ein Krieg tobt? Nein, das tun sie nicht.“18 Auch in zahlreichen Städten der Türkei und Nordkurdistans hat sich in den letzten Wochen der militärische Widerstand gegen die Genozid-Politik des türkischen Staates intensiviert. Organisationen wie die HBDH (»Vereinte Revolutionsbewegung der Völker«), Jinên Tolhildêr (»Rächende Frauen«) und MAK (»Freiheitsmilizen Kurdistans«) führten im Mai insgesamt 23 Angriffe in über zehn verschiedenen Städten bzw. Regionen der Türkei und Nordkurdistans durch. Dabei wurden u.a. zahlreiche Fabriken faschistischer Inhaber, Drogenhändler und Militärstützpunkte angegriffen und auch ein türkischer Unteroffizier getötet. Deutlich wird daran, dass sich der militärische Widerstand in Nordkurdistan bzw. der Türkei immer mehr in die Städte verlagert, was einem bedeutenden Wandel weg von klassischen Guerillastrategien gleichkommt.
Die Zukunft mitgestalten
Der Freiheitskampf der Kurd:innen stellt Tag für Tag aufs Neue unter Beweis, welchen großen Einfluss Gesellschaften auf die Entwicklungen in ihrer Heimat und der Welt nehmen können. Dafür müssen sie sich nur ihrer Kraft bewusst werden, sich als handelnde Akteur:innen verstehen und dementsprechend ihre Selbstorganisierung stärken. Die Unterstützung bestehender Freiheitskämpfe in Verbindung mit dem Aufbau von Widerstand in den kapitalistischen Zentren dieser Welt ist von großer Bedeutung. Denn die Kriege, Ausbeutung und ökologische Zerstörung der hegemonialen Mächte der kapitalistischen Moderne kennen keine Pausen oder Grenzen. Dementsprechend hoch werden auch das Tempo und die Entschlossenheit sein, mit dem alle moralisch denkenden und politisch handelnden Menschen in diesem Jahr für Freiheit, Demokratie und Gleichheit einstehen werden. Dass die Zeit dafür mehr als günstig ist, zeigt der kurze Einblick in die oben angesprochenen Krisen und Widersprüche der kapitalistischen Moderne. Ohne Zweifel wird der Blick nach Kurdistan auch in nächster Zeit weiter viel Inspiration für die Freiheitskämpfe der Völker dieser Welt zu bieten haben.
Fußnoten
1 https://www.youtube.com/watch?v=81O_Reg-Rio
2 https://anfdeutsch.com/aktuelles/kalkan-Erdoğan-steht-hinter-dem-hamas-angriff-auf-israel-39655
3 vgl. https://www.dw.com/de/Erdoğan-hanija-hamas-t%C3%BCrkei-beziehungen/a-68883427
12 ebd.
15 https://firatnews.com/kurdistan/-198407; gemeint sind Inhaftierte der Gezi-Park-Proteste 2013
16 vgl. https://firatnews.com/kurdistan/Ozel-teknikle-yapilan-eylemin-goruntusu-yayinlandi-198917
18 vgl. https://firatnews.com/guncel/karayilan-dusman-gerekli-yaniti-alir-198672
Kurdistan Report 234 | Juli-September 2024