Aktuelle Bewertung

Gesellschaftliche Organisierung jenseits von Machtstrukturen als Alternative zum kapitalistischen Staatssystem

Songül Karabulut


Zehntausende Menschen demonstrierten am 21. Jahrestag der Verschleppung von Abdullah Öcalan in Straßburg und forderten ein Ende der Isolation sowie die Freilassung des Friedenspolitikers. Foto: anfDas Jahr 2019 war gekennzeichnet von Kriegen und Widerständen, und schon jetzt ist klar, dass 2020 noch ereignisreicher werden wird.

Nur drei Tage nach Silvester wurde der Kommandant der iranischen Revolutionsgarde Qasem Soleimani in Bagdad durch die USA ermordet und Ende Januar veröffentlichte Trump seinen »Friedensplan des Jahrhunderts« für den Nahostkonflikt. Während die Türkei in Nordostsyrien weitere Gebiete besetzt und momentan um Idlib ringt, ließ Erdoğan am 2. Januar das Mandat für einen türkischen Militäreinsatz in Libyen durch das türkische Parlament absegnen und schickte Kämpfer, die in seinem Namen im Libyenkonflikt mitmischen. Nacheinander finden Libyenkonferenzen mal in Istanbul unter Putin und Erdoğan, dann in Berlin unter Merkel, dann in Genf unter UNO-Ausrichtung statt, alle ohne nennenswerte Erfolge. Das syrische Regime weitet seine Macht im Land aus und geht gegenwärtig trotz Widerstand und Kritik in Idlib gegen bewaffnete Milizen vor. Dabei kommt es zu militärischen Zusammenstößen zwischen der Türkei und dem syrischen Regime. Wendet sich das Blatt für die Türkei in Syrien endgültig?

Veränderung der Weltordnung

Zweifellos sind die Ereignisse nicht nur auf diejenigen im Mittleren Osten begrenzt, auch die Welt durchzieht ein Wirbelwind. In lateinamerikanischen Ländern häufen sich die Proteste gegen Polizeigewalt, soziale Ungleichheit, autokratische Führung und Manipulation sowie Korruption. Die EU verändert sich durch den Austritt Großbritanniens und EU-Staaten haben sowohl mit ökonomischen Krisen als auch mit dem Erstarken von rechten Parteien zu kämpfen. Klimaproteste und Frauenaufstände schmücken das Straßenbild. Die USA erklären China wirtschaftlich den Krieg, indem sie die eigene Tür vor der Konkurrenz versperren. Neben den politischen Entwicklungen bestimmen auch Naturereignisse und Krankheiten wie die Waldbrände in Australien oder der Coronavirus die Tagesordnung.

Es ist kaum möglich, die Entwicklungen anhand tagespolitischer Ereignisse zu erfassen, wenn die strategische Triebkraft hinter all diesen Veränderungen unberücksichtigt bleibt.

Bevor wir uns den aktuellen Entwicklungen widmen und sie einzuordnen versuchen, wäre es vielleicht sinnvoll, einige Eckpunkte in Erinnerung zu rufen:

Wir haben es mit einer Systemkrise zu tun und mit dem Versuch des kapitalistischen Systems, mit militärischen, politischen, ökonomischen und psychologischen Mitteln ein seinen Interessen entsprechendes neues politisches System zu errichten. Auch wenn die Neue Weltordnung mit der Neuordnung des Mittleren Ostens zementiert wird, so handelt es sich keineswegs nur um einen regionalen Konflikt. Die Veränderung der Weltordnung, angeführt von der Hegemonialmacht des Kapitalismus, den USA, in Form eines neuen Weltkriegs, des Dritten Weltkriegs, wird gegenwärtig mit voller Gewalt und Zerstörung in der Region ausgetragen. Dieses Vorhaben stößt auf Widerstand. So leisten z. B. die regionalen Nationalstaaten mit ihren Regimen, die im 20. Jahrhundert mit der Unterstützung des Westens an die Macht gebracht und dort gehalten wurden und heute für den Status quo eintreten, Widerstand, weil sie nun einer nach dem anderen entmachtet werden. Diese regionalen Regime haben in den Augen des Kapitalismus ihre Schuldigkeit getan und stellen nunmehr ein zu überwindendes Hindernis dar.

Dann gibt es die Bevölkerungs- und gesellschaftlichen Gruppen, die Massen, die sowohl unter dem Kapitalismus als auch unter ihren Regierungen ihres Atems beraubt wurden, unterdrückt und ausgebeutet werden, die jetzt für ihre Interessen und Rechte eintreten und die Straßen füllen.

Drang nach Machtakkumulation

Dass wir es mit einer Systemveränderung zu tun haben, macht sich nicht nur aufgrund der entmachteten Regime bemerkbar, sondern auch dadurch, dass alle internationalen Institutionen, Organisationen und »Werte« sowie politische und diplomatische Gepflogenheiten sich verändern und ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren. Seit dem Kosovokrieg 1999 haben die UN ein ernsthaftes Identitätsproblem, sie sind viel mehr Schein als Sein. Nicht klar definierbar ist auch die NATO, die eigentlich durch den Zerfall der UdSSR ihre Existenzgrundlage verloren hat. Nicht zufällig erklärte Macron sie für hirntot. Auch die EU steckt in einem Umwandlungsprozess, vor allem nach dem Austritt Großbritanniens. Wer spricht heute noch vom Kriegsrecht oder dem internationalen Völkerrecht? Das alles waren Institutionen und »Werte« des 20. Jahrhunderts. Diese Veränderungen werden auch bestehende Grenzen berühren und die Entstehung neuer Strukturen und Institutionen sowie Gepflogenheiten mit sich bringen.

Die kapitalistische Moderne mit ihrer 5000-jährigen Machtgeschichte veränderte sich und nahm neue ökonomische und politische Formen an, ohne ihren grundsätzlichen Charakter wirklich zu ändern. Als die Form der »Führung« an ihre Grenzen stieß, wurden Restaurationen vorgenommen, um ihre Lebenszeit verlängern zu können. Unverändert bleibt der Drang nach Machtakkumulation, was wiederum Ausbeutung und Unterdrückung bedeutet. Jedes Mal, wenn sie an ihre Grenzen gelangt – wie es seit einigen Jahrzehnten erneut der Fall ist –, versucht sie durch Reorganisation ihre Schale abzulegen, wie eine Schlange, die sich häutet. Die Erschließung neuer Gebiete, Rohstoffe, Arbeitskraftreservoire, technischer Neuerungen dient zur Gewährleistung des Akkumulationszwangs. Das wiederum bedeutet mehr Ausbeutung, mehr Unterdrückung, mehr Krise und Chaos, Krieg, Armut, Flucht, Umweltzerstörung. Diese Situation ist vergleichbar mit dem Schneeballeffekt – der wird beim Rollen im Schnee immer größer und unberechenbarer. Der Druck auf die Menschen und auf die Umwelt wird immer unerträglicher und stärker. Wir stecken gegenwärtig in dieser Phase, in der die kapitalistische Moderne die Welt gemäß den eigenen Interessen neu zu ordnen versucht.

Gesellschaftliche Organisierung jenseits von Machtstrukturen

Gegen das System der kapitalistischen Moderne gibt es nur einen wahren Gegner und eine wahre Alternative. Und zwar die gesellschaftliche Organisierung jenseits von Machtstrukturen, mit ihrer eigenen ungeschriebenen Ethik, mit ihren eigenen Organisierungsstrukturen, mit ihren eigenen Werten, ihrer Kollektivität und Solidarität. Den Kern dieser Gesellschaftlichkeit vertritt in erster Linie die Gruppe der Frauen. Die kapitalistische Moderne wurde auf der Grundlage der Unterwerfung des Frauengeschlechts errichtet und ist seitdem strukturell patriarchal. Die Frauen sind am stärksten von diesem Machtsystem ausgegrenzt und ausgebeutet. Dann gibt es noch die infolge dieses Machtsystems entrechteten und unterdrückten Volksgruppen, die das aber nicht hinnehmen, wie z. B. das kurdische oder das palästinensische Volk. Jede organisierte Kraft, die das System infrage stellt, ist strategische Gegnerin der kapitalistischen Moderne. Vor diesem Hintergrund können wir sagen, dass strategische Gegnerin der kapitalistischen Moderne die ethisch-politische Gesellschaft ist, darin in erster Linie die Frauen. Die Gesellschaftlichkeit ist im Mittleren Osten noch immer stark, trotzt den Einflüssen des Kapitalismus mit seiner liberalen Ideologie. Dass der Dritte Weltkrieg im Mittleren Osten entfacht wurde, ist vor diesem Hintergrund kein Zufall. Die Gesellschaftlichkeit des Mittleren Ostens ist eines der Hauptangriffsziele dieses Krieges. Eine Neue Weltordnung auf dem Boden der totalen Eroberung der Region durch den Kapitalismus kann nur erfolgen, wenn die Gesellschaftlichkeit zerschlagen ist und die Region mitsamt ihren Menschen und Idealen sowie materiellen Ressourcen der Ausbeutung zur Verfügung steht. Es ist ein Krieg der materiellen Zivilisation des Westens gegen die moralische Zivilisation des Ostens. Der AKP kommt hier die Rolle des trojanischen Pferdes zu. Dazu gleich mehr. Vor diesem Hintergrund können wir sagen, dass der gegenwärtige Dritte Weltkrieg strategisch gesehen zwischen der kapitalistischen Moderne und der demokratischen Moderne (den ethisch-politischen Gesellschaften) stattfindet.

In diesem Krieg wird zudem ein Kampf um die Hegemonie geführt, was wiederum als Machtkampf unter den Kräften der kapitalistischen Moderne gewertet werden kann. Die USA versuchen sich als Hegemonialmacht zu behaupten, während andere Mächte ihren Einfluss und ihre Macht ausweiten und mit den USA konkurrieren wollen. Russland und China sind hier zu erwähnen. Auch Regionalstaaten ringen um die regionale Hegemonie, wie z. B. die Türkei oder Iran. Während alle Staaten der kapitalistischen Moderne gegen die strategische Gegnerin, die demokratische Moderne, das System verteidigen, kämpfen sie in der Frage von Macht und Einfluss gegeneinander. So ist ersichtlich, dass die Staaten sowohl gegeneinander kämpfen als auch miteinander agieren.

Die Staaten müssen sowohl auf globaler Ebene militärisch, politisch, ökonomisch agieren als auch innenpolitisch die eigene Bevölkerung im Zaum halten.

Die Staaten versuchen die Reaktionen der eigenen Bevölkerung, die von der Krise militärisch, politisch, wirtschaftlich und psychologisch betroffen ist, zu kontrollieren. Einige versuchen es mit diktatorisch-faschistischer Führung und mit Gewalt und Autorität, andere durch ideologisches Gift wie Nationalismus, Sexismus oder religiösen Fanatismus, und noch beliebter und verbreiteter wie in Europa und Lateinamerika ist es, mit dem Aufkommen rechtspopulistisch-faschistischer Parteien die Bevölkerung dazu zu bringen, das alte System zu verteidigen (die »Wahl zwischen Pest und Cholera«), anstatt sich gänzlich vom System abzuwenden und nach Alternativen zu suchen.

Eine kurze Chronologie des Dritten Weltkriegs

Ein erstes Anzeichen für den Dritten Weltkrieg nach dem Zerfall des Realsozialismus war 1990 der Golfkrieg. Nach der militärischen Intervention Saddam Husseins in Kuwait begannen die USA mit der militärischen Einmischung ihre Vorbereitungen zu treffen. Saddams Einfluss wurde auf Bagdad begrenzt und es wurden die Grundsteine für die Dreiteilung Iraks gelegt. Mit dem Oslo-Friedensprozess 1993 wurde der palästinensische Widerstand geschwächt. Und letztlich wurde mit der Unterstützung Tansu Çillers [türkische Ministerpräsidentin 1993-1996] der totale Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung PKK begonnen mit dem Ziel, sie im Keim zu ersticken und zu verhindern, dass sie sich Richtung Südkurdistan (Nordirak) ausweitet. Saddam hätte ohne Weiteres 1990 entmachtet werden können, aber die Bedingungen waren noch nicht reif, so dass damit gewartet wurde, bis es so weit war. Ohne diese Vorkehrungen hätte eine Entmachtung Saddams 1990 dazu führen können, dass das Machtvakuum von aktiv kämpfenden Völkern ausgefüllt worden wäre. Während der Vorbereitungen für einen aktiven Eingriff in den Mittleren Osten wurden zeitgleich auch der Balkan, der Kaukasus, Afrika, Asien und Lateinamerika, die angelehnt an den Realsozialismus gegen den globalen Kapitalismus eingestellt waren, ins System zu integrieren versucht.

Die zweite Phase begann mit den Anschlägen vom 11. September 2001. Sie wurden dazu benutzt, militärisch gegen Afghanistan (Taliban) und Irak (Saddam Hussein) vorzugehen. Die Handlungskraft der PKK wurde mit dem internationalen Komplott 1998 und später durch die Spaltungsversuche 2003 ziemlich minimiert, so dass sie als »ungefährlich« galt, als Irak zerfiel. An ihrer Stelle wurde in Nordirak mit systemkonformen Kurden quasi ein »Kurdenstaat« gegründet.

Die dritte Phase begann 2010 mit dem sogenannten Arabischen Frühling. Tunesien, Ägypten, Jemen, Libyen und zuletzt Syrien – die Volksaufstände wurden dazu benutzt, die Bürgerkriegsländer zu steuern, um die Veränderung nach eigenen Interessen zu gestalten.

Als vierte Phase können wir die Zeit nach der Befreiung Raqqas, d. h. nach dem Sieg über Daesch (den »Islamischen Staat«, IS) nennen. Die USA versuchten die Errungenschaften des Kampfes gegen den IS für sich zu reklamieren und adressierten neue Gegner. Das sind jetzt zweifellos Iran und die Kurden, die nach den Paradigmen Abdullah Öcalans handeln. Sehen wir uns kurz in Stichpunkten an, was nach Raqqa passiert ist: Kerkûk, Besetzung Efrîns, Serê Kaniyê, Girê Spî, Angriffe auf al-Haschd asch-Schaabi, 2018 Embargo gegen Iran, bürgerkriegsähnliche Entwicklungen in Irak und Iran, US-Kopfgeld auf drei hochrangige PKK-Führungsmitglieder.

Die USA wollen verhindern, dass die PKK den Krieg zwischen den USA und Iran zur Erweiterung ihres Einflusses und ihrer Stärkung nutzt wie damals beim Angriff auf Irak. Daher ist eine Zunahme der Angriffe zu erwarten.

Das ist auch der Grund, warum die Türkei trotz Differenzen unterstützt wird. Sie wird so lange unterstützt werden, wie eine Keule gegen die Kurden benötigt wird.

Stellvertreterkrieg in Syrien und Irak

Nach diesen Grundkonstanten und dem kurzen historischen Background widmen wir uns nun den politischen Entwicklungen und versuchen sie einzuordnen.

Nach den Anschlägen am 11. September 2001 erklärte der damalige US-Präsident Bush u. a. Iran zur »Achse des Bösen« gehörig. 2017 unterstrich Trump das erneut und verstärkte 2018 die Sanktionen. Iran hat seinen Einfluss in Irak und Syrien sehr ausgeweitet. Die von ihm ins Leben gerufenen Haschd-asch-Schaabi-Kräfte sind aktiv und wirksam. Daher läuft seit längerem der Krieg zwischen den USA und Iran in Form eines Stellvertreterkriegs in Syrien und Irak.

Das änderte sich damit, dass am 3. Januar auf Trumps Befehl der Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden Qasem Soleimani am Bagdader Flughafen mit einer US-Rakete getötet wurde. Soleimani hatte die iranischen Auslandseinsätze in der Region koordiniert. Iran konnte seinen Einfluss in Syrien und Irak ausweiten. Zuvor war der Krieg zwischen den USA und Iran konkret im Irak zu beobachten gewesen. Während der Druck zunahm, die irannahe Regierung zum Rücktritt zu bewegen, setzte Iran schiitische Kräfte im Land gegen die USA ein und forderte deren Abzug. Über Monate hinweg hielten in Bagdad und anderen Gebieten (überwiegend schiitischen Städten) Massenaufstände an und es kam zu Angriffen auf die US-Botschaft in Bagdad [siehe dazu das Interview mit Sait Ervan in der letzten Ausgabe]. Wenn auch nach dem Anschlag auf Soleimani die erwartete militärische Eskalation zwischen den USA und Iran ausblieb, heißt das in keinster Weise, dass der Konflikt beigelegt wäre. Die Lunte ist entzündet. Angesichts der Äußerungen auf beiden Seiten können wir sagen, dass beide einen direkten Krieg verhindern wollen. Iran reagierte auf die Ermordung mit Vergeltungsdrohungen und nicht mit der Entfesselung des offenen Krieges. Es scheint, dass die USA Irans Einfluss in der Region zu brechen versuchen werden, ihn eindämmen wollen, so dass er keine Bedrohung mehr für Israel darstellt. Vor diesem Hintergrund werden sie ihre Aktivitäten von Syrien mehr in Richtung Irak verlagern. Iran soll auf sein Kernland begrenzt und zu Zugeständnissen bewegt werden. Vor diesem Hintergrund sind in der Region von beiden Seiten militärische Aktivitäten gegeneinander außerhalb Irans und der USA zu erwarten. Des Weiteren werden die USA wirtschaftlich und psychologisch gegen Iran agieren.

Zwar hat dieser Anschlag Iran nach außen geschadet, innenpolitisch aber eher genützt. Der bestehende und aktive Unmut der Bevölkerung gegen das Regime konnte mithilfe des US-Angriffs mit »Feindrhetorik und Nationalismus« zum Schweigen gebracht werden. Aber lange kann sich Iran den legitimen Forderungen der Bevölkerung nicht verschließen. Er könnte einer Intervention von außen entkommen, wenn er sich ernsthaft mit den Problemen befasst, wenn er unter Einbeziehung der unterschiedlichen ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen sowie der Frauen nachhaltige Lösungen entwickelt. Aber wie bei allen anderen Herrschenden ist diese Option unwahrscheinlich. Entweder wird das Land mit begrenzter Gewalt, ökonomischem und politischem Druck durch Zugeständnisse in das System der Neuen Weltordnung integriert oder ebenfalls mit einem direkten Krieg konfrontiert werden.

Iran hat sich bislang erfolgreich aus dem Brennpunkt halten können, indem er Konfrontationen außerhalb des Landes ausgetragen hat. Das ist auch der Grund, warum er erneut in Idlib aktiv ist und sich in der Idlib-Frage als Vermittler zwischen der Türkei und dem syrischen Regime angeboten hat. Iran hat kein Interesse daran, dass solche Konflikte beigelegt sind.

Iran und die Türkei rivalisieren um die regionale Hegemonie. Während Iran seine Macht auf die schiitische Präsenz stützt, setzt die Türkei auf die sunnitische. Trotz historischer tiefer Differenzen haben beide des Öfteren bewiesen, dass sie diese ignorieren können, wenn es um die Bekämpfung der Kurden geht.

Die Entwicklungen in Irak werden sich an die iranische Politik anlehnen. Die Proteste halten an und eine Lösung scheint nicht in Sicht. Durch den US-Anschlag wurden die schiitischen Kräfte in Irak in Unruhe versetzt und die südkurdischen politischen Kräfte wollen weder die USA noch Iran gegen sich aufbringen. Sie haben Angst, vor die Wahl gestellt zu werden. Sie setzten daher auf eine ausbalancierte Politik. Aber dass Iran für seine Vergeltung US-Stützpunkte in Hewlêr ausgesucht hat, zeigt, dass es nicht einfach sein wird. Außerdem besagen Gerüchte, die Demokratische Partei Kurdistans PDK sei in den Tod Soleimanis verwickelt; diese Ungewissheit kann neue Krisen provozieren.

Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass die Türkei im Zuge ihrer neoosmanischen Hegemonialpolitik ein militärisches Besatzungsabenteuer in Südkurdistan beginnt. Entgegen anderslautenden Äußerungen Nêçîrvan Barzanîs (des Präsidenten der Autonomen Region), der den Besatzungskrieg der Türkei in Rojava mit derselben Argumentation wie die Türkei selbst legitimierte, hat die Bevölkerung die von der Türkei ausgehende Gefahr als gegen alle Kurden gerichtet wahrgenommen. Viele Menschen äußerten, die Türkei würde sich nach einem Erfolg in Syrien Irak zuwenden und ihr Territorium besetzen. Das Misstrauen der Bevölkerung wird in Form von Protesten und Kampagnen gegen die Türkei immer sichtbarer. So wurde zum ersten Mal in Südkurdistan ein sehr effektiver Boykott gegen türkische Waren durchgeführt. Neben dem wirtschaftlichen Schaden für die Türkei hat sie eine darüber hinausreichende Bedeutung.

Die Ausbeutung Libyens und die Türkei

Ein weiterer ungelöster und sich immer weiter verschärfender Konfliktherd ist Libyen. Am 18. März 2011 wurde das Land von den USA, Frankreich und Großbritannien nach UN-Sicherheitsratsbeschluss aus der Luft angegriffen. Am 22. August 2011 schließlich wurde Muammar al-Gaddafi entmachtet und seitdem befindet sich das Land im Bürgerkrieg. Nach den Wahlen 2014 ist es zwischen den Truppen und Milizen der Übergangsregierung von Fayiz as-Sarradsch (GNA) und des Militärmachthabers Ostlibyens, Chalifa Haftar, quasi zweigeteilt.

In dem relativ kleinen Land mit einer Bevölkerungszahl von sechseinhalb Millionen wird wegen seines Ölreichtums ebenfalls ein Stellvertreterkrieg ums Öl geführt. Während die Regierung unter as-Sarradsch die Unterstützung der Türkei, Katars, der EU und der UN genießt, wird Haftar von Ägypten, Russland, Saudi-Arabien, den USA, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Frankreich unterstützt. Wie in Syrien sind es die regionalen und internationalen Mächte, die dort Krieg führen.

Am 2. Januar stimmte das türkische Parlament für die Entsendung türkischer Soldaten nach Libyen, um der Regierung in Tripolis zu helfen. In Wahrheit geht es um die dschihadistischen Gruppen, die in Nordsyrien gegen die Kurden eingesetzte al-Qaida und Daesch-Überreste. Wie in Syrien ist die Türkei eines der ersten Länder, die militärisch in einem anderen Land mitmischen und Partei ergreifen. Erdoğan hatte zuvor mit der Regierung am 27. November ein »Sicherheits- und Militärabkommen« abgeschlossen. Die libysche Seite räumte türkischen Kräften im Rahmen einer Sicherheitskooperation zugleich das Recht ein, auch im libyschen Teil des Mittelmeers präsent zu sein. Der türkische Präsident dazu: »Alle Projekte, die das Ziel hatten, die Türkei im Mittelmeer nicht mitreden zu lassen und sie auszugrenzen, sind durch unsere jüngsten Schritte zerschlagen worden. Durch die geplante Unterstützung der legitimen libyschen Regierung in Tripolis werden wir erreichen, dass die Vereinbarungen mit all ihren Komponenten umgesetzt werden.«

Die Türkei unterstützt mit ihrer Parteilichkeit für as-Sarradsch die Gegenseite der von Russland unterstützten Partei. Russland seinerseits ist mit der Sicherheitsfirma Wagner in Libyen militärisch präsent. Das könnte die in Idlib ohnehin angespannte Beziehung zu Russland noch weiter belasten. Die Türkei hat neben ihrer militärischen Präsenz auch mit Russland die politische Initiative zu ergreifen versucht, um einen Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien auszuhandeln und ein Vorrücken von Haftars Truppen in Richtung Tripolis zu verhindern. Das Treffen hatte keinen Erfolg, so dass sich die Konfliktparteien mit ihren Unterstützerstaaten zu einer breiten Libyenkonferenz in Berlin nur eine Woche später entschlossen, auf der sich zu einer Waffenruhe, einem Waffenembargo und dem Abzug aller ausländischen Kampfverbände entschieden wurde. Auch diese Konferenz blieb größtenteils ohne Folgen. Die Waffenruhe wurde nicht eingehalten, Länder wie die Türkei hielten sich nicht an das Embargo und verstärken ihre Militärpräsenz. Gegenwärtig versuchen die Vereinten Nationen über einen Waffenstillstand zu verhandeln.

Viele Beobachter sind sich einig, dass die Türkei in Libyen gefährlich pokert. Die Sorge, sich bietende Chancen nicht rechtzeitig zu ergreifen, führt zu übereilten Reaktionen, die sich dann nachteilig auswirken könnten. Zu erwähnen wären hier Syrien, Ägypten und jetzt Libyen.

Die Türkei und die AKP

Wie schon des Öfteren unterstrichen, wurde Erdoğans Partei, die AKP, als »liberal-islamisches Modell« für die Region im Rahmen des Projekts Großraum Mittlerer Osten unterstützt und entwickelt. Die USA wandten sich von ihrer bis dahin strategischen Bündnispartnerin, der kemalistischen Elite, ab und entschlossen sich, auf eine islamische Karte zu setzen.

Die AKP wurde von den USA, der EU und den arabischen Ländern regelrecht auf die politische Bühne geschoben und als islamischer Hort der Freiheiten, der Demokratie, des Wohlstands und der Rechtsstaatlichkeit propagiert. Alle Möglichkeiten des Systems wurden ihr eröffnet. Sie übernahm den Vorsitz in internationalen Institutionen, wurde zu den wichtigsten Treffen und politischen Veranstaltungen eingeladen und vorgeführt. Das ging so weit, dass Erdoğan als Retter arabischer Staaten gefeiert wurde.

Während sich die AKP auf der einen Seite dem US-Projekt des liberalen Islams entsprechend präsentierte, erfuhr sie andererseits die Unterstützung des kolonialfaschistischen türkischen Staates aufgrund ihrer Zusage, die kurdische Frage zu eliminieren. Sie nutzte die Vorzüge dieser Unterstützung, um ihre Macht innerhalb der Türkei zu konsolidieren und den Staat zu unterwandern. Das ist ihr in den letzten Jahren gelungen. Sie hat ihre Macht in faschistischer Manier ausgeweitet.

Die Widersprüche des US-EU-arabischen »Paktes« mit der AKP begannen sich mit der Syrienpolitik zu offenbaren und wurden seitdem immer deutlicher.

Die Türkei verfolgt ihre Hegemonialpolitik und erhebt in diesem Zusammenhang Ansprüche auf Gebiete, die sie nach dem Ersten Weltkrieg hatte abgeben müssen. Die beanspruchten Territorien umfassen westliche und östliche Schwarzmeergebiete, Zypern, Thessaloniki, Sofia, Batumi und Nachitschewan sowie Mûsil, Kerkûk, Hewlêr, Silêmanî, Aleppo bis an die Grenze zu Iran.

Erdoğan hat begonnen, den Vertrag von Lausanne als Verrat zu bezeichnen, und will mit der Besetzung dieser Gebiete zum hundertsten Jahrestag der Republikgründung seine Hegemonie in der Region verankern sowie sich im Jahre 2071 zum tausendsten Jahrestag der Landnahme Anatoliens als wichtige Kraft in der Region beweisen.

Vor diesem Hintergrund müssen seine Besatzungskriege in Rojava und seine militärische, ökonomische und politische Präsenz in Südkurdistan sowie seine Libyen-Politik betrachtet werden.

Die kurdenfeindliche Haltung der AKP in ihrer Syrienpolitik hat ihre Beziehungen zu den USA so weit geschädigt, dass sie eine Hundertachtziggradwendung vornahm und sich dem russisch dominierten Lager zuwandte. Russland ist es gelungen, die Türkei als einen NATO-Staat gegen ihre eigenen Bündnispartner zu positionieren, was zudem durch den Verkauf von S-400-Raketen erhärtet wurde. Aber auch dieses kurzfristige AKP-russische Bündnis scheint aktuell in Idlib und womöglich auch in Libyen an seine Grenzen gestoßen zu sein.

Idlib – ein Wendepunkt?

Die Stadt Idlib befindet sich seit März 2015 in den Händen der Rebellengruppen. Neben der Al-Nusra-Nachfolgeorganisation Haiat Tahrir asch-Scham (Komitee zur Befreiung der Levante) gehören dazu auch islamistische Gruppen wie Failak al-Scham oder Ahrar al-Scham.

ie Bedingungen für die Einbeziehung des türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan in die Moskauer Erklärung (Dezember 2016), die Astana-Erklärung (Januar 2017), die Deeskalationsabkommen im Mai 2017 und den Sotschi-Konsens (September 2018) durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin waren von Anfang an offensichtlich.

Bei jeder Erklärung wurde auf den Kampf gegen den Terrorismus sowie auf die territoriale Integrität Syriens hingewiesen. Die Türkei übernahm die Koordination, bewaffnete Gruppen aus dem östlichen Aleppo, Daraa, Ost-Ghuta, Qunaitra nach Idlib zu transportieren. Warum? Um weiterhin am Tisch sitzen und Mitspracherecht haben zu können, um mitspielen und mitmischen zu können, um bewaffnete Auseinandersetzungen in der Hinterhand halten zu können und, das Allerwichtigste, um eine gegen die Kurden einsetzbare Trumpfkarte in der Hand zu haben.

Die Roadmap aus der Vereinbarung von Sotschi vom 17. September 2018 sah vor, eine entmilitarisierte Zone in Idlib in einer Breite von fünfzehn Kilometern bis zum 10. Oktober 2018 von schweren Waffen zu befreien, bis zum 15. Oktober sollten alle bewaffneten Gruppen die Möglichkeit haben, die Region zu verlassen. In diesem Rahmen hatte sich die Türkei als Schutzmacht der »Opposition« in Idlib positioniert und die Aufgabe übernommen, die Dschihadisten in der Region in »Gemäßigte« und »Radikale« aufzuteilen; bis zum 31. Dezember 2018 sollten die Schnellstraßen M4 und M5 geöffnet werden. Im Rahmen dieses Abkommens unterhält die Türkei zwölf Beobachtungsposten in Idlib und Russland dreizehn.

Nachdem es der Türkei nicht gelungen war (bzw. sie nicht gewollt hatte), die Gruppen entsprechend der Idlib-Vereinbarung zu entwaffnen, begannen Assad-Truppen mit russischer Luftunterstützung, Idlib militärisch anzugreifen und die Stadt zurückzuerobern. Dabei sind russische und türkische Truppen aneinandergeraten. Es kam zu Verlusten auf beiden Seiten. Auch wenn Russland keine Verantwortung für den Angriff auf türkische Soldaten übernimmt und es dem syrischen Regime allein zuschreibt, glaubt niemand ernsthaft, dass es ohne das Wissen Russlands geschah. Die Türkei sah sich gezwungen – um ihr Gesicht zu wahren – zu erklären, dass dieser Vorfall vom Regime verursacht worden sei und sie daher keinen Anlass sehe, gegen Russland vorzugehen.

Die Pläne der Türkei und der USA im Hinblick auf Idlib decken sich. Erdoğan will den Status quo hier beibehalten, denn er weiß, wenn die Front in Idlib geschlossen ist, dann sind die von ihr eingenommenen Gebiete (durch Operation Olivenzweig, Operation Schutzschild Euphrat und zuletzt Operation Friedensbrunnen) an der Reihe. Er will nicht eher aufgeben, bis nicht alle Früchte aus den Astana-Sotschi-Treffen eingesammelt sind. Die USA hingegen wollen ebenfalls Idlib aufrechterhalten, als blutende Wunde, an der sich das syrische Regime abarbeitet. Sollte Idlib auf irgendeine Weise abgeschlossen sein, befürchten sie ebenfalls, dass ihre militärische Präsenz auf die Tagesordnung kommen wird.

Die USA geben als Grund für ihre Präsenz in Syrien den iranischen Einfluss an, ebenso begründet Israel seine Angriffe in Syrien. Vor diesem Hintergrund hatte sich Iran auch auf den Ratschlag Moskaus hin etwas zurückgehalten. Aber nach der Ermordung Qasem Soleimanis interveniert Iran erneut in Idlib und spricht davon, aus Rache die USA aus Irak und Syrien zu verjagen.

Es ist natürlich kein Zufall, dass die Türkei bei ihrer Idlib-Politik von den USA unterstützt wird und dass Erdoğan am 6. Februar die ukrainische Stadt Kiew besuchte und hier die Soldaten mit »Ruhm der Ukraine« begrüßte, die wiederum mit »Ruhm den Helden!« antworteten. Diese Show wird als Provokation und Vergeltung angesehen für die in Idlib getöteten acht türkischen Soldaten. Das könnte auch den Beginn des Endes der russisch-türkischen Beziehungen bedeuten. Es scheint, dass die Widersprüche zwischen dem Russland-Lager und der Türkei nicht mehr zuzukleistern sind. Das kurzfristige Bündnis scheint ausgedient zu haben. Die Türkei könnte sich erneut ihrer strategischen Bündnispartnerin USA zuwenden.

Die Innenpolitik der Türkei

Ein erneuter Kurswechsel in seiner Bündnispolitik würde auch Auswirkungen auf die Innenpolitik haben. Sowohl Russland (Eurasien) als auch die USA (Westen) korrespondieren mit entsprechenden Kräften in der Türkei. Es bleibt abzuwarten, aber die aktuelle Polemik zwischen dem ehemaligen Generalstabschef Ilker Başbuğ und Erdoğan könnte ebenfalls als Anzeichen dafür gewertet werden.
Sowie die Ergenekon-Leute mit der Annäherung an Russland »begnadigt« wurden, kann eine Annäherung an Fethullah Gülen zu erwarten sein.

Während die AKP fester als je zuvor an ihrem Sessel klebt, ist ihr Rückhalt in der Bevölkerung umso schwächer. Sie verliert kontinuierlich an Unterstützung. Das Land ist gespalten, wirtschaftlich und moralisch auf dem niedrigsten Niveau.

In der Türkei ist weiterhin jeder ein Terrorist, der Erdoğans Politik nicht mitträgt. Die Kurden sind seit eh und je die Hauptterroristen des Landes. Die AKP sorgt mit Unterstützung des kapitalistischen Systems dafür, dass ihnen kein Artikulationsfeld bleibt. Die Totalisolation des kurdischen Volksvertreters Abdullah Öcalan hält weiterhin an. Nur kurzzeitig während des Todesfastens durften ihn seine Anwälte im Mai besuchen (nach acht Jahren). Öcalan rief die Hungerstreikenden auf, ihr Todesfasten zu beenden. Auf seine Initiative hin wurde es im Mai beendet und seit August sind die Gespräche auf Imralı erneut verboten.

Die ehemaligen Ko-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, sitzen weiterhin im Gefängnis. Die AKP-Regierung setzt weiterhin HDP-Bürgermeister ab und ernennt Zwangsverwalter, inzwischen 24, und Dutzende Bürgermeister sitzen gegenwärtig in Haft. Die Militäroperationen gegen die kurdische Guerilla sowohl im Inland als auch in Südkurdistan halten unvermindert an. Hochtechnisiert werden Anschläge verübt und die Bewegungsfähigkeit der Guerilla wird einzugrenzen versucht. Der Kampf gegen den kurdischen Befreiungskampf als einen der strategischen Gegner der kapitalistischen Moderne wird mit internationaler Unterstützung geführt. Trotz der Gerichtsentscheidung aus Brüssel, die PKK sei keine terroristische Organisation, bekundete z. B. die belgische Regierung, dass sich nichts ändern werde. Das heißt, es wurde erneut bestätigt, dass es sich bei der Terroreinstufung und dem Verbot um eine politische Entscheidung handelt und keine juristische.

Die USA und Russland ermöglichen der Türkei, die kurdisch verwalteten Gebiete zu besetzen und dort »Flüchtlinge« anzusiedeln. In Nordostsyrien wird mit Unterstützung der USA, Deutschlands, der UN u. a. m. eine demografische Säuberung vollzogen.

Türkei wird weiter an der Macht bleiben, weil kapitalistische Moderne sie braucht

Die AKP dient als Schlagstock gegen die Kurden und sie wird gegen Iran von Nutzen sein. Die Diskussion über eine Spaltung steht schon länger auf der Tagesordnung. Wenn der Unmut in der Bevölkerung groß war, wurde sofort eine angebliche neue Partei propagiert und bei den Menschen wurden Erwartungen geweckt. Vor diesem Hintergrund, denke ich, sollte diese neue »Zukunftspartei« (Gelecek Partisi) unter Ex-Premier Davutoğlu die Macht Erdoğans weiter sichern. Es ist eine Vorsichtsmaßnahme, um die Wähler unter Kontrolle zu behalten. Die etablierten Parteien haben ihren Kredit verbraucht, daher wird das System für seinen Weiterbestand neue Parteien ins Feld schicken. Neben den neuen Parteien aus der AKP-Ecke wird es möglicherweise auch bei Mitte und Links Neugründungen geben.

Das Land wird seit Jahren unter Hochspannung regiert. Krieg, Wahlen, Polarisierung, Militarisierung. Die Probleme im Land werden nicht gelöst, sondern angehäuft und die Bevölkerung wird mit Gewalt und nationalistischen Gefühlen kontrolliert. Ein wichtiger Teil der »Liberalen« verlässt das Land, ein Teil hat sich zurückgezogen und ein Teil degeneriert. Frauenmorde haben dramatisch zugenommen, junge Frauen verschwinden.

Mit der bestehenden nationalistischen, militaristischen, autokratischen, kurden- und frauenfeindlichen Politik der AKP macht sich eine gefährliche soziale Hoffnungslosigkeit breit. Entgegen der propagierten wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte der AKP können die Menschen nicht mehr ihren Alltag sichern. Eine neue Entwicklung erschüttert das Land emotional: Menschen nehmen sich das Leben, weil sie nicht mehr in der Lage sind, ökonomisch zu überleben. Im November 2019 nahmen sich vier Geschwister kollektiv das Leben, einige Tage später schreckten Nachrichten über weitere Selbsttötungen auf, diesmal aus Antalya. Ein Vater vergiftete sich, seine Ehefrau und die neun und fünf Jahre alten Kinder. Er hinterließ einen Brief voller Ausweglosigkeit und Verzweiflung. Zuletzt hat sich ein Mann in Hatay vor dem Gouverneur angezündet und dabei gerufen: »Ich kann meine Kinder nicht mehr ernähren.«

Nach einem Bericht der stellvertretenden Vorsitzenden der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Gamze Akkuş İlgezdi, nahmen sich im Jahre 2017 233 Menschen aus wirtschaftlichen Gründen das Leben.

Die Arbeitslosigkeit liegt bei 13,4 % (Stand Dezember 2019) und die Jugendarbeitslosigkeit bei 26,7 % (April 2019).

Wie die türkischen Statistikbehörden verlautbarten, betrug die Inflationsrate im Januar 12,15 % gegenüber dem Vorjahresmonat. Die Teuerungsrate stieg damit um 1,35 % gegenüber dem Vormonat.
Es gibt nichts Schlimmeres für ein Land, als dass seine Bevölkerung kein Licht am Ende des Tunnels sieht. Die AKP ist verantwortlich für diese Resignation, weil sie sich wie eine Zwangsjacke auf das Leben der Menschen auswirkt.

Fazit

Wie bereits oben erwähnt, sind die strategischen Gegner der kapitalistischen Moderne Frauen und organisierte Bevölkerungsgruppen. Vor diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, dass die Angriffe auf Frauen während der dreißigjährigen Umbruchphase zugenommen haben und sich die Lage immer mehr verschlechtert. Die dschihadistischen Terrorgruppen wie Daesch, al-Nusra, Boko Haram und wie sie sonst noch heißen haben in erster Linie Frauen angegriffen und sie zu Sexualobjekten des Mannes reduziert. Diese Extremform fand aber ihre Projektionen in unterschiedlichen Staaten wieder. Vor allem für die Frauen hat sich unter der AKP alles zum Negativen entwickelt. Der Faschismus des Patriarchats nimmt ungezügelt seinen freien Lauf. So sieht es momentan in der Türkei aus. Eine Zunahme der Fallzahlen von verschleppten, vergewaltigten und ermordeten Frauen ist hier zu beobachten. Die Politik ist Patriarchat und die Gesellschaft wird frauenfeindlicher. Überall auf der Welt ist eine Verschlechterung für die Rechte der Frauen erkennbar. Das hat unmittelbar mit dem System zu tun. Das letzte Jahr war geprägt von weltweiten Massenprotesten von Frauen als Reaktion auf diese gefährliche Entwicklung. Auch sehen wir, dass die Angriffe auf die kurdische Befreiungsbewegung oder ähnliche gesellschaftliche Bewegungen zugenommen haben. Mit aller Gewalt soll verhindert werden, dass eine Alternative jenseits ihres Systems entsteht.

Aber die kapitalistische Moderne war zu keiner Zeit dermaßen demaskiert. Die Menschen erkennen, dass dieses System die Ursache für all die Probleme ist und nicht imstande, Lösungen zu entwickeln. Die Suche nach einer Lösung bzw. einer Alternative wird intensiver. Frauen werden in diesem Jahrhundert eine führende Rolle spielen und das Feld nicht nur dem Patriarchat überlassen. Auch stellt der »dritte Weg« der kurdischen Bewegung eine reelle Alternative zum System dar. Die Rückschläge in Rojava bedeuten nicht, dass die Alternative untauglich ist, sondern vielmehr, wie sehr diese Alternative gefürchtet wird.


Kurdistan Report 208 | März/April 2020