Kevin Jochim/Dilsoz Bahar
Şehîd namirin! In unserem Kampf lebst du weiter!
Momente und Erinnerungen von WeggefährtInnen und GenossInnen
In der Nacht des 6. Juli 2015 ist unser Genosse und Freund Kevin Jochim bei einem Angriff des IS in Rojava gefallen. Er und 5 weitere Freunde verloren im Kanton Cizîrê im Dorf Şergirat im Kreis Silûk ihr Leben. In Kurdistan kämpfte Kevin mit dem Namen Dilsoz Bahar in den Reihen der Volksverteidigungseinheiten der YPG.
Genoss_innen, die Heval Dilsoz an unterschiedlichen Orten kennenlernen durften, erinnern sich an Momente und Begegnungen mit ihm in Kurdistan und Deutschland:
Ich fragte mich oft, was Kevin wohl treibt ...
Ich kenne Kevin nicht gut, nur von wenigen Begegnungen auf Aktionen. Als ich Kevin im Mai dieses Jahres in einem Video-Interview aus Rojava sah, konnte ich mich sofort an unser letztes Aufeinandertreffen erinnern. Es war auf dem kurdischen Kulturfest in Mannheim im September 2012 – zwei Monate, bevor sich Kevin der kurdischen Befreiungsbewegung unter dem Namen Dilsoz Bahar anschloss und nach Rojava ging.
Im Laufe des Kulturfests kam Kevin auf mich zu, ich kannte ihn zuvor nur vom Sehen. Es ist seine offene und herzliche Art, die auch im Interview heraussticht, an die ich mich erinnere. Seine genossenschaftliche und positive Ausstrahlung schuf auf Anhieb eine vertraute Atmosphäre und so kamen wir damals schnell ins Gespräch. Wir tauschten unsere verschiedenen politischen Perspektiven und Visionen aus. Es wurde klar, dass Kevin eine große Begeisterung für die kurdische Bewegung verspürte, er reiste an diesem Tage allein von Karlsruhe nach Mannheim und wollte gemeinsam mit den kurdischen Genoss_innen auf dem Kulturfest feiern, sich informieren und Kontakte knüpfen. Kontaktdaten konnte ich mit Kevin leider nicht mehr austauschen, da das Kulturfest von der Polizei massiv angegriffen wurde und wir uns hierdurch aus den Augen verloren.
Ich fragte mich oft, was Kevin wohl treibt, und hielt auf größeren bundesweiten Demonstrationen nach ihm Ausschau – wiedergesehen habe ich Kevin dann in dem Video im April und hierdurch erfuhr ich, dass er nach Rojava gegangen war. Ich erinnerte mich sofort an ihn und das Kulturfest und die Entschlossenheit in seinen Augen, die Entschlossenheit, sich den gegebenen Machtverhältnissen zu widersetzen, und die Hoffnung, die er aus der Utopie des demokratischen Konföderalismus und der Kraft der kurdischen Bewegung zog.
Als ich Anfang Juli davon erfuhr, dass Kevin gefallen ist, konnte ich es kaum fassen. Auch wenn wir uns kaum kannten, ging mir sein Tod sehr nah – Kevin ist der erste Genosse, den ich persönlich kannte, der im Kampf für Freiheit und Revolution gefallen ist. Der Tod von Şehîd Dilsoz ist ein großer Verlust für uns alle. Kevin steht stellvertretend für viele junge Genoss_innen in Deutschland, die neue Hoffnung und Mut aus der ideologischen Stärke und der revolutionären Kraft der kurdischen Bewegung schöpfen.
Lasst uns Ivana, Kevin und all die anderen Genoss_innen, die im Kampf für die Befreiung der Menschheit gestorben sind, niemals vergessen. Bahar bedeutet Frühling, ein Frühling, der neues Leben, neuen Aufbruch und neue Kraft bedeutet. Kevin, Dilsoz Bahar, und Ivana Hoffmann werden in unseren Kämpfen weiterleben. Şehîd namirin!
Ein Genosse aus Hamburg
... er hatte in Kurdistan gefunden, was er suchte: eine revolutionäre Organisation im Dienst der Bevölkerung ...
Heval Dilsoz war fröhlich und gut gelaunt, als ich ihn traf. Er hatte nicht viel Zeit, denn er wechselte sich in einer 12-Stunden-Schicht mit einem anderen Freund ab. »Dilsoz«, den Namen hatten in der Gegend schon viele gehört. Eigentlich war er zu der Zeit so etwas wie eine kleine Berühmtheit.
Er hatte nicht nur in kurzer Zeit hervorragend Kurdisch gelernt, sondern sein Kurdisch war so gut, dass er eine ganz besondere Aufgabe übernehmen konnte. Heval Dilsoz war als Funker verantwortlich für den zentralen Knotenpunkt einer großen Region mit vielen Funkstationen. Das bedeutet, er musste jeden ankommenden Funkspruch annehmen, korrekt verstehen und an eine andere Funkstation weitergeben. Da in Kurdistan verschiedene Dialekte und Mundarten gesprochen werden, ist das eine besonders anspruchsvolle Aufgabe, die Heval Dilsoz mit Bravour meisterte. Ich habe viele Leute sagen hören, dass es eigentlich unglaublich sei, dass ein Deutscher in so kurzer Zeit so gut Kurdisch sprechen könne.
Heval Dilsoz hat sich sehr für Geschichte interessiert, für die Geschichte des Mittleren Ostens genauso wie für europäische Geschichte. Aus Deutschland wollte er eine Reihe von Büchern geschickt bekommen, da hatte er eine ganze Liste vorbereitet. Einige davon hat er vielleicht noch bekommen.
Ich konnte Heval Dilsoz leider nur kurz treffen, wir haben nicht sehr viel Zeit miteinander verbringen können. Ich hätte ihn gerne besser kennengelernt, gerne mehr von ihm über seine persönliche Geschichte gehört. Nach Deutschland zog es ihn gar nicht zurück, er hatte in Kurdistan gefunden, was er suchte: eine revolutionäre Organisation im Dienst der Bevölkerung. Deutschland – das war für ihn einerseits schon ziemlich weit weg. Vieles hatte er hinter sich gelassen und wollte auch gar nicht viel daran zurückdenken. Andererseits sah er klar die Verbindung: Rassismus und Unterdrückung von Frauen hatte er auch in Deutschland erlebt und bekämpft.
Seine Aufgabe machte ihm Spaß, und er hatte noch viel vor. Natürlich wollte er gegen den IS kämpfen, alle wollten das. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass ihn der Hass auf den IS antrieb. Er verstand genau die politischen Zusammenhänge und wusste, worum es in Rojava geht. Er wollte sich am Aufbau einer freien Gesellschaft beteiligen. Heval Dilsoz starb im Kampf für Menschlichkeit und Befreiung von jeglicher Unterdrückung.
Ein Freund und Genosse
Adieu, mutiger Deutscher ...
In Til Temir habe ich fünf Tage mit Dilsoz in einem Schützengraben verbracht. Nachts war er für meine Sicherheit verantwortlich. Seine Disziplin und seine Entschlossenheit waren beeindruckend. Als wir uns verabschiedeten, sagte ich »Auf Wiedersehen«, er antwortete: »Man kann auch fallen.« Er ließ nicht erkennen, dass er sich davor scheute. Adieu, mutiger Deutscher.
Uygar Önder Simsek, Fotograf
Er strahlte eine starke Lebensfreude und Selbstzufriedenheit aus ...
Von Dilsoz habe ich zunächst viel gehört, bevor ich ihn selbst kennenlernen konnte. Er war vor mir an der Sprachschule, um Kurdisch zu lernen. Die Freunde haben mit Begeisterung von ihm erzählt. Seine Disziplin und Begabung im Lernen der kurdischen Sprache haben so beeindruckt, dass er für zahlreiche Menschen ein Vorbild wurde.
Als ich Dilsoz etwas später selber kennengelernt habe, war ich vor allem von seiner Klarheit begeistert. Er war ein feiner, sehr liebevoller Mensch mit Größe. Es war deutlich, dass es ihm gut ging in Kurdistan. Trotz seiner europäischen Sozialisation war er ein sehr sozialer Mensch, er genoss es, von anderen Menschen umgeben zu sein.
Mit seinem Anschluss an die kurdische Befreiungsbewegung konnte er auf eine Weise leben, die ihm gut gefiel und nach der er sich gesehnt hatte. Er hat sich viele Gedanken gemacht und hatte nun die Gelegenheit, diese zu teilen, zu diskutieren und sich weiterzubilden. Sich als junger Mensch mit seinen Kräften, Ideen und Überzeugungen in diese Welt einbringen zu können, erfüllte ihn. Als ich ihn traf, sprachen wir über sein neues und altes Leben. Er erinnerte sich an seine Familie, erzählte über seine Mutter und seine Geschwister. Er strahlte eine starke Lebensfreude und Selbstzufriedenheit aus. Es war deutlich, dass er das Leben unter den Genossen genoss. Für diese Freiheit und gegen Faschismus wollte er kämpfen und er war auch bereit, sein Leben für diese Freiheit zu opfern – er wollte nach Rojava gehen.
Eine Freundin und Weggefährtin
Die Revolution, deren unumstößlicher Teil er ist, wird Wirklichkeit ...
Heval Dilsoz und ich lernten uns übers Funken kennen. Eines Tages erzählte mir eine Genossin von einem anderen Internationalisten in den YPG. Als ich interessiert nachhakte, lächelte sie und fragte: »Willst du mit ihm sprechen?« Sie gab mir das Funkgerät, welches ich zögernd annahm – durfte ich es für ein Privatgespräch nutzen? Klar, sagte die Genossin. So machte ich Bekanntschaft mit Dilsoz. Unsere Gespräche waren nie lang. Meist ging es um triviale Sachen, wir fragten den anderen nach deutschen Büchern oder hinterließen einander Grüße an einem Checkpoint, den wir passierten. Wenn ich am Funkgerät mit meinem gebrochenen Kurdisch am Ende war, rief ich ihn und er half mir immer weiter. An Weihnachten funkte ich ihn an, um ihm Festtagsgrüße zu übermitteln. Ich glaube nicht, dass der Feiertag ihm wichtig war, aber er hat sich trotzdem gefreut. Unter den Genoss*innen genoss Dilsoz einen sehr guten Ruf. Er sprach ein makelloses Kurdisch, besser als manche, deren Muttersprache es war. Es wurde immer mit Respekt und Bewunderung von ihm gesprochen – obwohl er noch nicht lange in der Bewegung war, wurden ihm wichtige Aufgaben und viel Verantwortung übertragen.
Das erste Mal trafen wir uns im Frühling. Ganz Rojava leuchtete im satten Grün der Weizenhalme und im Rot und Gelb der Mohn- und Rapsblüten. Es ist immer seltsam, zum ersten Mal leibhaftig eine Person zu sehen, die man schon lange zu kennen geglaubt, sich jedoch ganz anders vorgestellt hatte. Mein erster Eindruck war der eines sehr aufgeweckten, charismatischen und zielstrebigen Menschen. Von da an sahen wir uns öfter, jedoch lag über jedem Treffen der Schatten des Krieges, sodass wir die wenigen Male, die wir uns länger unterhielten, hauptsächlich die Vorgänge an der Front im Sinn hatten. Dilsoz kommandierte damals eine Einheit internationaler Kämpfer, von denen sich einige ohne jegliche revolutionäre Überzeugung den YPG angeschlossen hatten und ihm viel Kopfzerbrechen bereiteten. Anfangs nahmen manche ihn nicht ernst, weil er noch jung war, oder warfen mit rassistischen und sexistischen Äußerungen um sich. Doch er ließ sich von solchen Problemen nicht beirren. Dilsoz konnte sich sehr wohl durchsetzen – wenn es nötig war. So erlangte er den Respekt von Männern, die älter waren als er und viele Jahre in westlichen Armeen gedient und gekämpft hatten.
Ich mochte Dilsoz gern. Ich hatte immer geglaubt, wir würden eines Tages Zeit haben, über andere Dinge als Kampf und Front zu reden. Sein Leben interessierte mich, seine Beweggründe, sich der Revolution anzuschließen. Ich erfuhr, dass er beim Oberkommando darum gebeten hatte, mich in seine Einheit zu versetzen. Auch wenn es nie dazu kam, bin ich ihm dankbar für dieses Vertrauen.
Im Juni erzählte mir jemand, er hätte sich entschlossen, die YPG zu verlassen und in den zivilen Strukturen der Gesellschaft Rojavas zu helfen. Daher konnte ich es nicht glauben, als ich in den Abendnachrichten sein Gesicht unter den Gefallenen sah. Zum ersten Mal erfuhr ich seinen bürgerlichen Namen, der mir unwirklich, seltsam vorkam. Kevin Jochim – ich habe nicht das Gefühl, ihn je kennengelernt zu haben. Der Mensch, den ich kannte, hieß Dilsoz Bahar. Er war ein Freiheitskämpfer, ein Revolutionär. Nichts kann den Schmerz seines Verlustes rechtfertigen. Und dennoch hat er in seinen 21 Jahren mehr erreicht als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. In diesem Moment arbeiten abertausende Genossinnen und Genossen, Freundinnen und Freunde an der Umsetzung seines Traums. Die Revolution, deren unumstößlicher Teil er ist, wird Wirklichkeit. Und solang noch ein Mensch an ihre Ideale glaubt, so lange wird er weiterleben.
Şehîd namirin!
Ein Genosse