»Das ist genau das, was wir brauchen!«
Neue Qualität in der Frauenaußenarbeit
Meral Çiçek
Vor einem Jahr, am 3. August 2014, griff der sogenannte »Islamische Staat« (IS) êzîdische Siedlungsgebiete im südkurdischen Şengal-(Sindschar-)Gebirge mit dem Ziel eines physischen und kulturellen Genozids an. Kurz darauf musste das Flüchtlingslager Maxmur, in dem ca. zwölftausend Flüchtlinge aus Nordkurdistan lebten, aufgrund von IS-Angriffen evakuiert werden. Einen Monat später begann der historische Widerstand von Kobanê.
Sowohl im Şengal-Gebirge und in Maxmur als auch in Kobanê ist es den kurdischen Widerstandskräften gelungen, die Angriffe erfolgreich abzuwehren. Aber nicht nur das; darüber hinaus hat zusammen mit diesem Widerstand im Spätsommer und Herbst 2014 an verschiedenen Fronten, vor allem aber in Kobanê, aus Sicht der kurdischen Befreiungsbewegung eine neue Phase begonnen. Eine essentielle Rolle spielten dabei ihre politische Weitsicht und daraus resultierend die Fähigkeit, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Schritte zu unternehmen. Beispielsweise konnte der vom IS geplante Genozid in Şengal verhindert werden, weil weniger als ein Dutzend GuerillakämpferInnen, die Initiative ergreifend, sich den Weg ins Gebirge freikämpften und so einen humanitären Korridor nach Rojava eröffneten. Es sind eben diese »Sternstunden der Menschheit« (Stefan Zweig), die den Lauf der Geschichte verändern und so selbst Geschichte schreiben.
Diese Entwicklungen haben aus Sicht der kurdischen Befreiungsbewegung in vielerlei Hinsicht eine neue Situation geschaffen. Sie ist nicht nur auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene politisch und militärisch gestärkt aus dieser Phase hervorgegangen, sondern zugleich auch zu einem Zentrum des globalen Kampfes für Demokratie geworden. Augen und Ohren wie auch die Herzen derjenigen Menschen aus aller Welt, die für »eine andere Welt« kämpfen, haben sich Kurdistan zugewendet. Dabei hat vor allem die Vorreiterrolle der kurdischen Frauen eine große Rolle gespielt, sowohl im Widerstand gegen den IS als auch beim Aufbau alternativer Strukturen, die auf dem von Abdullah Öcalan entwickelten Demokratie-, Ökologie-, Frauenbefreiungs-Paradigma basieren.
Aus dem Grund bietet diese neue Situation nicht nur generell für die kurdische Freiheitsbewegung, die von Beginn an mit der Kriminalisierung durch das staatliche Zivilisationssystem mit dem Ziel ihrer Isolation konfrontiert ist, sondern vor allem für die kurdische Frauenbefreiungsbewegung beträchtliche Möglichkeiten für eine Öffnung. Die kurdische Frauenbewegung unterhält seit über zwanzig Jahren Beziehungen zu verschiedenen Frauenorganisationen weltweit. Aber zusammen mit den Entwicklungen der vergangenen zwölf Monate sind die Bedingungen für einen qualitativen wie auch quantitativen Sprung in der Außenarbeit der Frauenbewegung geschaffen worden. In diesem Zusammenhang ist das Fundament für einen weit intensiveren und umfassenderen Austausch mit den Frauen der Welt entstanden.
Wie wirkt sich diese neue Situation auf die Praxis aus? Welche neuen Möglichkeiten für die Frauenbewegung haben sich ergeben? Wie werden sie genutzt? Wie ist das Verhältnis der Frauen der Welt zur kurdischen Frauenbewegung? Welche qualitative Entwicklung hat es in der Außenarbeit der kurdischen Frauen gegeben?
Ohne Zweifel ist das Interesse an der kurdischen Frauenbewegung nicht neu. Von Beginn an bestand ein wachsendes Interesse am Kampf der Frauen in Kurdistan, ihren Organisationsformen, ihrer Ideologie, ihrer Agenda und insgesamt ihrer Situation. In den neunziger Jahren und dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ging es der Bewegung vor allem darum, die Situation und den Kampf der kurdischen Frauen der Weltöffentlichkeit vorzustellen, darüber die dreckige Politik der Kolonialstaaten in Kurdistan zu entlarven und die Zusammenarbeit mit verschiedenen Frauenorganisationen zu stärken. Unter dem Einfluss des damaligen Paradigmas und Verständnisses von Internationalismus spielte internationale Solidarität in jenen Jahren eine wichtige Rolle in der Außenarbeit der Frauenbewegung.
In den letzten Jahren kam es jedoch zu einem Wandel in der kurdischen Frauendiplomatie. Das hat zweifelsohne mit den enormen Entwicklungen in ihrer Ideologie, Politik und Praxis zu tun. Die kurdische Frauenbewegung hat in den vergangenen Jahren zunehmend ihre eigene Agenda mit den Frauen der Welt geteilt und sich den dafür notwendigen Raum selbst geschaffen. In diesem Zusammenhang hat sie durch eigens organisierte internationale und regionale Konferenzen sowohl das Vorstellen der eigenen Ideen und Konzepte als auch den Austausch und die Zusammenarbeit mit Frauen aus verschiedenen Ländern und Bewegungen verstärkt, parallel auch vermehrt auf Diskussionsveranstaltungen und Konferenzen auf internationaler Ebene.
Zusammen mit dem Widerstand in Şengal und Kobanê kam es jedoch zu einem regelrechten Massenansturm. Seitdem kommen von überall auf der Welt Einladungen antikapitalistischer, feministischer, linker und anderer alternativer Bewegungen zu Veranstaltungen über die Revolution der Frauen in Kurdistan. Während mit einem Teil dieser Bewegungen auch vorher schon Beziehungen bestanden hatten, wurden sie mit vielen erst innerhalb dieses Prozesses aufgebaut.
Dieses zunehmende Interesse ist natürlich nicht unabhängig vom Widerstand gegen den IS aufgetreten. Allerdings wäre es falsch anzunehmen, es richte sich hauptsächlich auf Şengal oder Kobanê oder die Kämpferinnen der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ). Vielmehr interessieren sich die Menschen für die Realität hinter diesem von Frauen geführten Widerstand.
Daher versuchen wir als kurdische Fraueninstitutionen, die Außenarbeit betreiben, bei Veranstaltungen stets die Frauenbefreiungsbewegung selbst in ihrer Entwicklungsdialektik und -dynamik begreifbar zu machen. Der Grad der politischen, ideologischen und praktischen Entwicklung der kurdischen Frauenbewegung ist weltweit einzigartig. Nirgendwo auf der Welt gibt es eine Frauenbewegung, die sowohl in den Bergen als Guerilla als auch in den Städten als Massenbewegung agiert und innerhalb politischer Strukturen so stark organisiert ist und einen so immensen Einfluss auf die Befreiungsbewegung allgemein ausübt. Deshalb sind viele ZuhörerInnen auf Veranstaltungen einfach erstaunt und zugleich auch bezaubert; vor allem bei Vergleichen mit der Situation und der Rolle der Frauen im eigenen Land bzw. in der eigenen Bewegung.
Die Frauenrevolution in Rojava, der von Frauen geführte Widerstand gegen den IS, das System des Kovorsitzes und das Prinzip der gleichberechtigten Teilnahme im politischen Raum in Nordkurdistan oder insgesamt die von Frauen innerhalb der kurdischen Befreiungsbewegung gespielte Rolle sind ohne Zweifel Ausdruck der Ideologie der Bewegung. All diese Punkte reflektieren das von Abdullah Öcalan entwickelte und auf Demokratie, Ökologie und Frauenbefreiung basierende Paradigma. In dem Zusammenhang wird durch die Frauenbewegung den Frauen und Gesellschaften der Welt dieses Paradigma nahegebracht. Was auf große Bewunderung und Interesse trifft, ist dieses Paradigma selbst. Es geht dabei nicht um »Revolutionsromantik«. Vielmehr versuchen die Menschen, den Kampf und die Ideologie der kurdischen Befreiungsbewegung im Rahmen der globalen Realität und vergleichend mit ihren eigenen Erfahrungen zu verstehen.
Dabei ist es vor allem die Radikalität der kurdischen Bewegung, die auf der anderen Seite zu Begeisterung und Enthusiasmus führt. Denn es ist eben diese theoretische und praktische Radikalität, die systemkritischen Menschen oft fehlt. Es ist diese Annäherungsweise, die jegliches Problem bei der Wurzel packt und die Geschichte im Heute zu verändern versucht, die auf Bewunderung stößt. Ebenso das Prinzip, die Revolution nicht zu vertagen, sondern in der eigenen Bewegung und der eigenen Persönlichkeit zu beginnen. Weiterhin ist es vor allem die Intersektionalität im Kampf der kurdischen Bewegung, die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Bereiche des Befreiungskampfes, welche die Menschen erstaunt. Ihnen fällt oft als erste Eigenschaft der kurdischen Bewegung auf, dass nichts auf morgen vertagt wird und alle Kämpfe – der militärische Widerstand, Frauenbefreiung und Transformation des Mannes, der Aufbau alternativer gesellschaftlicher Strukturen, der politische Kampf etc. – gleichzeitig geführt werden. Und sie verstehen, dass dies so sein muss und dass für den Aufbau eines alternativen Systems alle Teilkämpfe gleichzeitig geführt werden müssen, da sie nicht voneinander zu trennen sind und sich gegenseitig nähren.
Auf dem diesjährigen Weltsozialforum in Tunesien kam nach einer Veranstaltung, an der wir als Referentinnen teilgenommen hatten, eine Frau aus Frankreich auf uns zu und fragte nach weiterer Information. Sie erklärte, dass sie seit über dreißig Jahren in der feministischen und antikapitalistischen Bewegung in Paris aktiv sei und mehr über die kurdische Bewegung erfahren möchte. Auf Französisch hatten wir nur eine von der Internationalen Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« erstellte Broschüre mit dem Titel »Die Revolution der Frau« über Texte Abdullah Öcalans dabei. Einige Tage später erhielten wir von ihr eine Nachricht: »Ich weiß nicht, wie ich Euch danken kann. Die Broschüre hat mir in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet. Das Puzzle ist nun komplett.«
Wenn wir uns die Annäherung der verschiedensten Menschen aus unterschiedlichen politischen Gruppierungen anschauen, die im vergangenen Jahr an Veranstaltungen teilgenommen haben, auf denen Vertreterinnen der kurdischen Frauenbewegung referierten, fällt auf, dass es zu einer qualitativen Veränderung gekommen ist. Es ist nicht mehr möglich, das Verhältnis verschiedener Frauen-, Umwelt-, Antikapitalismus-, nationaler Befreiungsbewegungen etc. zur kurdischen Frauenbewegung im Rahmen des klassischen Verständnisses von Solidarität und Internationalismus zu bewerten. Auf kaum einer Veranstaltung wurde die Frage gestellt: »Wie können wir Euch helfen?«, im Gegenteil, immer mehr heißt es: »Was können wir von Euch lernen?«
Grund dafür ist, dass diese Menschen, die ganz verschiedene soziale und politische Hintergründe haben, sich in der Universalität des Paradigmas der kurdischen Bewegung wiederfinden können. Denn diese Universalität ist kein neues Phänomen, sondern besteht im ständigen Wechselverhältnis der verschiedensten Lokalitäten. Das ist vielleicht der wichtigste Aspekt der neuen Qualität in der Außenarbeit der kurdischen Bewegung.
Wenn eine katalanische Frau nach einer Veranstaltung sagt: »Heute habe ich verstanden, dass wahrer Sozialismus die Befreiung der Frau ins Zentrum setzen muss.«, dann zeigt dies, dass das von Öcalan entwickelte Paradigma die Fähigkeit besitzt, gedankliche Lücken zu füllen. Wenn eine antimilitaristische Aktivistin aus den USA nach einem Vortrag über das Selbstverteidigungsverständnis der kurdischen Frauenbewegung sagt: »Das ist genau das, was wir brauchen! Wir müssen sofort unsere Verteidigung voranbringen!«, dann unterstreicht das die Universalität der Frauenbefreiungsideologie und ihrer Konzepte. Und wenn Vertreterinnen von Frauenorganisationen aus verschiedenen Teilen der Erde anfragen, für den ideologischen Austausch und politische und ideologische Weiterbildung zum Zentrum der Frauenbewegung in die Berge Kurdistans zu kommen, dann zeigt dies, dass die kurdische Frauenbewegung aus Sicht der Frauen der Welt sowohl theoretisch als auch praktisch zum Beispiel genommen wird.
Diese und Dutzende weitere Beispiele weisen auf eine weitere Realität hin: Das 21. Jahrhundert hat tatsächlich das Potential, zu einem Jahrhundert der Frauenrevolution zu werden. Dass der kurdischen Frauenbefreiungsbewegung mit ihrer ideologischen Tiefe und ihren enormen praktischen Erfahrungen dabei eine führende Rolle zukommt, hat in den letzten zwölf Monaten an Deutlichkeit gewonnen.