Abdullah Öcalan: Der vergessene kurdische Mandela in einem türkischen Gefängnis und …
… das Schweigen der internationalen Gemeinschaft
von Benedetta Argentieri - Journalistin und Filmemacherin,
spezialisiert auf Konflikte, den Nahen Osten und feministische Themen. Seit über fünf Jahren verfolgt sie den Krieg im Irak und in Syrien vor Ort. Ihr neuester Dokumentarfilm: I am the Revolution.
Am 15. August 2024 jährt sich der Beginn des Krieges zwischen der Türkei und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zum 40. Mal. Ein Mann, der seit 25 Jahren im Gefängnis sitzt, könnte eine politische Lösung herbeiführen und 69 Nobelpreisträger:innen fordern seine Freilassung.
Doch Ankara setzt seinen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung mit dem stillschweigenden Einverständnis der USA und Europas fort.
Seine Familie hat Abdullah Öcalan seit mindestens vier Jahren nicht mehr gesehen, seine Anwälte seit fünf Jahren. Er sitzt 23 Stunden am Tag in seiner Zelle, an den Wochenenden sogar 24 Stunden. Er hat keinen Kontakt zu irgendjemandem, seit mehr als drei Jahren darf er weder telefonieren noch schreiben, und seit dem Tag seiner Festnahme im Jahr 1999 war die Kommunikation zur Außenwelt immer nur unregelmäßig möglich. Die Bedingungen, unter denen Abdullah Öcalan, der Vordenker der kurdischen Freiheitsbewegung, seit 25 Jahren in Einzelhaft auf İmralı, einer kleinen Insel im Marmarameer in der Türkei, festgehalten wird, verstoßen gegen alle internationalen Konventionen und sogar gegen lokale Gesetze. Seit mehreren Jahren mobilisieren Dutzende von Organisationen auf der ganzen Welt mit Appellen an internationale Institutionen, Mahnwachen und Märschen, um eine Verbesserung seiner Haftbedingungen, seine Freiheit und eine politische Lösung der kurdischen Frage zu fordern. Die Türkei hat sich dem jedoch stets in jeder Hinsicht widersetzt.
Eine zentrale Figur
69 Nobelpreisträger:innen haben sich in einem Brief an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gewandt und einen Neustart der seit 2015 unterbrochenen Friedensverhandlungen gefordert, um die Institutionen aufzurütteln. Ein weiteres Schreiben ging unter anderem an den Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR), den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und den Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter (CPT).
»Öcalan wird von der großen Mehrheit der Kurden als ihr politischer, geistiger und emotionaler Führer angesehen. Ohne seine Mitwirkung wäre es sehr schwierig, eine dauerhafte Lösung für die kurdische Frage zu finden. Deshalb habe ich beschlossen, einen zweiten Appell (der erste wurde 2019 veröffentlicht) an die internationalen Gremien zu richten, die sich der Behandlung Öcalans, der Folter und der Unrechtmäßigkeit der Einzelhaft bewusst sein sollten«, erklärte die Präsidentin der Frauen-Nobel-Initiative, Jody Williams, Friedensnobelpreisträgerin von 1997 (Mitbegründerin der Internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen - ICBL) und Koordinatorin der Initiative gegenüber Medya Haber.
»Ich bin seit vielen Jahren ein Friedensaktivistin. Die kurdische Frage ist ein riesiges ungelöstes Problem, das auf internationaler Ebene angegangen werden muss. Ohne Öcalans Beteiligung wird es sehr schwierig sein, eine Lösung zu finden«, fügte Williams hinzu.
Unter den zahlreichen Unterzeichner:innen befinden sich Nobelpreisträger:innen für Physik, Chemie, Medizin und Wirtschaft. Auch Shirin Ebadi, die 2003 den Friedenspreis erhielt, Charles M. Rice, der Entdecker des Hepatitis-C-Virus, sowie Herta Müller und Wole Soyinka, beide Nobelpreisträger:innen für Literatur.
»Die Besorgnis der Nobelpreisträger, die diesen offenen Brief unterzeichnet haben, rührt nicht nur aus der Isolation Öcalans und den anhaltenden Verletzungen seiner Rechte, sondern auch aus dem offensichtlichen Mangel an bedeutenden Bemühungen zu seinen Gunsten seitens der europäischen Institutionen, an die wir uns wenden, und des UN-Menschenrechtsausschusses«, heißt es in dem an die internationalen Institutionen gerichteten Schreiben. »Obwohl seine Rechte durch die türkische Verfassung und die nationale Gesetzgebung, die Statuten und Vorschriften der Europäischen Union und das internationale Recht garantiert sind, scheint nichts davon von Bedeutung zu sein.«
Viele vergleichen den inzwischen 75jährigen Abdullah Öcalan mit Nelson Mandela. Sie betonen seine zentrale Bedeutung für eine Lösung des Konflikts und benennen Erdoğans Hartnäckigkeit, keinen Weg zum Frieden zu öffnen, als eine Gefahr für den gesamten Nahen Osten.
In der Zwischenzeit hat die Türkei im Nordirak einen heimlichen Krieg begonnen, über den die internationale Gemeinschaft nicht spricht und die türkische Regierung setzt ihre militärischen Übergriffe im Nordosten Syriens fort. Alles Gebiete mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit, die weit außerhalb der türkischen Staatsgrenzen liegen. Aber gehen wir einen Schritt zurück.
Vierzig Jahre Kampf
Abdullah Öcalan wurde 1949 in der Türkei geboren, studierte Politikwissenschaften an der Universität Ankara und gründete 1978 mit einer Gruppe von Studierenden die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mit dem Ziel, die Rechte und die Anerkennung der Kurd:innen zu fördern. Ursprünglich hatte die PKK die Gründung eines kurdischen Staates zum Ziel. Durch die Abkommen Sykes-Picot 1916 und den Vertrag von Lausanne 1923 wurde die kurdische Bevölkerung der Region auf vier Staaten aufgeteilt: Irak, Syrien, Iran und Türkei. Von Anfang an war sie Opfer von Gewalt und Formen von Zwangsassimilation.
Unter den ersten Aktivist:innen der PKK befanden sich auch viele Türk:innen, und die Partei strebte eine Demokratisierung der Türkei an, die in eine Spirale der Gewalt geraten war. Das Land stand am Rande eines Bürgerkriegs zwischen dem linken Block, zu dem auch viele Kommunist:innen gehörten, und den ultranationalistischen Rechten, die sich unter anderem für die Durchsetzung einer einzigen Identität, der türkischen, einsetzten. Währenddessen zogen die jungen Männer und Frauen der PKK durch die Dörfer und sprachen heimlich über Kurdistan. Nach Jahrzehnten der gewaltsamen Assimilierung vermieden es viele Familien über ihre Herkunft und Kultur zu sprechen. Sie verleugneten ihre eigene Identität, in der vergeblichen Hoffnung, Gewalt zu vermeiden. »Niemand sprach so offen über Kurdistan. Von diesem Moment an öffneten meine Klassenkameraden und ich unsere Augen«, erzählte Gültan Kişanak von seiner Begegnung mit Sakine Cansiz, einer der ersten Parteiaktivistinnen.
Zwei Jahre nach Gründung der PKK, am 12. September 1980, wurde die Bevölkerung um 4.30 Uhr morgens per Radio über einen neuen Militärputsch informiert, den dritten seit 1960. Die Generäle erklärten das Parlament für aufgelöst. Das Land war unter Kontrolle der Streitkräfte. Sie begründeten ihr Eingreifen mit der Gefahr eines drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs, der Zersplitterung des Landes und der Gewalt. Es folgte eine dunkle Zeit für das Land: In kürzester Zeit wurden hunderttausende Menschen verhaftet. Von diesen wurden 230.000 vor Gericht gestellt, 50 wurden hingerichtet, 14.000 verloren ihre Staatsbürgerschaft, 171 wurden während der Haft getötet, Hunderttausende wurden gefoltert, Tausende werden noch immer vermisst. Alle politischen Parteien, Gewerkschaften und Stiftungen wurden aufgelöst. Viele PKK-Kämpfer:innen wurden verhaftet, darunter Sakine Cansiz. In den Gefängnissen begann ein erbitterter Widerstand, der zu Hungerstreiks und Selbstverbrennungen führte.
Infolge dieser Gewaltwelle hat die PKK am 15. August 1984 den bewaffneten Kampf als Mittel zur Verteidigung gegen staatliche Gewalt aufgenommen. Sie ist bis heute die am längsten bestehende Guerillabewegung der Welt und konzentriert sich in den Bergen Südkurdistans (Nordirak). Beeinflusst von den vielen maoistisch geprägten Befreiungsbewegungen der späten 1970er Jahre verfolgte die PKK zunächst das Ziel, einen Staat zu errichten. Doch seit den späten 1990er und frühen 2000er Jahren verfolgt sie, inspiriert durch Öcalans Schriften, ein neues Paradigma, den Demokratischen Konföderalismus. Kurz zusammengefasst, ist er System der Selbstverwaltung von unten, das auf drei Grundprinzipien beruht: radikale Demokratie, Ökologie und Frauenbefreiung.
Fünfundzwanzig Jahre in Isolationshaft
Am 15. Februar 1999 wurde Abdullah Öcalan nach einer langen Reise durch Europa in Kenia vom türkischen Geheimdienst (MIT) und der CIA verhaftet. Die Kurd:innen nennen diesen Tag den schwarzen Tag, zeigen mit dem Finger auf die westliche Welt und sprechen von einer Verschwörung. Niemand hatte den Mut, ihn aufzunehmen und eine Friedenslösung für die Region vorzuschlagen. Man übergab man ihn den Türken, sagen viele Aktivist:innen. Öcalan kam 1998 auch nach Italien, wo er politisches Asyl beantragte. Die damalige Regierung unter Massimo D'Alema ließ sich Zeit und dem Antrag wurde erst zwei Monate nach seiner Verhaftung stattgegeben.
Nach einem von »Amnesty International« als unrechtmäßig eingestuften Prozess, an dem auch ‚Human Right Watch‘ zahlreiche Zweifel äußerte, wurde Öcalan am 29. Juni 1999 wegen Hochverrats und Separatismus zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde später ohne Berufungsmöglichkeit in lebenslange Haft umgewandelt. Um ihrem Ziel näher zu kommen ein vollwertiges Mitglied der Europäischen Union zu werden, schaffte die Türkei daraufhin die Todesstrafe ab. Während des Prozesses hat sich Abdullah Öcalan mehrfach als Vermittler in einem möglichen Friedensprozess angeboten.
Nach seiner Verhaftung ist Öcalan auf die Gefängnisinsel İmralı im Marmarameer verlegt worden. Die acht Kilometer lange und drei Kilometer breite Insel hat nur einen Hafen und ein Dutzend Militär- und Verwaltungsgebäude. Seit zehn Jahren befindet sich Öcalan unter extrem harten Bedingungen in Einzelhaft.
In seiner winzigen Zelle ermöglicht nur ein kleiner Schlitz einen Blick auf die Außenwelt. Die Behörden fällten den Baum, den er sehen konnte, nachdem er seinen Anwält:innen erzählt hatte, dass diese Pflanze ihm Hoffnung gebe. Im Jahr 2009 kamen drei weitere kurdische Gefangene nach Imrali. Jetzt sind es insgesamt vier Menschen, die von einer Hundertschaft Soldaten bewacht werden. Einmal in der Woche können sie sich für eine Stunde treffen. In der übrigen Zeit verbringt Öcalan seine Tage in seiner Zelle und hat nur unter der Woche die Möglichkeit eine Stunde an die frische Luft zu kommen. Am Wochenende bleibt er 24 Stunden am Tag eingesperrt. Er hat keine Möglichkeit, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Seine Familienangehörigen haben in den letzten fünf Jahren 79 mal einen Besuchsantrag gestellt. Alle Anträge wurden abgelehnt. Seine Anwält:innen hat Öcalan seit 2019 nicht mehr gesehen.
Seit Beginn seiner Inhaftierung darf er nur ein Buch zur gleichen Zeit bei sich haben und nur wenige Notizen machen. Trotz dieser Einschränkungen schrieb er Anfang der 2000er Jahre seine Verteidigungsschriften, die er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vortrug. Eine Sammlung aktueller Analysen zum Staatskonzept, zum Kapitalismus und zur Notwendigkeit der Demokratisierung der Gesellschaft. Sein Lösungsvorschlag ist der demokratische Konföderalismus als Friedensinstrument nicht nur für das kurdische Volk, sondern als Lösung für die zahlreichen Konflikte in der Welt. Seine Bücher, die auch verschiedene Sprachen übersetzt wurden, haben viele Bewegungen inspiriert, insbesondere die der Frauen. Öcalan betrachtet die Frauen als die erste Kolonie in der Geschichte und argumentiert, dass keine Gesellschaft jemals frei sein kann, wenn die Frauen es nicht sind. Von ihm stammt der berühmte Slogan »Jin, Jiyan, Azadi«, »Frau, Leben, Freiheit«, der in den Straßen Irans und der ganzen Welt gerufen wird.
In den 25 Jahren von Öcalans Gefangenschaft ist die PKK stark gewachsen. Ein Wendepunkt kam 2014, als die Volksverteidigungseinheiten der PKK von »ihren« Bergen herunterkamen um die êzîdische Bevölkerung vor dem Massaker des selbsternannten Islamischen Staates (IS) zu retten, bei dem bis zu 10.000 Menschen getötet und mindestens achttausend Frauen und Kinder versklavt wurden. Den Guerillas gelang es, hunderttausende von Menschen zu schützen und mit Hilfe verbündeter Organisationen einen humanitären Korridor nach Nordsyrien zu öffnen.
Die erfolgreiche Revolution
Im Jahr 2012 gelang es kurdischen Milizen, die Soldaten des Regimes von Bashar al-Assad aus ihrer Region, die auch Rojava oder Westkurdistan genannt wird, zu vertreiben. Inspiriert von Öcalans Schriften wurde in der Region der demokratische Konföderalismus umgesetzt wird. Dank ihres stark demokratischen Charakters und der Notwendigkeit, sich gegen die islamistische Bedrohung zu verteidigen, hat es die Selbstverwaltung geschafft, ein Drittel Syriens zu verwalten und ca. fünf Millionen Menschen einzubeziehen. Viele verschiedene ethnische Gruppen und Religionen leben unter diesem Dach. Das Gebiet heißt jetzt »Demokratische Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyrien« – DAANES. Die autonome Selbstverwaltung betrachtet sich als Teil Syriens und fordert eine Demokratisierung des ganzen Landes.
In Nord- und Ostsyrien hat jede Institution und Organisierung zwei Ko-Vorsitzende, eine Frau und einen Mann. Die multiethnischen militärischen Selbstverteidigungskräfte sind unter dem Dach der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) organisiert, zu denen auch die YPG und die YPJ (Volks- und Frauenverteidigungseinheiten) gehören. Sie waren es, die den selbsternannten Islamischen Staat (IS) in Syrien gestoppt und dann 2019 besiegt haben.
Ankara führt einen von der internationalen Gemeinschaft ungestörten Krieg an mehreren Fronten gegen die Kurd:innen. Im Nordosten Syriens ist es ein täglicher Drohnenkrieg, ein so genannter »Krieg niedriger Intensität«. Außerdem hält die Türkei große Gebiete Syriens entlang ihrer Grenze besetzt und begeht, auch nach Ansicht der UN, ethnische Säuberungen.
In den Bergen Südkurdistans (Nordirak) will die Türkei eine endgültige Konfrontation mit der PKK erreichen. Die NATO-Macht hat im Nordirak 71 Militärstützpunkte eingerichtet. Sie hat rund 300 Panzer und Tausende von Soldaten über die Grenze geschickt, Kontrollpunkte auf irakischem Gebiet errichtet und bombardiert täglich auch zivile Ziele.
Erdoğans erklärtes Ziel ist, die PKK bis zum Sommer auslöschen. Die Guerilla ist zum Widerstand bereit.
Deshalb ist es jetzt nach Meinung der Friedensnobelpreisträger:innen mehr denn je notwendig, die Friedensgespräche wieder aufzunehmen. Die kurdische Frage kann niemals allein mit militärischen Mitteln gelöst werden. Vor allem der Zustand Öcalans ist besorgniserregend. Einer Delegation des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter (CPT) gelang es ihn 2022 zu besuchen. Doch die Türkei blockiert die Veröffentlichung des Berichts. Die Mitglieder der Delegation waren die letzten, die ihn gesehen haben.
Kurdistan Report 235 | Oktober-Dezember 2024
Die Rolle der PKK bei der Verteidigung Südkurdistans (RKI)
… dass »nur die PKK die Zukunft von Başur sein kann«
Ali Devrim, freier Journalist
Das von den Besatzungsmächten sowie der Kollaboration der PDK geprägte Südkurdistan bedarf nicht allein einer militärischen, sondern vor allem auch einer ideologischen Verteidigung.
Alle Teile Kurdistans haben – je nach Ideologie, Methodik und Charakter der jeweiligen Besatzerstaaten – rote und weiße Völkermorde1 erlebt. Insbesondere der Völkermord in Südkurdistan (RKI)2 ist einzigartig. Während Südkurdistan nach Jahrzehnten militärischer Auseinandersetzungen mit der Zentralregierung in Bagdad ein gewisser autonomer Status zugestanden wurde, wurden die anderen Teile Kurdistans vollständig verleugnet und sollten vernichtet werden. Mit anderen Worten: Es gibt keine gänzliche Leugnung Kurdistans. Aber das Existenzrecht Südkurdistans war die Gegenleistung für den Verrat an den Freiheitsbewegungen in den anderen besetzten Teilen. Um die revolutionären Bewegungen in den anderen Teilen Kurdistans zu zerstören, war es zuerst notwendig, die patriotische Linie auszuschalten, und das wurde in Südkurdistan realisiert. Es sollte eine Haltung der Kollaboration und des Verrats etabliert werden, und diese wurde von den Barzanîs3 durchgesetzt. Südkurdistan wurde zum Labor eines vom kapitalistischen System erschaffenen kurdischen Modells.
Aber das Volk Başûrê4 Kurdistans hat seinen Freiheitswillen nicht aufgegeben. Es beharrt auf der kurdischen Identität, und jedes Mal, wenn sich die Gelegenheit bot, erhob es sich und vertrieb die Besatzer. Bis heute wird ein unermüdlicher Kampf geführt, der die anderen Teile Kurdistans seit jeher inspiriert. Der Widerstand gipfelte in der Vertreibung der Besatzer aus Südkurdistan im Jahr 1991. Das Unglück begann aber mit diesem Sieg: zwar war der Kampf auf nationaler Ebene erfolgreich, der ideologische Kampf erlitt jedoch eine Niederlage. Die linke, sozialistische, freiheitliche Linie wurde liquidiert und durch eine ersetzt, die dem kapitalistischen System diente und mit jenen Staaten, die Kurdistan besetzt hielten, kollaborierte. Dies war der Beginn einer Zeit, in der Kurd:innen durch die Hand von Kurd:innen getötet wurden. Es ist wie bei einer leeren Mühle: der Mühlstein nutzt sich ab, während er sich bewegt, da er nur mehr auf bloßem Stein reibt. Passend wurde der Ausdruck »leere Mühle« (kurdisch: Aş Batal) von dort lebenden Menschen geprägt.
Die Funktion der PDK und der Regierung Südkurdistans
Gegenwärtig meint man in Başûr, Geld sei die wichtigste Ideologie. Aber trotz allem sind patriotische5 Gefühle und das Bewusstsein der Bevölkerung stark. Zur Zeit gibt keine der Fraktionen in Başûr, die sich als linke, sozialistische und demokratische Bewegungen definieren, dem Volk Hoffnung, weil sie von den Barzanîs abhängig sind. Da sie außerdem nicht in der Lage sind, das vom kapitalistischen System geschaffene Gesellschaftssystem angemessen zu analysieren, kämpfen sie eher um einen Anteil an der Macht, als dass sie einen ideologisch motivierten Kampf dagegen führen würden. Darum sind 70 Prozent der Stimmberechtigten letztes Jahr nicht zu den Wahlen gegangen. Unter den nur ca. 30 Prozent, die teilnahmen, waren die meisten Pêşmerga-Kräfte6 und Beamte. Sie haben gewählt, weil sie mussten.
Mit wem wir auch sprachen – Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, von Politiker:innen bis hin zu Intellektuellen und jungen Menschen –, viele erklärten, dass nur die PKK die Zukunft sowohl von Başûr als auch ganz Kurdistans sein kann. Es ist in der kollektiven Erinnerung noch lebendig, wie die Guerillakämpfer:innen ihre Prinzipien von Rojava bis Şengal, von Mexmûr bis Kerkûk und Xaneqîn gegen den IS verteidigte.
Die Region Südkurdistan spielt die Rolle eines schwarzen Lochs, das Revolutionäre aus allen vier Teilen regelrecht verschluckt. Wie eine Fata Morgana in der Wüste zerstören das kapitalistische System sowie die Kolonialherren nationale und freiheitliche Bewegungen aus anderen Teilen Kurdistans, indem sie diese in eine Scheinfreiheit lotsen, die sie in Başûrê-Kurdistan durch die PDK geschaffen haben. Ende der 1970er-Jahre wurden beispielsweise Sait Elçi und Dr. Sait Kırmızıtoprak, die für die Unabhängigkeit eintraten und versuchten, eine freiheitliche Bewegung in Bakurê-Kurdistan7 aufzubauen, im Auftrag des türkischen Staates von der PDK nach Südkurdistan gelockt und dort von den Barzanîs ermordet. Auch Vertreter:innen nationaler Bewegungen aus Rojhilatê-Kurdistan8 wurden von der PDK nach Başûr gelockt und massakriert. Dies setzt sich bis heute fort. Aktuell spielt die PDK auf Wunsch des Iran die Rolle, Parteien, Organisationen und Persönlichkeiten aus Rojhilat auszulöschen, sie von dort fernzuhalten, sie in Lager zu stecken und vom Kampf abzubringen. Als die Revolution in Rojava begann, hoben PDK-Angehörige Gräben an der Grenze zu Rojava aus und machten noch vor dem faschistischen türkischen Staat die Grenze dicht. Indem sie gemeinsam mit dem türkischen Geheimdienst MİT Konterrevolutionäre nach Rojava schleusten, versuchten sie, die wichtigste Revolution des 21. Jahrhunderts zu ersticken. Die internationalen Mächte machten die Bildung der Regierung und des Parlaments von Başûrê-Kurdistan 1992 davon abhängig, dass die Revolution in anderen Teilen Kurdistans erstickt werde. Deshalb war der erste Akt des im selben Jahr gegründeten Parlaments, gemeinsam mit der Türkei Krieg gegen die PKK zu führen.
Süleyman Maini (Vater von Siyamend Maini, ehemaliger Ko-Vorsitzender der PJAK9), der am 15. Mai 1968 auf Wunsch des iranischen Regimes von der PDK ermordet und dessen Kopf dem Iran übergeben werden sollte, sagte, als er darüber informiert wurde, dass er von der PDK getötet werden sollte: »Wenn ich wüsste, dass mein Tod der kurdischen Sache in Başûr nützen würde, wäre ich bereit, jetzt sofort zu sterben. Aber ich weiß, dass es der kurdischen Sache nicht nützen wird, sondern nur den Verrätern«. Die kollaborative Haltung der PDK lässt die übrige Gesellschaft von Başûr schutzlos zurück. Gegenwärtig bleibt in Başûrê-Kurdistan nichts mehr übrig von einer Politik im Namen eines kurdischen Interesses; es dominiert eindeutig die Politik der Besatzerstaaten. Die Autonomieregierung hat Başûrê zu einer Provinz, zu einem Gouvernement der Türkei und des Irans gemacht. Das Hauptproblem Başûrê-Kurdistans ist weder ein nationales, noch ein wirtschaftliches oder ein Sicherheitsproblem; es ist ideologischer und systemischer Natur. Deshalb ist die Verteidigung Südkurdistans eher durch ideologischen und politischen Kampf gegen die Kollaboration möglich als durch Waffengewalt. In den letzten 70 Jahren sind in allen vier Teilen Kurdistans viele nationale, freiheitliche oder revolutionäre Bewegungen entstanden. Da jedoch keine von ihnen das Ausmaß der Kollaboration, die im Auftrag der internationalen Mächte durch die PDK in Başûr umgesetzt wird, richtig verstanden hatte, sahen sie die PDK als kurdische Organisation, sind in die Falle getappt und wurden vernichtet.
Die Bedeutung der PKK für den Feiheitskampf in Südkurdistan
Trotz der Angriffe imperialistischer Mächte gegen die PKK, wächst und erstarkt diese Tag für Tag – eine Entwicklung, die beweist, dass Rêber Apo (Abdullah Öcalan) das wahre Gesicht der PDK sowie die in Başûr gestellte Falle erkannte und darum nicht hineintappte. Während andere Bewegungen in Bakur, Rojhilat und Rojava10 zur PDK nach Başûrê-Kurdistan kamen, um den Vernichtungsschlägen der Besatzerstaaten zu entgehen, brachte Rêber Apo, um dem Putsch in der Türkei 1980 zu entkommen, seine Kader zu den revolutionären Organisationen Palästinas. Als die PKK ihren bewaffneten Kampf 1984 aufnahm, wandte sich Mesûd Barzanî zunächst im Namen der NATO-Gladio an Rêber Apo und bat ihn, »die Waffen niederzulegen«. Als dieser der Bitte nicht nachkam, begann die PDK, sich gegen die PKK in Başûr zu verschwören und sie anzugreifen. 1992, 1995 und 1997 führte sie zusammen mit dem türkischen Staat Pêşmerga-Kräfte in den Kampf gegen die PKK. Die PDK unterstützt auch die Invasions- und Annexionsoperationen, die der türkische Staat am 24. Juli 2015 gegen Başûr begann und die sich fortwährend ausweiten. Im Rahmen des internationalen Komplotts vom 9. Oktober 1998 gegen Rêber Apo – und mit seiner Person gegen das ganze kurdische Volk – sagten PDK-Vertreter der italienischen wie auch den anderen europäischen Regierungen: »Öcalan vertritt nicht die Kurden, er ist ein Terrorist, lasst ihn nicht in Europa bleiben!« und übergaben ihnen Akten, die sie zusammen mit dem türkischen Staat vorbereitet hatten. Aus diesem Grund muss die Verteidigung von Başûr auf Grundlage der von Rêber Apo entwickelten Ideologie der freien Menschen und der freien kurdischen Identität erfolgen.
Militärisch stand die Guerilla bei der Verteidigung von Başûr an vorderster Front. Als sich 1991 das Volk von Başûr erhob und die einmarschierenden Truppen Saddam Husseins in die Flucht schlug, beteiligte sie sich aktiv an der Verteidigung von Başûr, indem sie an der Front in Zaxo und Dohuk gegen das Regime kämpfte, als dieses einige Monate später erneut angriff. Als IS-Banden nach der Invasion von Mûsil (Mosul) auch Başûr angriffen, kämpfte die PKK aufopferungsvoll an der Front von Şengal bis Mexmûr, von Kerkûk bis Xaneqîn, während die PDK-Pêşmerga ihre Verteidigungslinien verließen und auf Anweisung der Barzanîs das Weite suchten. Während die PKK in Mexmûr gegen den IS kämpfte, hatten PDK-Funktionäre bereits ihre Koffer zur Flucht vorbereitet und mit der Evakuierung von Hewlêr begonnen.
Der für Başûrê-Kurdistan gefährlichste Besatzerstaat ist die faschistische Türkei. Seit seiner Gründung betrachtet der türkische Staat die gesamte Region bis Mûsil und Kerkûk (d.h. Başûr) als zum Gebiet des Misak-ı Millî11 gehörig und hat das Ziel, sie eines Tages zu annektieren. Im Juli 2015 begann die Türkei erneut eine Offensive gegen die PKK, um diesen Traum zu verwirklichen. Diese Angriffe, die durch kein Kriegsrecht legitimiert sind, dauern nun seit 9 Jahren ununterbrochen an. Die Türkei greift so unerbittlich an, weil die PKK bei der Verteidigung von Başûr an vorderster Front steht und die einzige Kraft ist, die sich wirksam widersetzt. Zunächst hatte der türkische Staat die Okkupation von Başûr durch den IS erledigen lassen wollen. Aber als die PKK-Guerilla dieses Spiel mit ihrem Widerstand erfolgreich durchbrach, begann der türkische Staat selbst mit den Besatzungsoperationen.
Offiziell verfügt die Regierung von Başûr über mehr als 100.000 Pêşmerga. Aber diese Truppe ist nicht in der Lage, Başûr auch nur gegen den kleinsten Angriff zu verteidigen. Denn die von der PDK kontrollierte Regierung, der diese Kämpfer unterstehen, verfolgt keine patriotische, widerständige und freiheitliche Linie. Obwohl der autonome Status von Başûr verfassungsmäßig garantiert ist, hat der arabisch-schiitische Nationalismus im Irak dies bis heute nicht verdaut. Am 17. September 2017, als die irakischen Streitkräfte einmarschierten und 40% des Territoriums von Südkurdistan besetzten, zog sich die erwähnte 100.000 Pêşmerga starke Armee zurück, ohne eine einzige Kugel abzufeuern und übergab auf Anweisung Barzanîs u.a die Regionen Kerkûk und Xaneqîn. Wenn der irakische Staat heute die restlichen 60 Prozent von Başûr nicht auch besetzt hält, liegt das v.a. an der Präsenz der PKK. Der Irak wagt einen solchen Angriff nicht, weil er gesehen hat, dass der türkische Staat, der seit 40 Jahren mit der gesamten Macht der NATO im Rücken gegen die PKK kämpft, nicht erfolgreich war. Weder Irak und Syrien, noch Iran, noch die Türkei sind in der Lage, irgendwo eine wie auch immer geartete kurdische Autonomie zu akzeptieren. Wenn sie trotzdem 33 Jahre lang den Status in Başûr toleriert haben, dann nur, weil die PDK, die Başûr in ihren Händen hält, ihren Kolonialherren mehr dient als den Kurd:innen und weil sie nicht wollen, dass sich in einem der Teile Kurdistans eine revolutionäre Linie durchsetzt. Tatsächlich ist derzeit die PKK die einzige Garantie, die einzige Verteidigungskraft für alle vier Teile Kurdistans. Denn die Guerilla ist nicht nur eine militärische Kraft. Sie steht für eine Philosophie. Sie ist der Raum, in dem die moderne und freie kurdische Identität aufgebaut wird.
1 Rote Völkermorde: Genozide durch physische Vernichtung, weiße Völkermorde: Vernichtung der Kultur und der Identität durch (Zwangs-)Assimilation und Verleugnung (Anm. d. Übers.)
2 Region Kurdistan Irak, die Autonome Region Kurdistan, auf Kurdisch: Başûrê Kurdistanê, Südkurdistan
3 Barzanîs: Familienclan in Südkurdistan, der seit der Gründung der PDK (Demokratische Partei Kurdistans, häufig auch KDP abgekürzt) unter der Führung Mustafa Barzanîs 1946 die politische Machtelite in großen Teilen der autonomen Region Kurdistans Irak stellt
4 Başûr ist auf Kurdisch der Süden. Südkurdistan (der auf irakischem Staatsgebiet gelegene Teil Kurdistans) wird auf Kurdisch Başûr oder Başûrê Kurdistanê genannt.
5 Das deutsche Wort »patriotisch« gibt die Bedeutung des entsprechenden kurdischen Wortes nur sehr unzureichend wieder. Das kurdische »welatparêz« setzt sich aus den kurdischen Wörtern »parêz« für Land oder Heimat und »parastin« für verteidigen zusammen. Es wird vor allem für die Menschen verwendet, die ihr Land lieben und es gegen Kolonialisierung und Ausbeutung verteidigen. Es bedeutet auch, eine Verbindung zur eigenen Geschichte zu haben und zur Kultur des Ortes oder der Gemeinschaft, aus der eine Person kommt. Im Gegensatz zu Patriotismus ist es verbunden mit Internationalismus, was bedeutet, dass die Kämpfe und die Verteidigung des Landes niemals zu Lasten oder im Ausschluss anderer Orte oder anderer Gesellschaften gehen.
6 Pêşmerga: Bezeichnung der Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistan im Irak
7 Bakurê Kurdistanê / Bakur: Nordkurdistan, der von der Türkei besetzte Teil Kurdistans
8 Rojhilatê Kurdistanê / Rojhilat: der Osten, vom Iran besetzte Teil Kurdistans
9 PJAK: Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê, dt.: Partei für ein freies Leben in Kurdistan, kurdische Befreiungsbewegung in Ostkurdistan
10 Rojava: Westkurdistan, der syrisch besetzte Teil Kurdistans
11 Misak-ı Millî: Nationalpakt; darin wurden von der türkischen Unabhängigkeitsbewegung nach dem 1. Weltkrieg die Grenzen des türkischen Nationalstaates festgelegt. Auch Gebiete, die heute auf irakischem und syrischem Staatsgebiet liegen, werden darin als zur Türkei gehörig betrachtet. Die nationalistischen türkischen Kräfte halten bis heute an den Misak-ı Millî Grenzen fest. Die Annexionen von Gebieten in Rojava und Başûr werden oft mit Hinweis auf den Misak-ı Millî gerechtfertigt.
Kurdistan Report 235 | Oktober-Dezember 2024
100 Jahre organisierte Solidarität für verfolgte Aktivist:innen
1924 wurde die Rote Hilfe Deutschlands gegründet
Silke Makowski, Hans-Litten-Archiv e.V.1
In diesem Jahr feiert die Rote Hilfe 100-jähriges Jubiläum: Am 1. Oktober 1924 wurde die Rote Hilfe Deutschlands als Mitgliederorganisation gegründet. Die Entwicklung der Rote-Hilfe-Organisationen ist keineswegs geradlinig verlaufen, sondern weist viele Brüche und Neuorientierungen auf. Eine Kontinuität war und ist aber stets die praktische und politische Solidarität mit allen linken Aktivist:innen, die von staatlicher Repression betroffen sind.
Die Geschichte solidarischer Unterstützung für politische Gefangene und andere verfolgte Genoss:innen ist so alt wie die Geschichte sozialer Kämpfe, die von Anfang an den Angriffen von Polizei und Justiz ausgesetzt waren. Schon immer hatten einzelne Aktivist:innen und lokale Unterstützungsgruppen sich darum bemüht, die schlimmsten Folgen abzumildern und den Betroffenen zur Seite zu stehen. Eine überregionale Koordination fehlte aber.
Von den RH-Komitees zur Mitgliederorganisation
Nach dem Ersten Weltkrieg spitzte sich die Lage in Deutschland zu: Anfang 1919 schlug der Staat die Rätebewegung blutig nieder, im März 1920 gingen die Regierungstruppen gegen die Sozialist:innen vor, die den völkischen Kapp-Putsch abwehrten, und im März 1921 erstickte das Militär den Mitteldeutschen Aufstand. Hunderte fortschrittliche Arbeiter:innen wurden ermordet, tausende zu Haftstrafen verurteilt, und ihre Familien befanden sich in einer extremen Notlage.
In dieser Situation waren die spontan entstandenen Solidaritätsgruppen überfordert. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), deren Anhänger:innen besonders stark im Fadenkreuz der Behörden standen, gründete deshalb im März 1921 die ersten Strukturen, die den Namen »Rote Hilfe« trugen: Die Rote-Hilfe-Komitees waren reichsweit vernetzt, hatten eine zentrale Kasse und konnten dadurch regionale Engpässe ausgleichen. Auch wenn die RH-Komitees eng an die KPD angeschlossen waren, unterstützten sie politisch Verfolgte und ihre Familien unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit. Die bloßen Spendensammlungen reichten aber bei Weitem nicht aus, um alle Bedürftigen zu versorgen, und die Hyperinflation ab Anfang 1923 verschärfte die Finanznot noch mehr. Als im Herbst 1923 eine weitere Repressionswelle einsetzte, wurden im November nicht nur die KPD, sondern auch die RH-Komitees für mehrere Monate verboten und ihre Anhänger:innen verfolgt.
Nach der Aufhebung des Verbots zum 1. März 1924 diskutierten die Rote-Hilfe-Aktivist:innen neue Perspektiven und strebten eine eigenständige, also von der KPD losgelöste Mitgliederorganisation an: Zum einen boten regelmäßige Mitgliedsbeiträge berechenbare Einnahmen, um die Unterstützungszahlungen dauerhaft zu finanzieren. Zum anderen sollte die Unabhängigkeit vom KPD-Apparat den parteienübergreifenden Anspruch glaubwürdiger vermitteln, breitere Spektren ansprechen und die Solidaritätsarbeit besser vor künftigen Repressionsschlägen schützen. Zum 1. Oktober 1924 wurde die Rote Hilfe Deutschlands (RHD) offiziell gegründet.
Zentrale Struktur mit aktiver Massenbasis
Die RHD wies eine klassische Gliederung auf: An der Spitze stand der Berliner Zentralvorstand, und die regionale Arbeit wurde von Bezirksvorständen koordiniert. Auch auf Unterbezirks-, Ortsgruppen- und Stadtteilebene gab es jeweils mehrköpfige Leitungen.
Der Großteil der Alltagspraxis fand an der Basis statt, beispielsweise Spendensammlungen und Öffentlichkeitsarbeit. Dass die Zahlungen für die Familien der Gefangenen und für Anwält:innen aus der Gesamtkasse übernommen wurden, entlastete vor allem Bezirke, in den die Repression überdurchschnittlich stark war. Zentral erstellte Publikationen und überregional geplante Rundreisen mit bekannten Referent:innen erleichterten die Tätigkeit vor Ort.
Gleich in den ersten Monaten erlebte die RHD eine extreme Beitrittswelle und zählte Ende 1925 bereits 100.000 Individualmitglieder. Hinzu kam eine steigende Zahl von kollektiv beigetretenen proletarischen Kulturvereinen, politischen Organisationen und Betriebsbelegschaften. Das Wachstum hielt an und verstärkte sich Anfang der 1930er-Jahre: Im Herbst 1932 war die RHD auf 375.000 Einzelmitglieder und über 650.000 kollektiv erfasste Anhänger:innen angewachsen.
Tatsächlich war es der Massenorganisation gelungen, weit über die KPD hinaus Mitglieder zu werben, sodass 1932 deutlich über 60 Prozent der Roten Helfer:innen parteilos waren. Problematischer war das Verhältnis zu Sozialdemokrat:innen – zum einen, weil der SPD-Vorstand schon früh einen Unvereinbarkeitsbeschluss gefasst hatte, zum anderen wegen der massiven Kritik, die die RHD an den repressiven sozialdemokratischen Regierungen und der Parteispitze übte. Dennoch unterstützten viele Sozialdemokrat:innen die Aktivitäten oder traten sogar bei. Auch jenseits der Arbeiter:innenbewegung traf die Organisation auf Sympathien. Unter anderem linke Prominente wie Erich Mühsam, Kurt Tucholsky, Thomas Mann und Käthe Kollwitz setzten sich für einzelne Kampagnen und Projekte ein oder engagierten sich als Mitglieder.
Erfolgreich gewann die RHD zudem proletarische Frauen, die sie mit gezielten Werbekampagnen, Publikationen und Veranstaltungen ansprach und durch niedrigschwellige Beteiligungsmöglichkeiten in die Solidaritätsarbeit einbezog. Dass die Rote Hilfe Deutschlands engagiert gegen den § 218 und für das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung eintrat, motivierte weitere Arbeiterinnen zum Beitritt. Bis 1932 war der Anteil weiblicher Mitglieder auf immerhin 27 Prozent angestiegen, von denen sich viele aktiv beteiligten.
Materielle Hilfe und politische Öffentlichkeitsarbeit
Im Mittelpunkt der Arbeit stand weiterhin, materielle Unterstützung für die zahlreichen politischen Gefangenen und ihre notleidenden Angehörigen zu leisten. Zusätzlich zu den Mitgliedsbeiträgen brachten regelmäßige Spendenkampagnen beeindruckende Ergebnisse, insbesondere die Winterhilfssammlungen: Ab Herbst erbaten die Roten Helfer:innen in den Wohnblocks, in Geschäften und auf Märkten Geld- und Sachspenden, die an die betroffenen Familien verteilt wurden. Die inhaftierten Genoss:innen wurden mit Briefen, Päckchen und Besuchen unterstützt. In den 1920er-Jahren floss der Großteil der Ausgaben in die Familien- und Gefangenenhilfe.
Aushängeschilder waren dabei die beiden Kinderheime der Roten Hilfe. Im Barkenhoff in Worpswede nahe Bremen und im MOPR-Heim im thüringischen Elgersburg konnten sich die Kinder der politischen Gefangenen, die oft an Unterernährung und armutsbedingten Krankheiten litten, für einige Wochen erholen. Diese Einrichtungen genossen auch in liberalen bürgerlichen Kreisen große Anerkennung und erhielten breite politische und materielle Unterstützung.
Aber die RHD betonte immer, keine karitative Organisation zu sein, sondern wollte mit ihrer Tätigkeit die revolutionäre Bewegung unterstützen. Von Anfang an spielten daher politische Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Rolle. Mit Demonstrationen, Vorträgen und anderen Veranstaltungen, auf Plakaten, Flugblättern und in Zeitungen sowie durch öffentlichkeitswirksame Aktionen machte die Solidaritätsorganisation ihre Forderungen unübersehbar.
Sowohl reichsweit als auch auf Bezirks- und Ortsgruppenebene brachte die RHD Zeitungen und Flugblätter in oft hoher Auflage heraus. Der Zentralvorstand publizierte die Monatszeitung »Der Rote Helfer« (ab 1929 »Tribunal«) und unterhielt eigene Verlage, in denen Rechtshilfe-Broschüren und andere Veröffentlichungen zu Repression erschienen.
Kampagnen gegen staatliche Verfolgung
Ein dauerhaftes Thema blieb der Einsatz für die Amnestierung aller politischen Gefangenen. In wiederholten Kampagnen, oft im Bündnis mit der KPD und anderen Organisationen, erreichten die Roten Helfer:innen immerhin mehrere Teilamnestien. Rund um den 18. März, der seit 1923 als Internationaler Tag der politischen Gefangenen begangen wurde, fanden jedes Jahr zahlreiche Veranstaltungen und Kundgebungen statt.
In den 1920er-Jahren engagierte sich die RHD intensiv zu internationalen Fällen, etwa gegen die Verfolgung der Arbeiter:innenbewegung in Bulgarien, Polen und China oder gegen die Hinrichtung der US-amerikanischen Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti. Nach der Wiener Julirevolte 1927 unterstützte sie die verhafteten Aktivist:innen und ihre Familien. Dass die RHD über die Ereignisse bestens informiert war, war der Internationalen Roten Hilfe (IRH) zu verdanken. In diesem Dachverband waren dutzende Rote-Hilfe-Organisationen vernetzt, die koordinierte Kampagnen durchführten und einander bei schweren Repressionswellen zur Seite standen.
Gegen Notverordnungen, Polizeigewalt und Nazi-Morde
Hatte die RHD schon in den ersten Jahren gegen die Verfolgung in Deutschland, drohende Gesetzesverschärfungen und besonders harte Gerichtsurteile mobilisiert, rückten diese Themen in den 1930er-Jahren in den Vordergrund. Ab 1929 verschärften sich die sozialen Konflikte, als durch die Wirtschaftskrise die Massenarmut extrem anstieg, und sich gegen die erstarkende NS-Bewegung entschiedene antifaschistische Abwehrkämpfe formierten.
Die Regierung der Weimarer Republik reagierte darauf mit immer schärferer Repression gegen kommunistische und andere fortschrittliche Kräfte. 1929 schoss die Berliner Polizei in die 1.-Mai-Demonstration, und unmittelbar danach wurden der KPD-nahe Rote Frontkämpferbund verboten und seine Mitglieder verfolgt. Die frühen 1930er-Jahre waren geprägt vom Abbau vieler demokratischer Rechte: Häufig wurde der Ausnahmezustand verhängt, und es entwickelte sich eine Art Präsidialdiktatur, die mit Notverordnungen die Grundrechte einschränkte. Parallel ging die Polizei immer brutaler gegen Versammlungen der Arbeiter:innenbewegung vor und erschoss hunderte Demonstrant:innen. Tausende Aktivist:innen wurden verhaftet und angeklagt, sodass die Zahl der politischen Gefangenen in die Höhe schnellte.
Die Rote Hilfe Deutschlands initiierte deshalb zu Beginn der 1930er-Jahren wiederholte Kampagnen gegen Gesetzesverschärfungen, Notverordnungen und die Einführung von Sondergerichten. In dieser Phase wurde die juristische Beratung für betroffene Genoss:innen eine Hauptaufgabe der Ortsgruppen. Der Rechtsschutz, also die Finanzierung von Anwält:innen, beanspruchte nun einen Großteil der Mittel, wobei die RHD mit der Kostenexplosion überfordert war: Ende 1932 zählte sie 9.000 politische Gefangene mit 30.000 bedürftigen Angehörigen, und über 50.000 Angeklagte benötigten rechtlichen Beistand.
Zudem richtete sich die staatliche Repression auch gegen die Solidaritätsorganisation. Weil die Behörden mithilfe der Notverordnungen Versammlungen untersagten, Spendensammlungen verfolgten und Publikationen verboten, mussten schon 1932 viele Aktivitäten in der Halblegalität stattfinden. Intern wurde über ein mögliches Verbot diskutiert, aber nur vereinzelt trafen die Roten Helfer:innen Vorkehrungen und Sicherheitsmaßnahmen.
Aktive Solidarität im Untergrund
Mit der Machtübergabe an die Nazis am 30. Januar 1933 erreichte die Repression ungekannte Ausmaße und traf auch die RHD mit voller Wucht. Bei den Massenverhaftungen ab Ende Februar wurden viele aktive Mitglieder in die Konzentrationslager verschleppt. Im März 1933 wurde die Rote Hilfe Deutschlands verboten, ihr Vermögen beschlagnahmt und jede Betätigung streng verfolgt. Trotzdem bemühten sich überall Aktivist:innen, zumindest lokal die Familien der Verhafteten zu unterstützen und illegale Strukturen aufzubauen.
Vielerorts spielten die weiblichen Mitglieder dabei eine wichtige Rolle: Die patriarchalen Repressionsbehörden betrachteten Politik als Männersache und hatten die Aktivistinnen oft gar nicht in ihren Listen erfasst. Weil viele Frauen den ersten Repressionswellen entgingen, organisierten sie den Übergang in die Illegalität und nahmen zum Teil leitende Positionen ein.
Während es in manchen Städten nur noch vereinzelte Spendensammlungen gab, gründeten sich in anderen Regionen gut vernetzte Ortsgruppen, die aus mehreren konspirativ tätigen Kleinzellen bestanden. Neben der materiellen Unterstützung leisteten sie auch im Untergrund mit Flugblättern und Zeitungen Öffentlichkeitsarbeit. Für Untergetauchte stellten sie Quartiere zur Verfügung und halfen gefährdeten Antifaschist:innen bei der Flucht über die Grenze. Über klandestine Briefe und heimliche Treffen hielten sie Kontakt mit der RHD-Bezirksleitung und dem Zentralvorstand, die sich nach den ersten Verhaftungen neu gebildet hatten. Kurier:innen übermittelten den Ortsgruppen Informationen, im Ausland gedruckte Druckschriften und finanzielle Zuschüsse, die die internationale Arbeiter:innenbewegung gesammelt hatte.
Weiterhin waren der parteienübergreifende Ansatz und der Gedanke der Einheitsfront von größter Bedeutung, und die Solidaritätsorganisation unterstützte bewusst auch Antifaschist:innen nichtkommunistischer Strömungen. Aktivist:innen verschiedener Parteien und Spektren schlossen sich der illegalen RHD an oder arbeiteten eng mit ihr zusammen.
Vom NS-Terror zerschlagen
Die NS-Behörden gingen mit aller Härte gegen die RHD vor, und selbst einmalige Kleinspenden wurden als »Vorbereitung zum Hochverrat« mit Haftstrafen belegt. Durch Spitzel, Denunziant:innen oder erfolterte Aussagen kam es regelmäßig zu Massenverhaftungen, bei denen Ortsgruppen oder sogar ganze Bezirke zerschlagen wurden. Unzählige Rote Helfer:innen wurden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt und in die Konzentrationslager verschleppt, und viele überlebten die brutalen Verhöre und Haftbedingungen nicht. Im Lauf der Jahre wurde es zunehmend schwierig, nach schweren Repressionsschlägen neue Mitstreiter:innen zu finden und die Strukturen neu aufzubauen.
Ab 1936 waren die Gruppen ausgedünnt und die überregionalen Verbindungen großteils abgerissen, und im September 1938 entschloss sich die Exilleitung der RHD, die Organisation offiziell für aufgelöst zu erklären. An der Basis führten aber viele Aktivist:innen die Tätigkeit in isolierten Kleingruppen fort und standen den von den Nazis Verfolgten zur Seite.
Nach der Befreiung vom Faschismus gründete sich zunächst keine Rote Hilfe, und Solidarität mit Repressionsopfern – beispielsweise nach dem erneuten KPD-Verbot 1956 – wurde auf anderen Wegen organisiert.
Neuentdeckung in den 1970er-Jahren
Als sich Mitte der 1960er-Jahre in der Bundesrepublik neue Protestbewegungen formierten, sahen sie sich mit massiver Repression konfrontiert. Im studentisch geprägten Umfeld bildeten sich Rechtshilfegruppen, die teilweise an die Tradition der RHD anknüpften. Das Sekretariat Rote Hilfe in Westberlin war die erste Initiative, die den Namen wieder aufgriff und sich darum bemühte, unterschiedliche Spektren in der Solidaritätsarbeit zu vereinen.
Daraus ging 1972 die spontaneistisch-undogmatische rote hilfe « hervor, ein loses Netzwerk autonomer Gruppen, die sich der Unterstützung politischer, aber auch sozialer Gefangener widmeten. Ihr enger Kontakt mit den Gefangenen aus der Roten Armee Fraktion (RAF) führte zu massiver staatlicher Repression, und interne Konflikte schwächten die Strukturen zusätzlich, weshalb nach 1975 nur noch zwei Gruppen aktiv waren.
Im Milieu der maoistisch orientierten K-Gruppen entstanden bald zwei weitere Rote Hilfen, die straffer organisiert waren und feste Mitgliedschaften hatten: Die Kommunistische Partei Deutschlands (Aufbauorganisation) hatte seit 1971 das Rote Hilfe Komitee in Westberlin unterhalten, doch als die Repression gegen die Partei zunahm, wurde diese Gruppe in den bundesweit tätigen Verein Rote Hilfe e. V. umgewandelt. Die Organisation protestierte gegen tödliche Polizeigewalt, Berufsverbote und politisch motivierte Entlassungen sowie gegen Grundrechtseinschränkungen. Zudem solidarisierte sich mit den politischen Gefangenen und begleitete – trotz grundlegender Kritik an der Stadtguerilla – die Hungerstreiks der Gefangenen aus der RAF. Vor allem für Verfolgte aus den eigenen Zusammenhängen leistete sie nicht nur politische, sondern auch praktische und materielle Unterstützung. Als die Bewegung der K-Gruppen Ende der 1970er-Jahre abflaute, schrumpfte auch die Rote Hilfe e. V. rapide und beschloss im Februar 1979 ihre Selbstauflösung.
Schließlich gründete die Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten (KPD/ML) Anfang 1975 die Rote Hilfe Deutschlands (RHD), die ebenfalls klare Organisationsstrukturen und feste Mitgliedschaften hatte. Im Mittelpunkt stand auch hier die Öffentlichkeitsarbeit gegen staatliche Repression, gegen Berufsverbote und Grundrechteabbau sowie gegen die mörderischen Polizeieinsätze. Trotz vehementer Kritik an der Politik der RAF setzte sich die RHD gegen die menschenverachtende Isolationshaft ein. Zudem bemühte sich die Solidaritätsorganisation, Angeklagte und politische Gefangene auch nicht nur politisch, sondern auch finanziell zu unterstützen und brachte enorme Summen für Prozesskosten auf. Zwar konzentrierten sich die Zahlungen zunächst auf das eigene Umfeld, aber parallel suchte sie den Kontakt mit den neuen sozialen Bewegungen: Bei den Protesten gegen Atomkraft oder bei antifaschistischen Demonstrationen stand sie den Aktivist:innen mit Rechtshilfe und Demosanitäter:innen zur Seite und initiierte Spendensammlungen nach Repressionsschlägen.
Politische Öffnung und Entstehung der heutigen Roten Hilfe e. V.
Ende der 1970er-Jahre hatte auch die RHD mit extremem Mitgliederschwund und schnell sinkenden Einnahmen zu kämpfen, führte aber die Arbeit auf kleiner Flamme fort. Viele Ortsgruppen stellten die aktive Tätigkeit ein, und es wurde immer schwieriger, finanzielle Hilfe bei Prozessen zu leisten.
Schon 1978 hatte die Delegiertenkonferenz eine inhaltliche Neuausrichtung beschlossen und erstmals die Satzung geändert, und in den Folgejahren löste sich die RHD immer weiter von der KPD/ML und öffnete sich für breitere Spektren. Während die am Parteiprogramm angelehnten allgemeinpolitischen Punkte aus dem Selbstverständnis verschwanden, trat das Prinzip der strömungsübergreifenden Solidaritätsarbeit in den Mittelpunkt. Die Organisation bemühte sich, mit anderen Antirepressionsgruppen und verschiedenen linken Bewegungen in engeren Austausch zu kommen, doch zunächst sanken die Mitgliedszahlen weiter.
1985 war ein Tiefpunkt erreicht, doch zugleich glückte der Durchbruch, als die Roten Helfer:innen in Kiel dauerhaft mit Aktivist:innen autonomer, antimilitaristischer und antiimperialistischer Gruppen zusammenarbeiteten, was zu ersten Beitritte führte. Bei der Bundesdelegiertenkonferenz 1986 wurde die Satzung noch einmal umfassend überarbeitet und die RHD in Rote Hilfe e. V. umbenannt – die heutige Organisation war entstanden.
Mehrere hundert Neumitglieder stärkten die Strukturen, und nach und nach gründeten sich neue Ortsgruppen. Zentrale Themen dieser Zeit waren die zahlreichen Verfahren nach den Paragrafen 129/129a, die linke Strukturen als »kriminelle« oder »terroristische Vereinigungen« verfolgten. Daneben protestierte die Rote Hilfe e. V. gegen Grundrechtseingriffe wie die Volkszählung, Gesetzesverschärfungen etwa im Bereich des Versammlungsrechts sowie die zerstörerischen Isolationshaftbedingungen, denen die Gefangenen aus der Stadtguerilla noch immer unterworfen waren.
In den 1990er-Jahren wuchs die Solidaritätsorganisation weiter und entfaltete bundesweit vielfältige Aktivitäten. Auf Anregung von Libertad! wurde 1996 der Tag der politischen Gefangenen am 18. März wiederbelebt und wird seither jedes Jahr mit Kundgebungen, Veranstaltungen und der bis heute erscheinenden Massenzeitung begangen.
Als die Repression gegen die kurdische Bewegung zunahm, suchte die Rote Hilfe e. V. den Kontakt mit den betroffenen Zusammenhängen. Ab 1989 beteiligte sie sich an den breiten Bündnisprotesten gegen den Düsseldorfer Mammutprozess und stand auch bei späteren Repressionswellen den verfolgten Kurd:innen politisch, juristisch und finanziell zur Seite: 1995 machten Fälle mit Kurdistan-Bezug zusammen mit denen aus der antifaschistischen Bewegung mehr als die Hälfte der Anträge auf Unterstützung aus. Als im Frühjahr 1996 der Rechtshilfefonds Azadî e. V. als eigenständige Antirepressionsstruktur für verfolgte kurdische Aktivist:innen entstand, begrüßte die Rote Hilfe e. V. die Neugründung und arbeitet bis heute eng mit dem Verein zusammen.
Starke Solidaritätsorganisation der Gegenwart
Im neuen Jahrtausend wuchs die Rote Hilfe e. V. ständig an. Breite Kampagnen, beispielsweise zu den Gipfelprotesten und anderen mit massiver Repression verbundenen Großereignissen, und intensive Öffentlichkeitsarbeit verschafften der Solidaritätsorganisation Wahrnehmung auch über die linke Szene hinaus. Parallel nahmen auch die Anträge auf finanzielle Unterstützung zu, die aber durch die steigenden Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden getragen werden können.
Die Hauptarbeit wird in den inzwischen über 50 Ortsgruppen geleistet, die von Repression betroffenen linken Aktivist:innen aller Spektren zur Seite stehen. Bei Sprechstunden geben die Roten Helfer:innen Empfehlungen zum Umgang mit den staatlichen Maßnahmen, vermitteln bei Bedarf solidarische Anwält:innen und bereiten Anträge auf finanzielle Unterstützung vor. Gemeinsam mit den Angeklagten bereiten sie Prozesse vor und planen begleitende Solidaritätsaktionen, wobei die Rote Hilfe e. V. die enge Zusammenarbeit mit dem politischen Umfeld der Betroffenen und mit anderen Antirepressionsgruppen anstrebt. In Vorträgen vermitteln die Ortsgruppen Rechtshilfetipps oder informieren über unterschiedliche Repressionsthemen.
Bei der alle zwei Jahre stattfindenden Bundesdelegiertenkonferenz, dem höchsten Entscheidungsgremium, werden Anträge zur künftigen Arbeit diskutiert und der Bundesvorstand für die nächsten zwei Jahre gewählt. Letzterer verwaltet die Bundesfinanzen, entscheidet über Anträge auf finanzielle Unterstützung, leistet Öffentlichkeitsarbeit und regt Kampagnen an.
Zu den breit gefächerten Themen, zu denen sich die Rote Hilfe e. V. aktuell engagiert, zählen Großverfahren wie der Rondenbarg-Prozess, bei dem im Nachgang der G20-Proteste 2017 weit über 80 Demonstrant:innen angeklagt wurden, oder die Antifa-Ost-Verfahren. Mit dem Budapest-Komplex läuft zudem eine massive internationale Repressionswelle gegen die antifaschistische Bewegung, und mehrere Aktivist:innen sind von Auslieferung nach Ungarn bedroht oder sitzen bereits in Budapest in Haft. Seit die Klimagerechtigkeitsbewegung zunehmender Kriminalisierung ausgesetzt ist, kommen auch aus diesem Kontext viele Anfragen.
Die Solidarität mit der verfolgten migrantischen Linken bleibt eine dauerhafte Aufgabe: Die Rote Hilfe e. V. protestiert gegen die immer neuen Verfahren, Schikanen und Verbote sowie die vielen Prozesse nach Paragraf 129b, mit denen die Behörden gegen die kurdische Bewegung vorgehen. Nicht nur zum Tag der politischen Gefangenen fordert sie die Freilassung der inhaftierten kurdischen Aktivist:innen. Ebenso engagiert sie sich gegen die Kriminalisierung linker türkischer Organisationen.
Der Kampf für den Erhalt elementarer demokratischer Rechte ist ein weiterer Schwerpunkt. Seien es verschärfte Versammlungsgesetze oder Angriffe auf die Pressefreiheit, seien es die vielfältigen Verbote und anderen einschneidenden Maßnahmen, die derzeit die palästinasolidarischen Proteste treffen – die Rote Hilfe e. V setzt sich gegen den Grundrechteabbau ein.
Ein Grund zu jubeln: Jubiläumsjahr 2024
Die inzwischen weit über 15.000 Mitglieder kommen aus wohl allen linken Bewegungen und politischen Strömungen, aber über die vielen Unterschiede hinweg vereint sie der Gedanke der organisierten strömungsübergreifenden Solidarität gegen staatliche Repression. Dass dieses Prinzip 2024 – 100 Jahre nach der Gründung der RHD am 1. Oktober 1924 – Jubiläum hat, nimmt die Rote Hilfe e. V. zum Anlass für eine große Kampagne. Seit im Februar bei der 100-Jahre-Gala in Hamburg hunderte Mitglieder und Aktivist:innen befreundeter Gruppierungen den feierlichen Auftakt setzten, organisieren die Ortsgruppen lokale Veranstaltungen und Projekte. Unterstützt werden sie dabei von der 100-Jahre-AG, die eine Ausstellung samt Begleitkatalog zur Geschichte der Rote-Hilfe-Organisationen erstellt und den Dokumentarfilm »Solidarität verbindet – 100 Jahre Rote Hilfe« produziert hat. Im August erschien eine Massenzeitung, die verschiedenen linken Tages- und Monatszeitungen beilag und von den Ortsgruppen verteilt wird, und auch eine Ausgabe der Rote Hilfe Zeitung widmet sich diesem Schwerpunkt.
Die 100-Jahre-Sonderhomepage gibt einen Einblick in die Fülle von kreativen Projekten und Veranstaltungen, die in den verschiedenen Ortsgruppen umgesetzt werden. Ein besonderer Höhepunkt war das Rote-Hilfe-Festival vom 23. bis 25. August in Berlin, bei dem mehrere Konzerte, ein Straßenfest, eine Podiumsdiskussion, die Ausstellung und eine Filmvorführung auf dem Programm standen.
Selbstverständlich kommt neben all den Jubiläumsaktivitäten die Solidaritätsarbeit nicht zu kurz. Um aber Kraft zu tanken für die kommenden Herausforderungen, mit denen wir in Zeiten wachsender Repression konfrontiert sind, ist es wichtig, gemeinsam mit allen befreundeten Bewegungen den Gedanken der strömungsübergreifenden Solidarität zu feiern.
Weitere Informationen unter
https://rote-hilfe.de/100-jahre-rote-hilfe
1 Verein zur Errichtung und Förderung eines Archivs der Solidarorganisationen der Arbeiter:innenbewegung und der sozialen Bewegungen. https://hans-litten-archiv.de
Kurdistan Report 235 | Oktober-Dezember 2024
Die Situation der Frauen in Südkurdistan
Besatzung – vor allem eine Frage der Mentalität
Necibe Qeredaxî, Jineojî Europa Komitee
Wie alle Völker der Welt, ist sich das kurdische Volk der Bedeutung seines Landes und der Wurzeln seiner kulturellen Werte bewusst. Dieses Bewusstsein basiert auf einem historischen und sozialen Bewusstsein. Das kurdische Volk hat einen Widerstandsgeist entwickelt und sich gegen jede Art von Besatzung gewehrt. Um jedoch die heutige Realität in Südkurdistan zu verstehen, müssen die Auswirkungen der Besatzung auf Başûrê-Kurdistan1, insbesondere auf die Frauen, umfassend diskutiert werden. Darüber hinaus betrifft das Problem der Besatzung nicht nur die Menschen, sondern auch den Lebensraum, die Tiere und die gesamte Natur. Trotz vieler Leiden und Verluste wurde ein großer Kampf gegen die Besatzer und für die Vorreiterrolle der kurdischen Frau geführt. In diesem Zusammenhang muss jedoch die Frage gestellt werden, welches Ziel verfolgt wurde und inwieweit sich die entsprechende Praxis auf die Situation der Gesellschaft ausgewirkt hat. Denn der Verlauf der Ereignisse im letzten Jahrhundert, insbesondere in den letzten Jahrzehnten, ist anders als in anderen Teilen Kurdistans. Es ist unerlässlich, sowohl die Besatzung als auch die Methoden der Besatzer zu diskutieren und vor allem deren Auswirkungen auf die Frauen näher zu beleuchten. Ebenso müssen die theoretischen und praktischen Aktionen der Bewegungen und Gruppen gegen die Besatzung dargestellt werden. Die Kritik an diesen Bewegungen, vor allem an der PDK und die Überwindung ihrer Handlungs- und Denkweisen, ist eine unabdingbare Notwendigkeit für das Zusammenleben der Völker und der Gesellschaft in Başûrê-Kurdistan, insbesondere aber für die Frauen.
Besatzung ist ein Phänomen des Patriarchats
Aus diesem Grund hat die Beteiligung der Frauen am Freiheitskampf und an der Entwicklung des demokratischen, ökologischen und freiheitlichen Denkens sowie seines Ausdrucks und seiner Umsetzung in die Praxis auch in Südkurdistan eine große Bedetung für den Prozess der Befreiung von der Besatzung. Aber wenn wir die jetzige Situation in Başûr betrachten, sehen wir, dass die Frauen in allen Lebensbereichen unter dem Einfluss der Besatzung und der patriarchalen Mentalität stehen. Frauen nehmen nicht organisiert an der Politik teil und können daher keine radikalen Veränderungen herbeiführen. Die bruchstückhafte Beteiligung von Frauen in Organisationen basiert nicht auf dem Kampf um Freiheit, sondern auf Forderungen an das System und Dankbarkeit ihm gegenüber. Frauen sind keine Entscheidungsträgerinnen in der Politik – weder in den Parteien noch in der Verwaltung. Die Frauenquote in Regierungsinstitutionen ebnet den Weg für die Beteiligung von Frauen aus der gesellschaftlichen Elite, die der patriarchalen Herrschafts- und Machtmentalität nahestehen, individualisiert und von der Gesellschaft entfremdet sind. Frauen, die unter dem Einfluss der Regierungsparteien stehen, sprechen nicht von einem demokratischen und nationalen Standpunkt aus, sondern aus der Perspektive der Besatzer. Die Zersplitterung und Desorganisation der Frauen fördert die patriarchale Mentalität, alle Lebensbereiche zu kontrollieren. Ein solcher Bereich ist das Parlament. Die Frauenquote im Parlament war kein von den Parteien gewollter oder geplanter Schritt, sondern wurde nach jahrelangen Diskussionen unter dem Druck einiger Frauenorganisationen und dem Einfluss der kurdischen Freiheitsbewegung (zu der die PKK gehört) beschlossen.
Frauen im nationalen Befreiungskampf
Die Teilnahme der Frauen am Widerstand in den Bergen Südkurdistans, d.h. als Pêşmerga, basierte früher in erster Linie auf der Kontinuität des Familienlebens und weniger auf einem ausgeprägten Bewusstsein für die politischen Realitäten. Männer, die Pêşmerga wurden, nahmen häufig ihre Frauen oder Töchter, Schwestern und Mütter mit, wodurch die familiären Beziehungen aufrechterhalten wurden. Obgleich der Wunsch, sich der nationalen Sache anzuschließen, vorhanden war, kam es in der Regel nicht zum Geschlechterkampf. Auch wenn Frauen den Wunsch hatten, sich am Kampf zu beteiligen, taten sie dies nicht für die Anerkennung ihrer Existenz oder um sich von der Identifikation der Rolle als Schwester, Mutter oder Ehefrau zu befreien. Ebenso wenig ging es darum, sich von der Einflussnahme feudaler und familiärer Normen zu emanzipieren. Der Mann hatte den Status eines Stammesführers, Scheichs oder Imams inne. Die Unterdrückung des kurdischen Mannes durch die herrschenden Kräfte manifestierte sich auch in der Schattenidentität der Frau gegenüber dem Mann. Die Frau befand sich in einem Zustand mehrdimensionaler Gefangenschaft, wodurch sie nicht in der Lage war, die Familie, den Clan, die Verwandtschaft sowie den Status der Frau als Eigentum zu verändern. Diese Situation lässt sich nicht allein mit der Schwäche der Frauen erklären. Im feudal geprägten nationalen Kampf gab es keine Struktur, keine Grundlage, die einen gleichzeitig Geschlechterkampf ermöglicht hätten. Weder der Hintergrund der Gründung und des Handelns noch die ideologischen und methodischen Prinzipien dieser Bewegung basierten auf dem Prinzip der Frauenbefreiung. Die kurdische Bevölkerung wurde wiederholt dazu aufgerufen, sich gegen einen äußeren Feind zu vereinen. Dies geschah jedoch auf der Basis der Unterwerfung der Frauen.
In den 70er Jahren sahen wir an den Wänden kurdischer und einiger assyrischer Familien neben dem Bild von Şahmaran2 auch Bilder von Margret George und Leyla Qasim3. Auf diesen Bildern sahen wir ihre mutige, würdevolle und selbstbewusste Haltung. Viele Frauen wollten wie sie sein. Margret (1942-1969) war Assyrerin. Sie war die erste Frau, die 1960 in die Reihen der Pêşmerga der PDK aufgenommen wurde.
Doch weder Margrets achtjähriger Kampf in den Reihen der Pêşmerga, noch Leyla Qasims Botschaft auf der Richtbank wurden zu einem Manifest für die Lösung des Problems der Freiheit in politischen Parteien und Bewegungen, sondern zu einem bloßen Propagandaversprechen. Die Geschichten von Hunderten von Frauen in den Gefängnissen, von Frauen, die für die Pêşmerga logistische und Kurierarbeit leisteten, von Aktivistinnen, die in der Stadt im Untergrund arbeiteten, wurden ignoriert, als seien sie nichts.
Die Familie als älteste ideologische Institution
Um die Situation der Besatzung in Başûrê-Kurdistan adäquat zu erfassen, ist eine Betrachtung der Familie sowie aller Faktoren, welche die Familie zum Reproduktionsort der Besatzung in den Körpern, Gefühlen und Gedanken der Frauen werden lassen, erforderlich. Denn sowohl die Besatzung als auch die männliche Herrschaft manifestieren sich in dieser Region und reproduzieren sich dort fortwährend. Diese Erkenntnis ist freilich nicht neu. Die Familie als älteste ideologische Institution der Geschichte hat mit ihrer Ideologie der Dynastie und der Familie weite Möglichkeiten für interne und externe Besetzung eröffnet. In Başûrê-Kurdistan manifestiert sich die Familie als zentrale Institution in einer Weise, die durch eine Allianz von Sexismus, Besatzung und Religion geprägt ist. Die Zerstörung der Familie und ihre Transformation in einen Ort sorglosen, egoistischen und materialistischen Verhaltens, das von der Befriedigung sexueller Wünsche geprägt ist, ist allerdings ein global bestehendes Problem.
Einerseits bindet die Familie unter diesem Einfluss die Mädchen und Jungen mit Sätzen wie »Ich werde dir den Kopf binden«4 oder »Ich werde dich fesseln« tatsächlich an die Familienstruktur und hält sie vom Kampf um Freiheit und Selbsterkenntnis fern. Dieser Prozess wird durch religiöse Institutionen und religiöse Bewegungen gefördert. Der Einfluss des Salafismus auf die Gesellschaft erfolgt durch Phänomene, die der gesellschaftlichen Kultur völlig fremd sind und Beispiele einer kulturellen Invasion darstellen, wie z.B. die massenhaften Zeremonien des Kopftuch- bzw. Hijabtragens, die sowohl vom radikalen als auch vom liberalen politischen Islam zu einem Spektakel gemacht wurden. Die gleichzeitige Entwicklung dieser Welle in allen Teilen Kurdistans ist kein spontanes Phänomen; sie entwickelt sich als Gegenrevolution gegen die Frauenrevolution. Sie ist ein geplanter Versuch, das Bild des unterworfenen, abhängigen Individuums und der klassischen Familie zu reproduzieren und in einen Kontext zu stellen, der dem Status der Besatzung nicht widerspricht.
Diese Situation manifestiert sich auch auf politischer Ebene. Es ist kein zufälliger sprachlicher Fehler, wenn der Führer der Ikhwani Sunni (Sunnitische Bruderschaft), einer islamischen politischen Partei in Başûrê-Kurdistan, sagt: »Wir benutzen das Wort Besatzer nicht, und wir sehen keinen Staat als Besatzer an«. Diese Äußerung soll zeigen, dass die kurdische Frage keine politische, nationale Frage sei, keine Frage des Geschlechts und der Klasse, d.h. keine Frage der Freiheit.
Im Rahmen des Antibesatzungsdiskurses ist die Haltung Öcalans bei einem Besuch in einem Dorf in Kurdistan in den 1970er Jahren von bedeutendem Wert. Dort sah er einen alten Mann und eine junge Frau in einem Haus, wobei er die junge Frau irrtümlich für die Enkelin des alten Mannes hielt. Später stellte er jedoch fest, dass sie mit dem Mann verheiratet war. Diese Erfahrung, die die Realität Kurdistans und der Kurd:innen offenbart, bildet die Grundlage für seine Beharrlichkeit und Entschlossenheit, die Befreiung Kurdistans mit der Befreiung der Frauen zu verbinden. Die Verknüpfung der Befreiung des Landes mit der Befreiung der Frauen ist die Voraussetzung für die Freiheit in der Welt. Im Lauf des vergangenen Jahrhunderts ist es den nationalen Befreiungsbewegungen nicht gelungen, die Revolution in der Revolution zu verwirklichen. Diesbezüglich sei darauf verwiesen, dass die Frage der Befreiung der Frauen von der Besatzung von den jeweiligen Bewegungen auf die Zeit nach der Revolution (bzw. nach der Machtübernahme) verschoben wurde. Dies führte nicht zur Emanzipation der Frauen und der Gesellschaft, sondern zur Reproduktion der Besatzung durch die Frauen in der Familie und in allen anderen herrschenden Institutionen. Im Gegensatz zu den Pêşmerga hat die kurdische Freiheitsbewegung den Frauen in der Guerilla eine zentrale Rolle eingeräumt, weshalb die Beteiligung der Frauen an der Befreiungsbewegung in Başûrê-Kurdistan seit den 1990er Jahren von den Prinzipien geprägt war, die sich in den Sätzen »Kurdistan ist eine Kolonie« und »Die Gesellschaft kann nicht frei sein, wenn die Frauen nicht frei sind« widerspiegeln. Darüber hinaus war ihre erste Begegnung mit Begriffen wie »Patriotismus« ein wichtiger Ausgangspunkt für den Kampf gegen die Besatzung.
Das größte Problem und ein wesentliches Hindernis für die Entwicklung alternativer Perspektiven in Başûrê-Kurdistan ist die mangelnde Bereitschaft, bestehende Denkweisen, feudale und patriarchale Mentalitäten in Frage zu stellen und sich von den Zwängen des Systems zu lösen. Die bewusste Betonung von Religion und Tradition durch die Besatzungsmacht erschwert die Situation zusätzlich und führt dazu, dass die Grenzen zwischen Recht und Unrecht nicht erkannt werden.
Eine weitere von den Besatzern seit jeher in der kurdischen Persönlichkeit kultivierte Krankheit ist der Selbsthass und fehlendes Selbstbewusstsein. Dies manifestiert sich in dem Ausspruch: »Die Kurden lieben sich nicht, sie können sich nicht vereinigen, sie können nicht zusammenarbeiten«. Seit fünfzig Jahren hat die Freiheitsbewegung dieses Verständnis durch ihre gemeinsame Arbeit und ihre Ideen innerhalb der kurdischen Gesellschaft widerlegt.
Das Beispiel Başûrê-Kurdistan zeigt, dass die Besatzung vor allem eine Frage der Mentalität ist. Deshalb ist es wichtig, dass alle Menschen, Parteien und Medienorganisationen die Besatzung weiterhin mit dem notwendigen Gewicht thematisieren und in die gesellschaftliche Diskussion einbringen. Anfang 2016 hatten wir die Gelegenheit, an einer wichtigen Konferenz in Silêmanî (Sulaymaniyah) zu diesem Thema teilzunehmen. Die Konferenz hat eine Reihe wertvoller Dokumente hervorgebracht. Darin werden die wirtschaftlichen, politischen und bildungspolitischen Aspekte der Besatzung diskutiert und Vorschläge für den Kampf gegen die Besatzung in Başûrê-Kurdistan gemacht.
In Anbetracht des aktuellen Besatzungszustandes lässt sich die These aufstellen, dass die einfachste Form des Freiheitskampfes und die Freiheitsdefinition Öcalans – »Freiheit ist die Kraft der Gesellschaft, sich selbst zu erschaffen« – auch für Başûrê-Kurdistan Gültigkeit besitzt. Eine falsche Definition von Freiheit führt demnach zum Zerfall der Gesellschaft. Der Konflikt zwischen der Imitation westlicher Kultur, die durch zivilgesellschaftliche Institutionen, Theater, Film, Musik und Medien geprägt ist, und einer dogmatischen traditionellen Kultur, die die Gesellschaft in einem geistigen, moralischen und ideologischen Vakuumdschihadistischem, salafistischem Islam und Tradition zurücklässt, betrifft insbesondere Frauen, die in diesem Konflikt aufgerieben werden.
Daher ist es die grundlegendste Aufgabe der Revolution, eine Kultur der Hoffnung und des Widerstandes anstelle der von der nationalistischen, klassischen Linken und dem politischen sunnitischen Islam geschaffenen Kultur der Kapitulation und der Flucht vor der Verantwortung zu schaffen, und eine Kultur der Einheit und des Kollektivismus anstelle des vom Neoliberalismus geschaffenen Individualismus und Regionalismus zu etablieren. Nach vierunddreißig Jahren Erfahrung, in denen Macht und Besatzungsmentalität untrennbar miteinander verbunden waren, ist diese Aufgabe nicht nur historisch, sondern auch moralisch von Bedeutung und bedarf einer gewissenhaften Praxis. Die Schreie der Frauen, die sich selbst verbrannten, die Aufrufe der Lehrer:innen zu Boykott und Demonstrationen, der Kinder, der Bäuer:innen und der ehemaligen Pêşmerga, der Ruf aller angesichts dieser nicht mehr tolerierten Situation ist der Ruf nach Revolution.
1 Südkurdistan, auf Kurdisch Başûrê Kurdistanê oder kurz Başûr
3 Leyla Qasim war eine Vorkämpferin für die Rechte der Kurd:innen und wurde 1974 wegen ihres politischen Engagements durch das Baath-Regime hingerichtet.
4 Der Satz hat zweierlei Bedeutung: 1) »Ich werde dir den Schleier / das Kopftuch anlegen« oder 2) die Ankündigung, jemanden zu verloben bzw. zu verheiraten.
Kurdistan Report 235 | Oktober-Dezember 2024
Hintergründe und Auswirkungen einer geplanten Wirtschaftsroute
Das Iraq Development Road Project
Emily Korczak, freie Journalistin
Die Regierungen der Türkei und des Iraks haben dieses Jahr Planung und Bau einer neuen Handelsroute in Süd-Nord-Richtung quer durch den Irak bekannt gegeben. Der Artikel beleuchtet die Interessen der jeweiligen Regierungen und die absehbaren enormen Auswirkungen, die der Bau der Iraq Development Road haben wird und zum Teil auch schon hat.
Am 22. April 2024 landet die Maschine des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf dem internationalen Flughafen in Bagdad. Es ist das erste Mal seit 13 Jahren, dass das türkische Staatsoberhaupt zu Gesprächen in die irakische Hauptstadt reist. Am Ende der Gespräche sind zahlreiche neue Abkommen unterzeichnet. Es scheint, als habe eine neue Ära der Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten begonnen. Im Mittelpunkt der Verhandlungen stehen Fragen der Sicherheit, Wasser- und Landwirtschaft, Energie und – möglicherweise der wichtigste Punkt in den Gesprächen zwischen Erdoğan und seinem irakischen Amtskollegen Mohammed Shia’ al-Sudani – das Iraq Development Road Project, eine neue Handelsroute, die zur Stabilisation und zu Wohlstand nicht nur für den Irak, sondern für die ganze Region führen soll.
Seitdem es Handels- und Energierouten gibt, waren sie auch Mittel der geopolitischen Einflussnahme. Es liegt also nahe, dass das als »neue Seidenstraße« angepriesene Projekt, hauptsächlich vom türkischen Präsidenten Erdoğan initiiert, nicht nur der besseren Anbindung und Eröffnung der Strecke zwischen dem Fernen Osten und Europa dient, sondern darüber hinaus auch den geostrategischen Zielen der beteiligten Akteure dienen soll.
Besonders für die Türkei, die seit Jahren ihren Einfluss auf den Irak ausweitet und unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung immer weiter auf irakisches Staatsgebiet vordringt, scheint die Iraq Development Road (IDR) ein Mittel zu sein, um die eigene regionale Macht weiter auszubauen und den seit Jahrzehnten andauernden Krieg gegen kurdische Gebiete auf eine neue Ebene zu heben.
Schienen- und Straßennetze quer durch den Irak
Neben der Türkei und dem Irak haben die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar ihre Beteiligung an der Iraq Development Road, auch als Dry Canal bezeichnet, bekanntgegeben. Das 17 Milliarden Dollar Projekt umfasst die Errichtung eines Hafens im Süden des Landes sowie den Ausbau von Schienen- und Straßennetzen im Umfang von etwa 1200 km.
Der Al-Faw Grand Port, erstmals 2010 angekündigt als »wirtschaftliche Brücke, die den Irak mit der Welt verbindet«, soll einer der größten Häfen der Welt und der größte des Nahen Ostens werden. Von dort aus sollen die Ladungen umgeladen und mittels Eisenbahn weiter in Richtung Europa transportiert werden. Die geplante doppelte Eisenbahnlinie soll sowohl Personen- als auch Güterzüge führen, die Geschwindigkeiten von bis zu 300 km/h erreichen – das 6-fache von der Geschwindigkeit, mit der Züge im Irak bislang verkehren.
Die Strecke, die einmal quer durch den Irak führen und anschließend die türkische Grenze passieren soll, wird als direkteste und damit schnellste Verbindung des Persischen Golfes mit den europäischen Staaten angesehen. Der Irak wäre damit ein zentraler Knotenpunkt, welcher den Handel zwischen Asien und Europa erleichtert und dabei Ost und West miteinander verbindet. Zusätzlich zu den Eisenbahnschienen umfasst der geplante Transportkorridor den Ausbau einer 1190 km langen Straße für Lastkraftwagen sowie, jenseits der türkischen Grenze, die Anbindung an das türkische Eisenbahn- und Autobahnnetz.
Die Güterzüge sollen bis zum Jahr 2050 eine Transportkapazität von bis zu 40 Millionen Tonnen Fracht erreichen. Doch die Planungen gehen über ein reines Gütertransportnetz hinaus. Die »Entwicklungsstraße« verspricht Fortschritt und Modernisierung in allen Bereichen. Als Projekt, das den Irak mit den internationalen Märkten verbinden und die wirtschaftliche Isolation, unter der das Land seit Jahrzehnten leidet, überwinden wird, werde die geplante Infrastruktur nicht nur den Handel erleichtern, sondern auch Millionen von Arbeitsplätzen schaffen und die Lebensqualität der Bürger:innen des Iraks erheblich verbessern, so die Erklärung des irakischen Transportministeriums.
Im Mai dieses Jahres wurden als Parallelprojekte entlang der Transportstraßen Öl- und Gaspipelines sowie Stromleitungen und Trassen für Glasfaserkabel diskutiert.
Entlang der Strecke, die von Basra im Süden des Iraks über Bagdad und anschließend über Mûsil (Mosul) und Kerkûk im Norden des Iraks zur türkischen Grenze und von dort aus weiter Richtung Europa führen soll, sieht das Projekt außerdem den Bau von bis zu 15 neuen Bahnhöfen vor. Der geplante Hochgeschwindigkeitszug soll nach der Inbetriebnahme 13,8 Millionen Passagiere pro Jahr befördern, welche sich entlang der Strecke an den geplanten Hotels, Einkaufszentren und Touristenattraktionen erfreuen können.
Die Erwartungen an die Iraq Development Road als »wirtschaftliche Lebensader«, die den Irak zu einem wichtigen Handels- und Logistikzentrum zwischen Asien und Europa machen soll, sind sehr hoch.
Trotz seines Reichtums an Bodenschätzen zählt der Irak zu einem der am höchsten verschuldeten Länder der Welt. Sein nur knapp 58 km schmaler Zugang zum Wasser schränkt die Fähigkeit des Iraks, sein wichtigstes Exportgut – das Öl – effizient und sicher auf den Weltmarkt zu bringen, extrem ein und macht ihn abhängig von den Häfen und Pipelines anderer Länder. Diese Abhängigkeit soll mit dem Bau des Al-Faw Grand Port überwunden werden. Neben einer besseren Anbindung sollen durch den Hafen bis zu 150.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. In Anbetracht der im Irak weit verbreiteten Korruption, die solche Projekte in der Vergangenheit immer wieder behindert hat, stellt sich allerdings die Frage, ob die angekündigten Arbeitsplätze tatsächlich der lokalen Bevölkerung zugutekommen würden.
Motive der irakischen Regierung
Die politische und wirtschaftliche Situation im Irak, geprägt von einer geringen Anbindung an die Weltwirtschaft, einer hohen Arbeitslosigkeit, weit verbreiteter Korruption und den sich zuspitzenden ökologischen Herausforderungen, bedeutet für das Land eine Instabilität, die es wiederum anfällig macht für die Einflussnahme anderer Länder und Akteure. Hinzu kommen die angespannte Sicherheitslage und die zahlreichen Konflikte, die verschiedenste Akteure auf irakischem Staatsgebiet austragen.
Zu diesen Akteuren zählt neben dem mächtigen Nachbarn Iran insbesondere die Türkei, welche seit Jahrzehnten ihren militärischen und wirtschaftlichen Einfluss auf das Land ausweitet, sei es mit Wasserprojekten wie dem Bau von Staudämmen, mit Infrastrukturprojekten oder mit militärischen Operationen.
In dem Iraq Development Road Project sieht der Irak eine Chance, die eigene geopolitische Position zu verbessern und eine Grundlage für Verhandlungen vor allem mit der Türkei zu schaffen.
Dass die Türkei in diesen Verhandlungen, in denen es von Seiten des Iraks wohl primär um den Zugang zu Wasser aus den von der Türkei kontrollierten Flüssen Euphrat und Tigris geht, am längeren Hebel sitzt, ist ihr durchaus bewusst. Und so sieht sie in der intensivierten Beziehung zu Bagdad im Kontext der IDR vor allem eine Gelegenheit, ihre eigenen Ziele zu verwirklichen.
Geopolitik aus türkischer Perspektive
Als Land zwischen zwei Kontinenten war es immer Ziel der Türkei, die wirtschaftliche Brücke zu schlagen zwischen den Ländern Europas und des Nahen Ostens, und damit Knotenpunkt zu sein für den Handel zwischen Ost und West. Durch ihre geografische Lage und Gegebenheiten hat die Türkei Zugang zu und Kontrolle über Schlüsselregionen und bedeutende Ressourcen. Dazu zählen insbesondere die Meerengen der Dardanellen und des Bosporus, welche den einzigen Zugang des Schwarzen Meeres zur offenen See darstellen.
Die Bedeutung des Schwarzen Meeres, welches den Mittelmeerraum mit dem europäischen und asiatischen Binnenland verbindet, ist insbesondere im Kontext des Russland-Ukraine-Krieges erneut deutlich geworden. Mit dem Krieg in der Ukraine und den damit verbundenen Sanktionen gehen für Russland Schwierigkeiten einher, seine Exporte über das Schwarze Meer im gleichen Umfang fortzusetzen wie zuvor.
Für die Türkei ergibt sich hier eine Möglichkeit, diese Lücke zu füllen, und ihre Position als zentraler Handels- und Logistikdrehpunkt zu stärken. Ohne die Türkei werde es keinen internationalen Handelskorridor geben – darauf hat der türkische Präsident in den letzten Monaten immer wieder hingewiesen.
Die Ankündigung des Iraq Development Road Project kann als Antwort verstanden werden auf diejenigen Projekte, die versuchen, die Türkei in ihrer Route zu umgehen. Zu nennen ist hier insbesondere der India-Middle East-Europe Economic Corridor (IMEEC, deutsch: Wirtschaftskorridor Indien-Nahost-Europa, auch IMEC abgekürzt), der im September 2023 als neue Handelsroute zwischen Indien, dem Mittleren Osten und Europa angekündigt wurde. Diese Route umgeht die Türkei vollständig und führt stattdessen über die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Saudi-Arabien, Jordanien und Israel als Länder des Nahen und Mittleren Ostens. Das Interesse der Initiatoren der Route daran, die Türkei zu umgehen, liegt vor allem begründet in der Unsicherheit, die eine türkische Beteiligung für die anderen Länder darstellt. Das Verhalten der Türkei, die selbst NATO-Mitglied ist, war in der Vergangenheit vor allen Dingen von einer anti-westlichen Haltung bestimmt. Diese macht sie für den Westen zu einem unberechenbaren Partner, welcher statt im Interesse des NATO-Bündnisses zu handeln, viel eher die eigene Position als Hebel nutzt, um nationale Interessen durchzusetzen und regional sowie international Macht auszubauen. Aus diesem Grund hat die Türkei als einziger NATO-Staat keine Sanktionen gegen Russland verhängt und sich stattdessen als Vermittler präsentiert.
Die Türkei ist außerdem derjenige Staat des NATO-Bündnisses, der sich am längsten gegen den Beitritt Schwedens und Finnlands gewehrt hat. Ein Beitritt war letztlich erst nach Erfüllung der Forderungen der Türkei, wie der verstärkten gemeinsamen »Terrorbekämpfung«, konkret der Einstufung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als Terrororganisation, möglich, was für die Türkei in ihrem Krieg gegen die kurdische Organisation ein wichtiges Zugeständnis war.
So wie die Iraq Development Road als Antwort der Türkei auf den IMEC verstanden werden kann, ist auch dieser selbst eine Reaktion auf andere geplante Transportrouten. Denn was die Umsetzung des IMEC vor allem antreibt, ist die Sorge vor einer zu großen Einflussnahme durch China auf den globalen Handel.
In Konkurrenz zur »Neuen Seidenstraße«
China hat selbst im Jahr 2013 die Belt and Road Initiative (BRI oder B&R), in China als »One Belt, One Road« oder auch als »Neue Seidenstraße« bezeichnet, ins Leben gerufen. Diese ist mit einer Beteiligung von mehr als 150 Ländern und internationalen Organisationen wohl eine der ambitioniertesten Handelsstraßen.
Neben umfassenden Landstraßen sieht sie eine maritime Route vor, die über den Suezkanal führen und so den Handel zwischen Asien und Europa sicherstellen soll. Die Route über den Suezkanal, die lange als der zentrale und bewährteste Handelsweg galt, zeigt gerade in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen um den Krieg in Palästina sowie der verstärkten Präsenz der Huthi-Rebellen in der Region einige Schwächen. Verzögerungen bei den Lieferungen, erhöhte Kosten sowie Sicherheitsbedenken aufgrund von potentiellen Angriffen durch die Huthi-Rebellen haben dazu geführt, dass Stimmen nach einer Alternative laut wurden, besonders nachdem die kurzzeitige Blockade des Kanals im März 2021 zu Schäden in Milliardenhöhe geführt hatte.
Schätzungen zufolge wird die Iraq Development Road, die auf direktem Weg durch den Irak führt und nicht auf den Umweg über den Suezkanal angewiesen ist, die Transportzeit erheblich verkürzen können. Während sowohl für den IMEC als auch für die BRI Transportzeiten zwischen 10-20 Tagen angegeben werden, sollen mit der IDR Lieferungen innerhalb von 5-10 Tagen möglich sein. Diese Zeiteinsparungen, der direkte Zugang zu Ölressourcen sowie die Umgehung von China könnten die IDR zu einer interessanten Alternative für umliegende Staaten und Partner im Westen machen.
Ob Chinas geopolitische Position durch den IMEC oder die IDR wirklich herausgefordert werden wird, bleibt abzuwarten; außer Frage steht jedoch, dass die Umsetzung der IDR für die Türkei mit einer Stärkung ihrer Position und Stellung als Regionalmacht einhergeht.
»Sicherheitspolitik« der Türkei im Irak
In den Verhandlungen, die Erdoğan und weitere türkische Staatsvertreter bei ihren Besuchen im Irak geführt haben, sind die Bestrebungen der Türkei dahingehend mehr als deutlich geworden. Ein wichtiger Aspekt der Gespräche waren Fragen der Sicherheit und Terrorismusbekämpfung. Wenn Erdoğan von sicherheitsrelevanten Fragen spricht, ist damit ganz konkret die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gemeint, gegen die die Türkei seit Jahrzehnten einen mal mehr, mal weniger intensiven Krieg führt. Nachdem die Guerilla sich in den späten 1990er Jahren aus den Bergen in Nordkurdistan (türkisches Staatsgebiet) weitgehend zurückgezogen hat und seitdem vor allem in Südkurdistan (auf irakischem Staatsgebiet) operiert, richten sich die Angriffe des türkischen Staates heute vor allem gegen diese Gebiete. Die Regionen rund um das Qendîl-Gebirge, nahe der irakisch-iranischen Grenze, wo das Hauptquartier der PKK vermutet wird, sind insbesondere Ziel der Operationen der Türkei.
Entgegen der Behauptungen der Türkei, hier gezielt gegen »Terroristen« vorzugehen, richten sich die Angriffe keineswegs ausschließlich gegen die Guerilla, sondern treffen genauso Zivilist:innen, zerstören Dörfer und Felder und damit die Lebensgrundlage tausender Menschen.
Seit Beginn der jüngsten Offensive im Juni dieses Jahres sind über 6800 Hektar Feld verbrannt worden, Dörfer wurden entvölkert, Familien vertrieben. Gleichzeitig werden neue militärische Stützpunkte errichtet, Straßensperren aufgestellt. Die Intensivierung der Angriffe und Errichtung von militärischer Infrastruktur stellen eine neue Eskalation des Krieges dar, die im Kontext des Iraq Development Road Project betrachtet werden sollte: Die Route, die durch den Irak verlaufen soll, dient der Türkei als Vorwand, sich entlang ihrer Schienen und in ihrem Umfeld militärisch weiter auszubreiten.
Obwohl die Gebiete, in denen sich die Guerilla aufhält, 30 km von den Routenknotenpunkten entfernt verlaufen und sie nicht tangieren, dient die reine Anwesenheit der PKK in diesem Gebiet als Legitimationsgrundlage sie anzugreifen – »zum Wohle der Sicherheit der Route«. Denn der Schutz von Handelsrouten vor potentiellen Störungen von außen ist eine der höchsten Prioritäten der Beteiligten. Das gilt insbesondere, da der Irak für das Projekt auf Sponsoren angewiesen ist, die wenig Kulanz gegenüber Problemen und Verzögerungen im Verlauf der Route zeigen würden.
Obwohl es sich um irakisches Staatsgebiet handelt, führt die Türkei seit jeher Angriffe auf diese Gebiete durch. Während der Irak diese Angriffe, die eine Verletzung seiner staatlichen Souveränität darstellen, bislang zumindest formal kritisierte und die Türkei aufforderte, sie zu unterlassen, sind diese Forderungen seit dem Beschluss des IDRP verdächtig leise geworden.
Stattdessen stuft der irakische Premierminister M. Shia’ al-Sudani kurz nach dem Besuch von Erdoğan in Bagdad die PKK als Terrororganisation ein – ein Schritt, der von Ankara lange Zeit gefordert wurde und nun begrüßt wird. Es ist ein Schritt in Erdoğans Plan, die PKK zu einem Problem zu erklären, welches nicht nur die Türkei betrifft, sondern für alle umliegenden Staaten relevant sei. Durch das Verbot der Partei wird eine Legitimationsgrundlage für die türkischen Operationen geschaffen – die Angriffe finden dadurch auf der Grundlage der Selbstverteidigung und im gemeinsamen Interesse der Sicherung der Route statt. Auf diese Legitimation von Seiten des Iraks ist die Türkei angewiesen, gerade in Anbetracht ihrer Ankündigung, die PKK im Sommer dieses Jahres endgültig zu besiegen.
Die Perspektive der PDK
Um die Unterstützung von Seiten der Autonomen Region Kurdistan (Herêma Kurdistan, ARK) muss der türkische Staat sich wohl kaum Sorgen machen, erfolgen die Angriffe doch mit Unterstützung und unter Mitwirkung der in der Region regierenden Demokratischen Partei Kurdistans1, die enge wirtschaftliche Beziehungen zur Türkei pflegt.
Das weitere Vordringen der Türkei in die Autonome Region Kurdistans sowie auf irakisches Staatsgebiet geschieht mit Billigung der PDK. Die Errichtung von über 70 militärischen Stützpunkten und eigenen Kontrollpunkten sowie die Invasion und Verlegung von logistischer Infrastruktur einige Kilometer in den Irak hinein, legen nahe, dass es sich nicht um eine kurzfristige Militäroperation handelt. Stattdessen sind diese Entwicklungen, wie auch die Ankündigung der Errichtung eines »Sicherheitskorridors« entlang der Grenze, eindeutig als Teil der neo-osmanischen Bestrebungen der Türkei zu verstehen.
Während die ARK ein großes Interesse daran hat, an der IDR beteiligt zu sein und in den Anfängen der Planung der Verlauf der Route über Hewlêr (Erbil) zur Diskussion stand, ist das von Barzanî regierte Gebiet in den derzeitigen Planungen der Route nicht inbegriffen. Die Türkei, die zwar von der Unterstützung der PDK im Krieg gegen die PKK profitiert, hat sich in den letzten Jahren mehr von Hewlêr ab- und Bagdad zugewandt. Die Beziehung zwischen der irakischen Zentralregierung und der ARK ist spätestens seit dem Unabhängigkeitsreferendum von 2017 äußerst angespannt.
In dem Bestreben, sich nicht von der ARK abhängig zu machen, umgeht die geplante Route des IDRP die Region und verläuft stattdessen komplett durch irakisches Gebiet.
Kontext Wasserpolitik
Beginnend am Hafen von Basra, dem Al Maqal Port, soll der Bau der Route mit einer Modernisierung und Aufwertung aller Städte und Ortschaften, die sie passiert, einhergehen und Fortschritt und Entwicklung für die irakische Bevölkerung bringen.
Eine nähere Betrachtung der Orte, durch die die Strecke verlaufen soll, zeigt, dass neben dem Wohlergehen der Bürger wohl auch andere Interessen eine wesentliche Rolle spielen. Basra im Süden des Iraks, die drittgrößte Stadt des Landes und Standort des größten Hafens, ist geprägt von den Machtansprüchen sowohl des Iran als auch des Iraks, die sich die Grenze der Stadt teilen. Durch die Wasserpolitik des Iran und der Türkei, die durch den Bau von Dämmen bestimmt wird und zu schwerwiegenden Umweltproblemen führt, befindet sich die Stadt seit Jahren in einer Krise.
Mit der IDR geht für den Irak die Hoffnung einher, dass die Türkei, die den größten Teil des Wassers kontrolliert, den Wasserzufluss steigern und so zur Lösung der Wasserkrise beitragen wird.
Basra ist ein Beispiel dafür, wie die Türkei die Natur nutzt, um Druck auf ihre Verhandlungspartner auszuüben.
Durch ihre Lage flussaufwärts an Tigris und Euphrat haben sowohl die Türkei als auch der Iran die Möglichkeit, den Wasserzufluss zum Irak zu beeinflussen, was beide Länder in der Vergangenheit in Konfliktsituationen immer wieder getan haben, so beispielsweise mit der Errichtung des Atatürk-Staudammes am Euphrat. Dies war ein Staudammprojekt der Türkei in den 1990er Jahren, das für den Irak Wassermangel, Dürre sowie ernste sozioökonomische Schwierigkeiten zur Folge hatte, von denen er sich bis heute nicht erholt hat. Die Angst vor solchen Schwierigkeiten ist es wohl, die zu einer Offenheit des Iraks gegenüber den Forderungen der Türkei beiträgt.
Eingebettet ins neo-osmanische Projekt der türkischen Regierung
Ein strategischer Punkt, den die »Entwicklungsstraße« passieren soll, ist die kurdische Stadt Mûsil (Mosul), auf die sowohl die Türkei, als auch der Irak und die ARK Anspruch erheben. Als eine der größten Städte mit Nähe zu bedeutenden Ressourcen ist sie auch historisch immer von strategischer Bedeutung gewesen. So war Mûsil bereits eine Station der Bagdadbahn, die als ein Projekt des 20. Jahrhunderts im ehemaligen osmanischen Reich von Konya (heute in der Türkei) nach Bagdad (heute im Irak) führte und dabei auf die engere Verbindung von Europa und dem Osmanischen Reich, zu dem Mûsil damals gehörte, abzielte.
Gerade wegen seiner zentralen Rolle im Osmanischen Reich ist der Türkei die Frage der Kontrolle über Mûsil sehr wichtig. Nachdem sie die Stadt im Zuge des Zerfalls des Osmanischen Reiches an den Irak verloren hatte, hat die Türkei ihren Anspruch nie ganz aufgegeben und versucht bis heute, ihren Einfluss dort geltend zu machen.
Der hohe Anteil an Turkmen:innen in der Bevölkerung, die die Türkei dem angestrebten neo-osmanischen Reich als selbstverständlich zugehörig ansieht, gilt ihr im Irak wie auch in Syrien als Vorwand sich in diesen Gebieten auszubreiten. Sie stellt sich als Schutzmacht der turkmenischen Bevölkerung dar und nimmt durch ihren Einfluss auf diesen nicht zu unterschätzenden Anteil der Gesamtbevölkerung auch Einfluss auf die lokale Politik der Länder. Ganz im Sinne von Mustafa Kemal Atatürk, der bereits vor 100 Jahren Mûsil und Kerkûk als die Nationalgrenze der Türkei benannt hatte, breitet sich die von der türkischen AKP/MHP-Regierung vertretene Ideologie so immer weiter aus.
Die Vernichtung Kurdistans als Ziel der türkischen Politik
Die kurdische Freiheitsbewegung und konkret die PKK ist der Türkei dabei ein Dorn im Auge, hat sie doch insbesondere mit der Revolution in Rojava ein anschauliches Beispiel dafür geschaffen, wie Menschen verschiedener Kulturen und Religionen in Frieden miteinander leben können. Und so führt die Türkei seit Jahrzehnten einen erbitterten Krieg gegen alles, was in ihren Augen mit der PKK in Verbindung steht. Einen Krieg gegen alles, was sich weigert, sich ihrer Logik zu beugen, sich einzugliedern in die Ideologie von »ein Staat, eine Religion, eine Sprache«.
Obwohl explizit als Kampf gegen die PKK ausgegeben, richtet sich der Krieg, den die Türkei führt, keineswegs ausschließlich gegen die kurdische Guerilla. Auch wenn im Falle der IDR die relative geografische Nähe unter dem Vorwand des Schutzes der geplanten Route als Legitimation für die Angriffe auf die PKK gilt, zeigen die sonstige Politik der Türkei und Projekte aus der Vergangenheit deutlich, dass es sich um einen Krieg handelt, der die Vernichtung Kurdistans zum Ziel hat.
Ein Krieg, der auch vor den Grenzen der Natur keinen Halt macht. Jahrzehntelange Machtkämpfe, die vor allen Dingen auf dem Rücken der Natur ausgetragen wurden, haben ihren Fußabdruck hinterlassen. Die Flusspegel des Tigris und des Euphrat sind in den letzten Jahrzehnten stark gesunken. Diese Flüsse, die historisch die Wiege der Zivilisation in Mesopotamien bewässerten, haben durch die umfangreiche Staudamm-Politik der Türkei und des Iran erheblich an Wassermenge eingebüßt.
Die Unberechenbarkeit der Türkei lässt darauf schließen, dass sie auch bei zukünftigen Projekten den Wasserzufluss zum Irak beschränken wird, sollte ihr das Verhalten des Nachbarn nicht passen.
Wie bei allen Infrastrukturprojekten, die in erster Linie das Ziel der Profitmaximierung und der geopolitischen Einflussnahme haben, bleibt wenig Raum für Rücksicht auf den Schutz der Umwelt.
Der Bau des Al-Faw Grand Port, die Baumaßnahmen quer durch das Land sowie der anschließende Transport von Gütern in höchstem Umfang werden für die Natur des Landes kaum eine positive Entwicklung bedeuten, sondern viel eher mit der Zerstörung natürlicher Reservate, dem Trockenlegen von Sümpfen und Feuchtgebieten und damit verbundenem Artensterben einhergehen.
Gerade mit dem Fortschreiten der Klimakrise, welche Wasserknappheit und Dürre noch befeuert, sowie mit den sozioökonomischen Folgen, die mit dem Wassermangel einhergehen, wäre jetzt der Zeitpunkt für einen Richtungswechsel hin zu einer Politik, die auf eine ganzheitliche Betrachtung setzt, statt im Austausch für Gewinnmaximierung und eine Verbesserung der eigenen geopolitischen Position einen Ökozid in Kauf zu nehmen.
Die ursprüngliche Bezeichnung der Irak Development Road – Dry Canal – trifft als Beschreibung auf das, was das Projekt für die Umwelt bedeuten wird, wohl am besten zu, tragen das Projekt und die geopolitischen Folgen, die es mit sich ziehen wird, doch dazu bei, dass das Land, das einst für den fruchtbarsten Boden bekannt war, immer weiter austrocknen wird.
Wessen Interessen und Entwicklung?
Die Hoffnungen waren groß, als Erdoğan am 22. April dieses Jahres das erste Mal seit 13 Jahren einen Fuß auf irakischen Boden setzte. Es schien eine Chance zu sein für den Irak, eine Chance, um seine marginalisierte Position zu verbessern, dem Namen der Entwicklungsstraße Rechnung zu tragen und unabhängiger zu werden von den Kräften, die ein so großes Interesse an seinen Ressourcen haben. Dafür, so scheint es, ist der Irak gerne bereit, den Forderungen der Türkei entgegenzukommen, die an der Entwicklungsstraße das vielleicht größte Interesse hat.
Für sie ist die IDR ein Werkzeug, um sich in einer politischen Phase, in der die Rollen neu verteilt werden, in die Position des unumgänglichen Mittelsmannes zu begeben und zu zeigen, dass an ihr kein Weg vorbeiführt.
Es gelingt der Türkei, ihre Interessen auch zu den Interessen der umliegenden Staaten, allen voran des Iraks, zu machen. Mit dem Bau einer Handelsroute, von der nicht nur der Irak und die Türkei, sondern natürlich auch andere Länder weltweit profitieren können, häuft sie mehr und mehr Macht an. Diese Macht sowie zahlreiche Druckmittel gegen ihre Nachbarn sind für die Türkei notwendig, hat sie doch große Pläne für den Nahen Osten.
Die Iraq Development Road und die damit einhergehenden verbesserten Beziehungen zum Irak, der Krieg gegen die PKK und die Bestrebungen des neo-osmanischen Reichs können nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Sie alle sind Zeichen des stetigen Bestrebens der Türkei, ihre regionale Macht auszubauen und zu sichern. Sie alle sind Belege dafür, wie der Irak sich um den Preis des wirtschaftlichen Fortschrittes und mehr Einflussnahme von der Türkei instrumentalisieren lässt und in Kauf nimmt, dass seine staatliche Souveränität jeden Tag aufs Neue in Frage gestellt, seine Umwelt zerstört und den Menschen die Grundlage zum Leben genommen wird.
Es lohnt sich die Frage zu stellen, an wen sich das Versprechen von Entwicklung im Namen der IDR richtet. Und gerade heute lohnt es sich zu fragen, welchen Preis wir bereit sind für diese Entwicklung zu zahlen.
1 PDK – Partiya Demokrata Kurdistanê, Demokratische Partei Kurdistans, auf Deutsch häufig KDP abgekürzt; seit 1979 unter der Führung von Mesûd Barzanî.
Kurdistan Report 235 | Oktober-Dezember 2024
Der Einfluss demografischer Veränderungen, wirtschaftlicher Interessen und militärischer Interventionen auf die Situation in Südkurdistan
Das Wohl der Bevölkerung ist nie das Motiv
Ein Beitrag von
Avesta Lawlaw – Studierende, Internationale Beziehungen, Universität Silêmanî (arab. Sulaimaniyya)
Rêbîn Bekir – Journalist, Übersetzer und Menschenrechtsaktivist aus Silêmanî (arab. Sulaimaniyya)
Am 23. August 2024 wird in Seyîdsadiq bei Silêmanî ein mit Medienschaffenden besetztes Auto von einer Drohne bombardiert, die Journalistinnen Gulistan Tara und Hêro Bahadîn kommen ums Leben. Rêbîn Bekir wird schwer verletzt.
Seit über einem Jahrhundert beeinflussen demografische Manipulation, wirtschaftliche Interessen und militärische Interventionen internationaler wie regionaler Mächte die Entwicklungen in Südkurdistan. Das Wohl und der Fortschritt der kurdischen Bevölkerung sind hierbei bis heute nie ein Motiv gewesen. In einer knappen Zusammenfassung werden ausschlaggebende Ereignisse und Prozesse dargelegt, die zur aktuellen Situation in Südkurdistan geführt haben und die heute zu einer Bedrohung für die gesamte Weltgemeinschaft werden können.
Die Geschichte der Kurd:innen ist eine Geschichte des Widerstands
Die kurdischen Gebiete liegen in Mesopotamien, dem Land, in dem die neolithische Revolution stattfand. Es war der Ort, an dem die bedeutendste Revolution der Menschheit und ihre Gesellschaftswerdung ihren Anfang nahm; das Land, in dem die Pflanzen- und Tierzucht entwickelt wurde und die sesshafte Zivilisation entstand. In dieser reichen Geschichte war die Region immer wieder Schauplatz von Konflikten, Angriffen, Besatzungen und der Aufteilung Kurdistans unter der Herrschaft von vier Nationalstaaten. Dennoch wurde sie zu einem Brennpunkt des Widerstands – das kurdische Volk hat Unterdrückung ertragen, doch stets gekämpft.
Kurdische Kultur zwischen Besatzung und Widerstand
Die kurdische Geschichte ist geprägt von einer Kultur der Kunst und des Gesangs, die als Mittel zum Überleben und zum Schutz der eigenen Identität eingesetzt wurde – so wurden beispielsweise die ungeschriebenen Erfahrungen der Kriege von Generation zu Generation durch mündliche Überlieferungen weitergegeben.
Viele Lieder wurden gesungen, um wichtige Themen des kurdischen Lebens darzustellen: Loyalität, Verrat, Liebe, Ehre, Exil, Besatzung, Frauen und die Natur Kurdistans. Trotz der Versuche der Besatzungsmächte Iran, Türkei, Syrien und Irak, die kurdische Kultur zu assimilieren, sind die reichhaltigen Sprachen, Dialekte und Erscheinungsformen der Kultur erhalten geblieben.
Seit den 1950er Jahren war das Lesen und Schreiben auf Kurdisch in Südkurdistan1 verboten, insbesondere während der Herrschaft des Baath-Regimes2. Kurdische Schriftsteller:innen Intellektuelle und Revolutionäre:innen gründeten in den Bergen Druckereien und begannen, ihre Meinungen, Kurzgeschichten und Gedichte zu artikulieren und zu veröffentlichen. Die irakische Baath-Partei wollte die kurdische Kultur vernichten – viele Dichter:innen und Schriftsteller:innen wurden hingerichtet. Die Baath-Ideologie monopolisierte alle staatlichen Einrichtungen, insbesondere den Bildungssektor und die Medien. Das Regime setzte seine ultranationalistische arabische Ideologie durch und verbreitete sie.
Wirtschaftliche und politische Krisen, ein Grund für die Jugendmigration
Nach dem kurdischen Aufstand von 1991 gegen Saddam Hussein3 und dem daraus resultierenden Machtverlust seines Regimes in den kurdischen Gebieten nahm die Bevölkerung an den Wahlen teil. In der Hoffnung auf eine neue Ära des Aufschwungs und der neuen Chancen, bildete sie eine kurdische Regierung. Doch diese Träume verflüchtigten sich bald; die Dunkelheit überkam sie, die Mütter trugen wieder ihre schwarzen Trauerkleider und ihre Augen quollen über vor Tränen: Tausende kurdische Jugendlichen wurden in den 1990er Jahren im Zuge des Bürgerkriegs, der durch alten Familien-Hass zwischen den kurdischen Parteien4 (PDK5 und YNK6) ausbrach, getötet oder sind verschwunden.
Der kurdische Bürgerkrieg hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Situation der jungen Menschen. Er führte zu Auswanderungswellen – diesmal nicht wegen der ausländischen Besatzer, sondern wegen der lokalen Kriegsparteien – die Jugendlichen fürchteten, im Krieg zwischen den beiden Regierungsparteien getötet zu werden. Intellektuelle, Dichter:innen, Schriftsteller:innen und junge Menschen wanderten in europäische Länder aus.
In den folgenden Jahren, insbesondere im Jahr 2003, erlebte die Region weitere bedeutende Veränderungen. Die USA und ihre Verbündeten marschierten in den Irak ein und stürzten das Regime von Saddam Hussein. Die Zerschlagung der Baath-Regierung brachte das Ende des brutalen Feindes der Kurd:innen mit sich.
Die Iraker:innen zahlten einen hohen Preis für die von den USA angeführte Invasion und Besetzung des Landes – mehr als eine halbe Million Zivilist:innen wurden innerhalb weniger Jahre nach der Invasion getötet. Im Irak entstanden schiitische Milizen, und die Wirtschaft wurde von der Landwirtschaft auf die Abhängigkeit vom Öl umgestellt.
Nach einem Jahrhundert blutiger Auseinandersetzungen mit den irakischen Regierungen beteiligten sich die Kurd:innen an der neuen Regierung und erhielten zahlreiche Positionen in militärischen und zivilen Einrichtungen. Die bemerkenswerteste ist das Amt des irakischen Staatspräsidenten, das seit 2005 von Celal Talabanî (2005-2014), Fuad Mesûm (2014-2018), Berhem Salih (2028-2022) und Ebdul Letîf Reşîd (seit 2022) nacheinander ausgeübt wurde.
Die Wirtschaft Südkurdistans entwickelte sich deutlich. Zum ersten Mal wurde Öl unter kurdischer Aufsicht verkauft. Doch die Hoffnung auf einen Wandel währte nicht lange und die Wirtschaft Kurdistans wurde zu einer Katastrophe für die Menschen dort. Die Gewinne aus den Öleinnahmen wurden von den beiden Regierungsparteien PDK und YNK monopolisiert und nicht zum Wohle des Landes genutzt. Im Jahr 2014 wurde mit Hilfe US-amerikanischer Unternehmen damit begonnen, Öl von den Ölfeldern in der Region Kurdistan über die Kerkûk-Ceyhan-Ölpipeline zum türkischen Hafen Ceyhan und von dort aus zu den Weltmärkten zu leiten.
Der Ölexport wurde zu einem Familiengeschäft zwischen den Familien Barzanî7 und Erdoğan. Fünfzig Jahre lang wurden Ölverträge zwischen den beiden Familien abgeschlossen und Milliarden von Dollar verdient, doch die Beamt:innen erhielten ihre Löhne nicht. Später reichte der Irak vor dem Internationalen Schiedsgerichtshof in Paris Klage gegen den Handel mit Öl zwischen der Türkei und der KRG ein. Der irakische Staat gewann den Prozess, und die Türkei wurde zur Zahlung von 1,4 Milliarden Dollar Entschädigung an den Irak verurteilt.
Im selben Jahr tauchten die »IS«-Kämpfer8 auf und verschärften die Krise. Sie kontrollierten weite Teile Iraks und Syriens und besetzten die zweitgrößte Stadt des Irak, Mosul. Die »IS«-Söldner starteten Angriffe auf kurdische Gebiete; Kurdistan als Ganzes sah sich zusätzlich zu den wirtschaftlichen und politischen Krisen einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt, die das Leben für seine Bevölkerung noch mühsamer machte.
Anstatt wirtschaftliche Infrastruktur aufzubauen, diejenigen Institutionen, die Dienstleistungen für die Bevölkerung erbringen, zu stärken und die Regierung zu modernisieren, verheimlichten die beiden Regierungsparteien ihre Ölverträge vor dem Parlament und der Bevölkerung, und die Einnahmen flossen nicht in die öffentliche Kasse zurück. Diese Realität prägt eine schwierige wirtschaftliche Situation, die sich unter anderem in einem unzureichenden Gesundheitssystem und dem Fehlen grundlegender Dienstleistungen niederschlägt.
Diese Instabilität hält an und die Krise verschärft sich von Tag zu Tag. Kinder arbeiten auf der Straße und haben keine Möglichkeit, eine »normale« Kindheit zu erleben. Junge Menschen und sogar Hochschulabsolvent:innen profitieren nicht von den wirtschaftlichen Erträgen der Ölindustrie, was neben dem Mangel an Arbeitsplätzen zu einer Fülle schwerwiegender wirtschaftlicher Probleme führt. Selbst der private Sektor war nicht in der Lage, Erwachsenen mit Hochschulabschluss ausreichend Möglichkeiten zu bieten. Universitäten und Hochschulen haben den Studierenden nicht die Möglichkeiten oder Fähigkeiten für eine selbständige Tätigkeit vermittelt. Infolgedessen nahmen und nehmen arbeitslose Hochschulabsolvent:innen Jobs an, die weit von ihrem Fachgebiet entfernt sind, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auf der Suche nach einem besseren Leben hat eine weitere Welle junger Menschen damit begonnen, ins Ausland auszuwandern. Hierbei riskieren sie oft ihr Leben, denn sie sagen, dass sie entweder sterben oder ein besseres und stabileres Leben erreichen werden.
Die kurdische Regionalregierung (KRG) hat den Menschen ihr Recht auf freie Meinungsäußerung genommen, wobei Drohungen gegen und Verhaftungen von Aktivist:innen an der Tagesordnung sind. Insbesondere die Verhaftung zahlreicher Journalist:innen und Aktivist:innen, die die Regierung kritisieren, führt zur Verbannung aus dem Land.
Südkurdistan befindet sich derzeit in einer herausfordernden Situation. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum der Autonomen Region Kurdistan im Jahr 2017 wurden 51 % ihres Territoriums von der irakischen Zentralregierung übernommen. Sowohl aus der Zeit, als die Regionalregierung Kurdistans Öl verkaufte als auch aus der Zeit, als der Ölexport durch das irakische Bundesgericht gestoppt wurde und Bagdad das Öl verkaufte, blieben Beamt:innen bis heute unbezahlt.
Die Angestellten, insbesondere die Lehrer:innen, streiken häufig in ihren Klassenzimmern und an ihren Arbeitsplätzen. Die nicht erfüllten Forderungen und die anhaltenden Boykotte führen zu einer Instabilität des Bildungssystems, sodass Tausende von Schüler:innen die Schule abgebrochen haben. Gleichzeitig besteht die Besatzung fort – das türkische Militär hat inzwischen die Region Behdînan in Südkurdistan besetzt und die türkische Regierung strebt die Annektion von insgesamt 40 % der Autonomen Region Kurdistan an. In dem Gebiet wurden zahlreiche Militärstützpunkte eingerichtet, Hunderte von Dörfern wurden evakuiert und zahlreiche Angriffe wie die Operationen »Blitzklaue« und »Adlerklaue« wurden in dem Gebiet durchgeführt.
In der Folge wird die Jugend in den vom Krieg betroffenen Gebieten weiter zur Abwanderung ins Ausland animiert. Die Dörfer sind jedoch der wichtigste Produktionsstandort für die einheimische Wirtschaft. Diese Form der Produktion ist aufgrund des Krieges und des demografischen Wandels durch Landflucht und Auswanderung zurückgegangen, was zu einer Unterbrechung der Wirtschaftskette und zu weiteren Problemen bei der Sicherung des Lebensunterhalts führt.
Trotz der militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Besatzung Kurdistans durch den türkischen Staat und der Verletzung der irakischen Souveränität schweigen die Regionalregierung Kurdistans und die Zentralregierung Iraks.
Die Bevölkerung Südkurdistans befindet sich in einer kritischen Situation und es müssen dringend Maßnahmen ergriffen werden, um die Unterdrückung zu beenden. In den nördlichen Bezirken Südkurdistans werden die Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. In den südlichen Bezirken wie Kerkûk und Xaneqîn wird eine Arabisierung der Bevölkerung betrieben, indem beispielsweise das Land kurdischer Bäuer:innen von arabischen Kräften, die das Land übernehmen wollen, in Brand gesetzt wird. Gleichzeitig leidet die Region Kurdistan im Irak unter einer drastischen Wirtschaftskrise. Insgesamt schaffen die sich überlagernden Faktoren ein günstiges Umfeld für das Wiederauftauchen extremistischer Gruppierungen, die sowohl in Kurdistan als auch in der internationalen Gemeinschaft zu einer Bedrohung werden können.
1 Das kurdische Siedlungsgebiet in Mesopotamien ist durch die Nationalstaaten Türkei, Syrien, Irak und Iran zertrennt. Südkurdistan liegt im Norden des irakischen Staatsgebiets.
2 Die Baath-Partei ist eine politische Partei, die mit Ablegern in zahlreichen arabischen Ländern aktiv ist. Die Ideologie des Baathismus verbindet nationalistischen Panarabismus und revolutionären Säkularismus mit den Elementen eines arabischen Sozialismus. Im Laufe der Zeit bildeten sich eine syrische und eine irakische Partei heraus, die sich untereinander befehdeten. Nach 40 Jahren Herrschaft im Irak (1963–2003) ist der Baathismus heute nur noch in Syrien Staatsideologie. Als die Baath-Partei im Irak an der Macht war, folgten Massenhinrichtungen und willkürliche Verhaftungen, vor allem von kommunistischen und anderen linksgerichteten Intellektuellen. Besonders nachdem Saddam Hussein 1979 an die Macht gelangt war, kam es zu massiven Menschenrechtsverletzungen, denen auch viele Baathist:innen zum Opfer fielen.
3 Der Aufstand im Irak 1991, auch Raperîn (kurdisch »Aufstand«), ereignete sich während und kurz nach dem Zweiten Golfkrieg im März 1991. Eine Folge dieses Aufstandes war die faktische Autonomie der Kurd:innen im Nordirak und die Schaffung der Autonomen Region Kurdistan (KRG).
4 »Süd-Kurdistan in einem noch nicht erklärten Krieg«, KR 230, S. 36.
5 PDK – Partiya Demokrata Kurdistanê, Demokratische Partei Kurdistans, auf Deutsch häufig auch KDP abgekürzt.
6 YNK – Yekîtiya Nîştimanî ya Kurdistanê, Patriotische Union Kurdistans, auf Deutsch häufig PUK abgekürzt.
7 Der Familienclan der Barzanî bestimmt die Partei PDK. Zusammen mit dem Familienclan der Talabanî (YNK) teilt er sich faktisch die politische Macht über die Autonome Region Kurdistan.
8 »Islamischer Staat, kurdische (Un-)Abhängigkeit und das Versagen des Nationalstaatsparadigmas«, KR 175, S. 15.
Kurdistan Report 235 | Oktober-Dezember 2024