Manifest der Demokratischen Zivilisation | Erstes Buch

Zivilisation und Wahrheit

Maskierte Götter und verhüllte Könige

Vorwort von David Graeber

Zivilisation und Wahrheit | Vorwort von David GraeberMarx glaubte, es sei die Phantasie, die uns menschlich macht: Im Gegensatz zu Bienen stellen sich Architekten zuerst die Bauten vor, die sie errichten wollen, und danach werden diese dann auch tatsächlich gebaut. In gewisser Hinsicht ist die große Frage, die alle revolutionären Gedanken beflügeln: Wenn wir so beim Hausbau vorgehen, warum nicht auch bei der sozialen Ordnung als Ganzes? Wie viele von uns – würden sie sich einfach eine Gesellschaft vorstellen, in der sie leben möchten – kämen dabei auf eine Vorstellung, die auch nur im Entferntesten derjenigen ähneln würde, die derzeit existiert? Doch fast jede ernsthafte Anstrengung, so wie ein Architekt vorzugehen – einen Plan für eine gerechte Gesellschaft zu entwerfen und mit dem Bau zu beginnen, scheint zu Frustrationen oder Katastrophen zu führen.

Man könnte argumentieren, dass dies der Grund dafür ist, weshalb wir eine Theorie des Sozialen haben. Die Idee einer Sozialwissenschaft entsteht aus den Trümmern revolutionärer Projekte. Wir stellen uns die sozialen Äquivalente zu schwimmenden Palästen und Tatlin-Türmen vor, versuchen sie zu errichten und müssen bestürzt feststellen, wie sie um uns herum zusammenbrechen. Bestimmt muss es soziale Äquivalente zu den Gesetzen der Physik und der Gravitation geben, deren wir uns nicht bewusst waren. Die Argumentation der Positivisten im Gefolge der Französischen Revolution oder von Marx im »Kapital« nach den gescheiterten Revolutionen von 1848 ist, man müsse diese Gesetze verstehen, um solche Enttäuschungen in Zukunft zu vermeiden. Doch jeder Versuch einer wissenschaftlichen Herangehensweise an die menschliche Gesellschaft – ob von rechts oder links, sei es in Form der neoklassischen Ökonomie oder des historischen Materialismus – hat sich als noch katastrophaler herausgestellt.

Ein Problem ist – zumindest das haben eine Menge von Revolutionären auf der ganzen Welt in den 1990er Jahren begonnen zu begreifen –, dass wir mit einem sehr begrenzten Begriff von Phantasie arbeiten. Alle, sogar die Architekten, haben begriffen, dass sie ihre Entwürfe nicht aus dem Nichts entwickeln, und falls sie es tun, die meisten es vorzögen, nicht in dieser Art von Strukturen leben zu wollen. Und einige der vitalsten, kreativsten, phantasievollsten revolutionären Bewegungen zu Beginn des neuen Jahrtausends – die Zapatisten in Chiapas sind vielleicht die hervorstechendsten – waren diejenigen, die sich zugleich in einer weit zurückreichenden traditionellen Vergangenheit verorten. Es gab eine wachsende Erkenntnis in revolutionären Kreisen, dass Freiheit, Tradition und Phantasie schon immer – und vermutlich auch in Zukunft – miteinander in einer Weise verstrickt sind, die wir nicht vollständig verstehen. Unsere theoretischen Instrumente sind unzureichend.

Vielleicht das Einzige, was wir an dieser Stelle tun können, ist, in die Vergangenheit zurückzukehren und von vorne zu beginnen.

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In solchen Fällen könnte man sagen, je anspruchsvoller der Denker, umso weiter zurück in die Vergangenheit dürfte er wahrscheinlich greifen. Wenn dem so ist, dürften Öcalans Arbeiten in den letzten fünfzehn Jahren seiner Gefangenschaft zu den ambitioniertesten gehören. Es stimmt, er hat es sorgfältig vermieden, in die Rolle eines Propheten zu schlüpfen. Letzteres wäre unter diesen Umständen ein Leichtes: Verkündigung epochaler Erklärungen ex cathedra wie ein Zarathustra der letzten Tage. Klar – das ist seine Sache nicht. Vom Temperament her ein Radikaler möchte er zugleich auch nicht in den Stiefeln anderer stehen. Er ist auch mit den Denkern, die er am meisten bewundert – Bookchin, Braudel, Foucault – nie ganz zufrieden, sondern er möchte als selbsternannter Amateur über Geschichte und Sozialwissenschaften sprechen, die derzeit nicht vorhanden sind, aber die man vielleicht erahnen kann. Wie würde eine Soziologie der Freiheit tatsächlich aussehen? Man kann es nur vermuten. Sicherlich, die bestehende Gesellschaftstheorie beschränkt sich vor allem auf jene Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens, in denen wir nicht frei sind, in denen wir uns aber zumindest vorstellen können, dass unsere Handlungen von Kräften außerhalb unserer Kontrolle vorherbestimmt sind.

Öcalans geistiges Projekt ist vor allem von der Erkenntnis getrieben, dass die Umarmung des Positivismus durch die revolutionäre Linke, die Vorstellung, dass es sogar möglich sei, eine derartige Wissenschaft der Gesellschaft zu konzipieren, zur »Krankheit der Moderne« wurde, zur Religion ihrer Technokraten und Beamten und für die revolutionäre Linke zur reinen Katastrophe – denn sie bedeutet nichts für die Klassen, die tatsächlich die Dinge schaffen:

»Ich muss voll Wut und Schmerz feststellen: Es war ein großes Unglück, dass der mehr als 150-jährige edle Kampf für den ›wissenschaftlichen Sozialismus‹ mit einem vulgärmaterialistischen Positivismus geführt wurde, der ihn von vornherein zum Scheitern verurteilte. Zweifellos stand dahinter ein ›Klassenbewusstsein‹, für das sie ja so oft kämpften. Aber anders, als sie dachten, war es nicht die Klasse der Arbeiter und anderer Werktätiger, die gegen die Versklavung und Proletarisierung Widerstand leistete, sondern die kleinbürgerliche Klasse, die schon längst vor der kapitalistischen Moderne kapituliert hatte und von ihr absorbiert worden war. Der Positivismus ist gerade die Ideologie ihres blinden Starrens auf den Kapitalismus und ihrer oberflächlichen Reaktionen gegen ihn.«

Schlimmer noch, eine solche Ideologie stellt sicher, dass jedes revolutionäre Experiment nur sofort wieder in die Logik der kapitalistischen Moderne zurückfällt, wie die vergangenen Revolutionen ausnahmslos gezeigt haben.

Wie lässt sich eine Alternative entwickeln – eine, die dem Sinn der Begriffe Bedeutung, Geheimnis, Kreativität, sogar Göttlichkeit gerecht wird und die sich der Kalkulation der Händler und Bürokraten entzieht, aber eindeutig Klarheit über die alltägliche Lage der Mehrheit der arbeitenden Klassen dieser Erde schafft? Wir können nur mit einer Rückkehr zur Geschichte beginnen, indem wir versuchen zu verstehen, wie diese Lage anfänglich entstanden ist. Aber das wiederum bedeutet bis zu einem gewissen Grad, sich mit dem Mythos beschäftigen zu müssen. Ich beeile mich hinzuzufügen: Hier meine ich den Mythos nicht im (positivistischen) umgangssprachlichen Sinn von »Geschichte, die nicht wahr ist«, sondern in dem Sinne, dass jede historische Darstellung, die nicht einfach nur Ereignisse beschreibt, sondern sie in gewisser Weise organisiert, als eine größere, sinnvolle Geschichte erzählt, zwangsläufig einen mythischen Charakter bekommt. Wenn Geschichte nicht in diesem Sinn mythisch ist, dann ist sie sinnlos. Insofern ist es natürlich nicht falsch Mythen zu erschaffen, eine wirksame politische Bewegung ist schwer vorstellbar ohne sie. Positivisten tun es auch. Das Wichtigste ist, dass man ehrlich gegenüber dem ist, was man tut, während man es tut.

Hier ist Öcalan absolut ehrlich. Entwaffnend ehrlich sogar. Seinen Sinn für größere Bedeutung, so erklärt er, lässt sich auf den Quell von mythischen Bildern aus seiner Kindheit am Zagros-Gebirge zurückführen, Ort der Mänaden des Dionysos; auf die nachklingende Schuld, Vögeln die Köpfe abgerissen zu haben; auf seine erste Erfahrung des Göttlichen im Spiel der Kinder; auf die Dorf-Mädchen, die vorübergehend frei von der patriarchalischen Autorität waren. Wir können annehmen, dass er uns im Kern sagt: Hier war etwas, das universal ist. Solche Erfahrungen sprechen von der historischen Tragödie einer Region, deren Frauen beispiellose Beiträge zur menschlichen Zivilisation geschaffen haben, die aber seitdem zu einem blutigen Opfer des Imperiums degradiert wurde:

»Ab diesem Zeitpunkt wurde Nordmesopotamien zur ständigen Konfliktzone zwischen dem Römischen Reich und dem Parther- bzw. Sassanidenreich. Mehrfach wechselte es den Besitzer. Dieser gesegnete Boden, auf dem die neolithische Revolution und die ersten Zivilisationen wuchsen, wurde geradezu zum dialektischen Gegenpol. Von einer Quelle der Zivilisationen wurde es zum Ort, an dem sie ertränkt werden. … Dieses Gebiet [brachte] nie wieder ein eigenes Zentrum hervor und fiel ständig Angriffen, Besatzungen, Annexionen und Kolonialisierungsbestrebungen anderer Zivilisationen zum Opfer. Dies ist eine der tragischsten Entwicklungen der Geschichte und ähnelt der Geschichte der Frau: Nachdem sie die größte Kulturrevolution geschaffen hat, ist sie das am meisten geknechtete Wesen.«

Öcalan beginnt mit diesem Gefühl der Empörung, das tausende patriarchalische Aufstände in der Geschichte auslöste (»Wir werden behandelt wie die Frauen!«), und kommt zu dem Schluss: Wenn wir nicht das gleiche endlos destruktive Muster reproduzieren wollen, müssen wir diese Logik völlig auf den Kopf stellen.

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Wie lässt sich das bewerkstelligen? Ich denke, man kann guten Gewissens behaupten, dass es im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts zwei große zivilisatorische Erzählungen geschafft haben, die Vorstellungswelt der Menschen zu besetzen, und das mit tiefgreifenden politischen Auswirkungen.

Die erste führt uns zurück zu den Geschichten der Aufklärung über den Ursprung sozialer Ungleichheit. In ihrer zeitgenössischen Variante hört sich das in etwa so an: Es gab einmal den Menschen, der in glücklichen, kleinen, egalitären Gruppen von Jägern/Sammlern lebte. Macht und Dominanz waren unbekannt, es fehlte überhaupt jede echte soziale Struktur. Mit der Erfindung der Landwirtschaft, die speicherbare Überschüsse und unerfreuliche Eigentumsunterschiede möglich machte, begannen die Dinge, den Bach hinunterzugehen. Der eigentlich grundlegende Bruch aber kam mit dem Aufkommen der Städte und damit der Zivilisation – »Zivilisation« im wörtlichen Sinn, was schlicht bedeutet, dass Menschen in Städten leben. Die Konzentration von Bevölkerung und Ressourcen, die Urbanisierung, musste zwangsläufig auch bedeuten, dass sich herrschende Klassen bildeten, die in der Lage waren, per Beschlagnahme Kontrolle über die Überschüsse sicherzustellen; es entstanden also Staaten, Sklaverei, Eroberung, Armeen, ökologische Zerstörung, aber zugleich auch Schrift, Wissenschaft, Philosophie und organisierte Religionen. Die Zivilisation kam also als Paket. Man konnte dies als unvermeidlich annehmen, gewaltsame Ungleichheiten als Preis des Fortschritts akzeptieren, oder man konnte davon träumen, eines Tages zurückzukehren zu einer neuen Version des alten paradiesischen Zustandes – entweder durch revolutionären Wandel, technologischen Fortschritt, oder, in einigen radikalen Versionen, durch die Förderung des industriellen Zusammenbruchs und die Rückkehr zum eigentlichen Jäger-/Sammler-Dasein. Aber die Zivilisation selbst war eine Einheit, die unvermeidliche Folge der Erbsünde, Tiere und Pflanzen zu zähmen, und ihr Wesen konnte nicht geändert, nur angenommen oder abgelehnt werden.

Die zweite Geschichte war ganz anders. Man kann sie den Mythos der arischen Invasoren nennen. Diese Geschichte beginnt so: Es war einmal eine matriarchalische Zivilisation, die sich über den Fruchtbaren Halbmond und darüber hinaus erstreckte. In fast allen Jäger-/Sammler-Gesellschaften gelten Frauen als Experten für die Pflanzenwelt. Logischerweise ging man davon aus, dass Frauen die Landwirtschaft erfunden haben müssen und dass dies den Grund für die außerordentliche Betonung von Göttinnenfiguren und Darstellungen mächtiger Frauen in den ersten fünftausend Jahren der Agrargesellschaft darstellt. Hier wurde der Aufstieg der Städte nicht als ein an sich problematischer Vorgang erachtet – das minoische Kreta, eine bronzezeitliche städtische Zivilisation, deren Sprache wir nicht lesen können, deren Kunst aber keine Darstellungen männlicher Autoritäten jeglicher Art aufweist, wird oft als friedlich angesehen, als anmutige, künstlerische Kulmination dieser neolithischen matriarchalen Ordnung. Der eigentliche Bruchpunkt kam nicht mit dem Aufstieg der Städte, sondern mit den Einfällen patriarchalischer, nomadischer oder halbnomadischer Invasoren wie den semitischen Stämmen, die sich aus den umliegenden Wüsten auf die Gebiete von Tigris und Euphrat ausdehnten, sowie europäischer oder arischer Hirtenvölker, von denen angenommen wurde, dass sie sich irgendwo vom heutigen Südrussland aus bis nach Irland und in das Ganges-Tal ausgebreitet haben, wobei sie ihre Sprachen, ihre Kriegeraristokratien, ihre heroischen Epen und Opferrituale mit sich brachten. Wieder konnte man sich mit einer der beiden Seiten identifizieren. Für viele Dichter, Romantiker, Revolutionäre und Feministinnen war dies der wehmütige Traum eines verlorenen gegangenen pazifistischen, kollektivistischen Paradieses. Imperialisten tendierten dazu, die ganze Geschichte auf den Kopf zu stellen: Britische Kolonialbeamte zum Beispiel waren dafür berüchtigt, »männliche Kriegerrassen« gegenüber den vermeintlich passiven, »weiblichen« Bauern, die erstere zu verwalten hatten, zu begünstigen. Und wie bei so vielen Dingen haben die Nazis einfach diese koloniale Logik wieder zurück nach Europa gebracht. Hitler wird notorisch vollständig mit den patriarchalischen Eindringlingen identifiziert und im Rahmen der Überwältigung der minderwertigen weiblichen Population durch ihre virilen natürlichen Beherrscher gesehen.

Öcalan dagegen übernimmt die gleichen Stücke der Erzählung, aber setzt sie ganz anders zusammen. Dabei geht er von der einzigartigen Situation seines kurdischen Heimatlandes in den bergigen nördlichen Ecken jenes sehr fruchtbaren Halbmonds aus, wo die Landwirtschaft zuerst auftaucht. Er stellt fest, dass »Ari« im Kurdischen »zu Erde, Boden, Feld gehörend« bedeutet und argumentiert, dass die ursprünglichen Indoeuropäer oder »Arier« überhaupt keine Weidewirtschaft betreibenden Eindringlinge waren, sondern die Erfinder der Landwirtschaft und der neolithischen Kultur, die erfolgreich große Teile unseres Alltagslebens, das wir immer noch für selbstverständlich halten, unsere grundlegenden Gewohnheiten in Bezug auf Ernährung und Behausung sowie unser Gefühl für Spiritualität und Gemeinschaft schufen. Das war eine revolutionäre Veränderung des menschlichen Lebens, und wie Öcalan betont, war dies eine Revolution, die vor allem von Frauen ohne patriarchalische Autorität geschaffen wurde. Darin bestand ihre offensichtliche Anziehungskraft, die diese Revolution auf der ganzen Welt verbreitete, wobei sich häufig die indoeuropäischen Sprachen verbreiteten, nicht durch Migration, sondern durch die bloße Kraft des Beispiels und durch den kosmopolitischen Fluss von Individuen und Gastfreundschaft, den diese neue und weitgehend friedliche Agrarwelt ermöglichte. Die Gegenkraft hier sind nicht die Nomaden, sondern wiederum der Aufstieg der Städte und besonders die von der sumerischen Priesterschaft geschaffene ideologische Grundlage, der es gelang, die Unterordnung der Frauen, die Anfänge des Staates, mystifizierende Ideologie, das Fabriksystem und das Bordell einzuführen – alles zur gleichen Zeit. Die räuberischen Eliten, oft von nomadischer Herkunft, bemächtigten sich damals nur einer bereits bestehenden Struktur und stellten sicher, dass auch die weitere Geschichte durch endlose, spektakuläre, sinnlose Kriege geprägt sein würde.

Das nennt Öcalan die »Zivilisation« – eine Ordnung, die sich als vornehme Herrschaft, Mäßigung, Legalität und Vernunft präsentiert, deren eigentliches Wesen aber Vergewaltigung, Terror, Verrat, Zynismus und Krieg ist. Ein Großteil des Konflikts der letzten fünftausend Jahre spielte sich zwischen der Gewalttätigkeit dieses ursprünglich städtischen Systems der menschlichen Ausbeutung und den Werten ab, die noch im beständigen neolithischen Fundament unseres kollektiven Daseins vorhanden sind. Hier nimmt seine Analyse der Rolle der Ideologie – und insbesondere der Religion – eine Reihe überraschender Wendungen.

Gerade wegen der revolutionären Natur des sozialen Wandels, ist – paradoxerweise – die Logik der offenbarten Religionen intuitiv sinnvoll. Im Gegensatz zu den positivistischen Empfindungen, die – desavouiert seit dem Zusammenbruch der fabianischen Träume im Ersten Weltkrieg – immer noch davon ausgehen, dass Geschichte vor allem durch den Fortschritt charakterisiert ist, der gesellschaftliche Wandel also als ein normales, relativ zunehmendes und gütiges Phänomen dargestellt wird – da man sich tatsächlich nichts anderes vorstellen kann –, ist die wirkliche Geschichte typischerweise von intensiven Momenten der sozialen Vorstellungskraft und der Schöpfung von Lebensmustern geprägt, die dann in relativ gleicher Gestalt für Tausende von Jahren hartnäckig in unserer Mitte verharren. Die Neolithische Revolution, wie Gordon Childe das ursprünglich betitelt hat, betraf die Erfindung von Lebensmustern – alles von den Techniken der Tierhaltung oder Käse auf Brot zu essen bis zu den Gewohnheiten, auf Kissen oder Stühlen zu sitzen –, die danach zum Inventar der menschlichen Existenz gehörten. Das Gleiche gilt für unsere grundlegenden sozialen Kategorien wie häusliches Leben, Kunst, Politik, Religion: »Die im Fruchtbaren Halbmond konstruierten gesellschaftlichen Realitäten existieren in ihren Grundzügen bis heute weiter.« In diesem Sinne leben wir noch alle in der Jungsteinzeit. Was die heiligen Bücher wie die Avesta, die Bibel oder der Koran lehren – dass die Wahrheiten, die unser Leben untermauern, das Ergebnis von Momenten der göttlichen Offenbarung waren –, spricht normale Bauern, Arbeiter und Händler an, nicht weil sie deren Lebensumstände mystifizieren – jedenfalls nicht in erster Linie. Vielmehr ergeben sie intuitiv Sinn, weil ihre Aussagen wahrhaftig oder wahrer sind als die Alternative in Gestalt der rationalistischen Theologie der Bürokraten. In einem höheren Sinn wird Religion, Ideologie, »Metaphysik« sowohl der Bereich, in dem man Wahrheiten ausdrücken kann, die man nicht anders ausdrücken kann, als auch ein Schlachtfeld für Kämpfe um Bedeutung, deren politische Implikationen nicht größer sein könnten. Was kann man von der Bedeutung der Muttergöttinnenfiguren wie Ishtar oder Kybele in Zeiten der patriarchalischen Herrschaft ableiten? Sind sie nicht beide, so Öcalan, Ausdruck und Waffe in den Schlachten über die Bedeutung der Geschlechterverhältnisse und die tatsächliche Macht der realen Männer und Frauen, deren Existenz sonst ganz verloren gehen könnte?

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Akademiker sind snobistische Wesen, die dazu neigen, andere zu verletzen, die in ihr Gebiet eindringen, es sei denn, man könnte sie auf ein eigenständiges Studiengebiet reduzieren. Zweifellos werden viele einwenden: Wie viel davon hält wirklich stand? Unter Berücksichtigung der Umstände, unter denen dieses Buch geschrieben wurde, halte ich die Leistung für ziemlich beeindruckend. Mit den äußerst begrenzten Ressourcen, die ihm von seinen Gefängniswärtern zugestanden wurden, hat Abdullah Öcalan wohl eine bessere Arbeit abgeliefert als solche Autoren wie Francis Fukuyama oder Jared Diamond, die Zugang zu den weltweit besten Forschungsbibliotheken haben. Zugegeben, vieles in dem Bild, das er entwirft, trotzt dem aktuellen Erkenntnisstand der professionellen Archäologen, Anthropologen und Historiker. Aber oft ist dies eine gute Sache, denn diese Erkenntnisse selbst sind einem Prozess der ständigen Transformation unterworfen. Die Vergangenheit verändert sich ständig. Wir können aber absolut sicher sein, dass in fünfzig Jahren vieles, das jetzt unhinterfragt angenommen wird, über Bord gegangen sein wird.

In einer Hinsicht jedoch stemmt sich diese Studie gegen einen Punkt des besonderen wissenschaftlichen Widerstandes, indem sie die Idee des frühen Matriarchats aufgreift. Die meisten Theorien kommen und gehen je nach intellektueller Mode; es gibt eine Generationsabfolge, in der Theorien einmal weit verbreitet sind (Karl Polanyis oder Moses Finleys Vorstellungen über die alte Ökonomie sind schöne Beispiele), um dann universell zurückgewiesen und wieder belebt zu werden. Im Fall der Theorien über das Matriarchat oder sogar solchen, die den Frauen in den neolithischen Gesellschaften einen einzigartigen Status zusprechen, ist dies nicht geschehen. Schon von solchen Dingen zu reden, ist in gewisser Weise zu einem Tabu geworden. Da diese Vorstellungen so eifrig von bestimmten Strömungen des Feminismus vertreten werden, ist es teilweise zweifellos so, dass Akademiker dazu neigen, diese am wenigsten ernst zu nehmen; aber ansonsten scheint der Widerstand dagegen so beharrlich zu sein, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, hier seien patriarchalische Vorurteile im Spiel.

(Es ist bezeichnend, dass es den verbreitetsten Einwänden an Logik hapert. Am häufigsten wird auf die ethnografischen Aufzeichnungen verwiesen: Während die neolithische und die kupfersteinzeitliche Kunst, ganz zu schweigen von der minoischen Kunst, eine soziale Ordnung darstellen, in der Frauen fast alle maßgeblichen Positionen innehatten, findet man in der anthropologischen Literatur wenige oder keine Hinweise auf derartigen Gesellschaften. Das stimmt.

Aber die ethnografischen Aufzeichnungen enthalten auch keine Anhaltspunkte für demokratisch organisierte Stadtstaaten wie das antike Athen, doch wir wissen, dass es sie tatsächlich gab; diese Stadtstaaten waren in der späten Eisenzeit sogar ziemlich weit verbreitet, bevor sie weitgehend um 300 v. Chr. verschwanden. Aber selbst wenn man auf ethnografischen Parallelen besteht, funktioniert die Logik nicht. Denn ein weiteres weit verbreitetes Argument ist, dass die Existenz einer materiellen Kultur, in der praktisch alle Darstellungen von dominierenden Gestalten weiblich sind, an sich nichts bedeuten soll, da es sich nur um mythologische Szenen handele und das eigentliche gesellschaftliche Leben ganz anders hätte organisiert sein können. Andererseits ist es niemandem gelungen, ein Beispiel einer patriarchalischen Gesellschaft aufzuzeigen, in der die künstlerischen Darstellungen fast ausschließlich aus Bildern von mächtigen Frauen bestehen, gleichgültig, ob diese nun mythisch oder nicht sind. So oder so, haben wir es mit einem ethnografisch präzedenzlosen Fall zu tun. Die Tatsache jedoch, dass nahezu alle Gelehrten dies so deuten, dass wir zu dem Schluss kommen müssen, Männer hätten das Geschehen in der Hand gehabt, sagt mir: Hier liegt ein klares Beispiel für ein männliches Vorurteil vor, wie man es nicht besser finden kann.)

Wie Anthropologen haben Archäologen und Historiker die lästige Angewohnheit, nur füreinander zu schreiben. Die meisten schreiben nichts, was für Gelehrte in anderen Disziplinen, geschweige denn für alle außerhalb des Akademiebetriebs, bedeutsam wäre. Das ist bedauerlich, denn in den letzten Jahrzehnten haben sich Dinge aufgetan, die möglicherweise unser bisheriges Verständnis in Unordnung bringen können. Fast alle Schlüsselannahmen des zivilisatorischen Narrativs, die wir in der einen oder anderen Weise seit der Zeit von Rousseau erzählt haben, scheinen auf falschen Annahmen zu beruhen – auf solchen, die einfach faktisch falsch sind. Jäger und Sammler zum Beispiel lebten nicht ausschließlich in Kleingruppen und bildeten nicht unbedingt egalitäre Gemeinschaften (viele scheinen saisonale Muster gehabt zu haben, Hierarchien zu schaffen und sie dann wieder zu einzureißen). Frühe Städte dagegen waren oft verblüffend egalitär. Vor der Entstehung des Zikkurat-Systems, auf das Öcalan aufmerksam macht, gab es vielleicht ein Jahrtausend des egalitären Urbanismus, von dem wir wenig wissen. Aber die Implikationen sind potentiell außergewöhnlich, zumal, wenn man einmal weiß, worauf zu achten ist, beginnen egalitäre Experimente überall in der menschlichen Geschichte zu erscheinen. »Zivilisation« oder sogar das, was wir »Staat« nennen, sind keine einzelnen Einheiten, die als Paket kommen, das man annehmen oder verweigern kann, sondern als unbequeme Amalgame von Elementen, die sich jetzt im Prozess des Auseinanderdriftens befinden. All diese Prozesse des Umdenkens werden enorme politische Implikationen haben. In einigen Bereichen vermute ich, wird es bald klar sein, dass wir alle falsche Fragen gestellt haben. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es wird fast allgemein angenommen, dass die Schaffung von Gleichheit oder Demokratie in einer kleinen Gruppe relativ einfach ist, aber in einem größeren Maßstab enorme Schwierigkeiten schafft. Es wird klar, dass dies einfach nicht wahr ist. Egalitäre Städte, auch regionale Konföderationen, sind historisch alltäglich. Egalitäre Haushalte sind es nicht. Es ist die kleine Einheit, das Niveau der Geschlechterverhältnisse, die Haushaltsknechtschaft, die Art der Beziehungen, die die wesentlichsten Formen der strukturellen Gewalt und die größte Intimität annehmen, in der das schwierigste Werk der Schaffung einer freien Gesellschaft stattfinden muss.

In diesem Zusammenhang scheint es mir, dass Öcalan genau die richtigen Fragen stellt, oder viele von ihnen, in einem Augenblick, in dem dies kaum wichtiger sein könnte. Lasst uns hoffen, dass, während politische Bewegungen die Lehren aus der Geschichte ziehen, neue Sozialtheorien entstehen, was unvermeidlich geschehen wird, und sich unsere Erkenntnis der Vergangenheit ebenfalls revolutioniert, der Autor dieses Buches aus seiner gegenwärtigen Gefangenschaft entlassen wird und sich als ein freier Mann daran beteiligen kann.