Wenn der Widerstand stark genug ist, ist die Politik der Türkei zum Scheitern verurteilt

Nostalgische Träume von Dominanz und Herrschaft

Interview von Zübeyir Aydar, Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK)


Herr Aydar, aktuell befindet sich die Türkei in einer tiefen Krise. Dutzende Abgeordnete, Bürgermeister*innen, Politiker*innen, Herr Abdullah Öcalan, Selahattin Demirtaş (der Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker - HDP) und weitere tausend Menschen befinden sich im Gefängnis. Wie erklären Sie sich diese schweren Verstöße gegen Menschenrechte als Jurist und kurdischer Politiker?

Die Situation ist offensichtlich. Wir haben 36 Jahre Krieg gegen den türkischen Staat hinter uns. Seit ihrer Gründung, wenn nicht sogar schon davor, verfolgt die Türkei eine antikurdische Vernichtungspolitik. Diese wendet sich nicht nur gegen Kurd*innen, sondern gegen alle Völker Anatoliens, die sich nicht der Türkisierung unterwerfen.

Schon die Politik des osmanischen Staates gründete auf Massakern. Zur Zeit der Nationalisierung begingen die Ittihadisten (Jungtürken) geplante Massaker. Vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen türkisch-ittahidistische Gruppen, die sich in Mazedonien organisierten, mit der Umsetzung der Politik der ethnischen Säuberung. Ab den 1920er Jahren dehnte sich diese Politik auf ganz Anatolien aus. Sie entwickelte einen türkischen Nationalismus, der auf der Idee basierte, alle im osmanischen Reich lebenden Völker und Kulturen zu vernichten, begründet auf der Idee des sozialdarwinistischen Nationalismus. Es wurde der Eindruck erzeugt, die verschiedenen Kulturen würden sich feindlich gegenüberstehen und eine friedliche Koexistenz wäre nicht möglich. Mit dieser politischen Rechtfertigung konnte der Starke die Schwachen beseitigen. In diesem Rahmen lässt sich in den Ursprüngen des türkischen Nationalismus ein sozialdarwinistisches Verständnis finden, also ein Nationalismus, der sich durch Massaker am Leben erhält und andere Völker vernichtet.

Die Gruppe, die sich in Mazedonien formierte, ist für den Genozid 1915 und darauf folgende weitere Massaker verantwortlich. Zunächst waren Armenier*innen, dann anatolische Griechen*innen, Pontusgriech*innen, Assyrer*innen und Aramäer*innen Ziele der Verfolgungen. Die Gründer der Republik Türkei und die Verantwortlichen der heutigen Kurdistan-Politik haben dieselbe Geisteshaltung. In der Türkei herrscht noch immer die Geisteshaltung, die die Anfänge um 1900 prägte und die zur Auslöschung anderer Völker führte. Diese Geisteshaltung rechtfertigte die Säuberung Istanbuls und Anatoliens von Griech*innen, die Säuberung der Schwarzmeerregion von Pontusgriech*innen, den Genozid an den Armenier*innen und die weitgehende Vernichtung der Assyrer*innen und Aramäer*innen. Es blieben noch die Kurd*innen als letztes Ziel, doch deren Vernichtung und Vertreibung gelang nicht wie geplant.

Heute intensiviert der türkische Staat erneut seine Aggression gegenüber der kurdischen Bevölkerung. Von 2015 bis heute versucht das Bündnis aus AKP, MHP und Ergenekon1, die kurdische Bevölkerung zu vernichten. Der Staat nutzt jede Möglichkeit und jedes Mittel, um anzugreifen. Sie haben es angesprochen, mit der Verhaftung von Bürgermeister*innen, Abgeordneten und Dutzenden anderer Menschen, mit der Isolationshaft des kurdischen Repräsentanten Apo [Abdullah Öcalan] werden schwere Menschenrechtsverletzungen begangen. Diese muss man in den oben beschriebenen Rahmen genozidaler Politik einordnen und in diesem Kontext verstehen.

Heute sind die radikal osmanisch-islamistische AKP (Menschen aus dem Umfeld Erdoğans vertreten diese Linie), Mitglieder der Ergenekon, die ittahidistische MHP und die republikanische CHP in der Türkei an der Macht. Somit bedroht der sozialdarwinistische türkische Nationalismus mit islamischen Elementen die Kurd*innen mit Vernichtung. Das Vorgehen gegen Kurd*innen ist eine genozidale Politik. Das ist unsere Ansicht und dagegen kämpfen wir.

Am 13. September 2020 gingen Tausende aus Efrîn und Şehba auf die Straßen um die Kampagne des KCK zu unterstützen, die die Losung hat: »Stopp der Besatzung – Zeit für die Verteidigung der Revolution!«Die Türkei schlittert immer tiefer in die Krise, verstärkt durch eine aggressive Innen- und Außenpolitik. Im Inneren des Staates greift die türkische Regierung Nordkurdistan an und außenpolitisch agiert sie aggressiv und expansionistisch. Türkische Truppen und ihre dschihadistischen Verbündeten besetzen inzwischen einen großen Teil der Grenzregion in Rojava/Nordsyrien. Tausende dschihadistische Terroristen aus Idlib/Syrien kämpfen im Auftrag der Türkei in Libyen. Was sind nach Ihrer Meinung die Gründe für diese Politik? Welche Ziele verfolgt sie?

Es ist richtig, dass sich die Türkei mit nahezu allen ihren Nachbarstaaten im Streit befindet. Im Inneren und außerhalb befindet sie sich mit Kurd*innen im Krieg. Es ist ein rücksichtsloser und brutaler Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, der in Rojava (Syrien), Südkurdistan (Irak), und innerhalb der Türkei (Nordkurdistan) geführt wird. Doch damit gibt sich die Türkei nicht zufrieden. Sie greift in den Bürgerkrieg in Libyen ein und mischt im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt mit, indem sie aserbaidschanische Soldaten ausbildet. Darüber hinaus trägt ihr machtpolitisches Bestreben Konflikte über Katar in die Golfregion, nach Jemen, nach Somalia und in den Sudan und verstärkt die vorliegenden Krisen. Auf der anderen Seite richtet sie ihr Augenmerk auf das östliche Mittelmeer, auf Zypern und Griechenland. Führende Persönlichkeiten in der Türkei lassen nostalgische Träume von Dominanz und Herrschaft in der Region wieder aufleben. Diese Personen regieren aktuell die Türkei. Recep Tayyip Erdoğan sieht sich selbst als Sultan Süleyman, andere orientieren sich an turanistischen2 Expansionsplänen. Weil diese Politiker*innen an der Macht sind, herrscht im inneren des Landes und nach außen Krieg. Sie betreiben eine Expansionspolitik. Eine solche Herrschaft mit Erdoğan an der Spitze, der als Diktator regiert wie einst Saddam, begnügt sich nicht mit innenpolitischer Macht. Sie greift überall an, verursacht und verstärkt Probleme. Diese Politik ist durchdacht, geplant und entsteht nicht spontan. Es ist eine »enveristische« Politik3. Das Ergebnis dieser Politik ist abhängig vom Widerstand der Gegenkräfte. Stellt sich ihr niemand in den Weg, breitet sie sich soweit wie möglich aus. Aber ihre Stärke darf nicht überschätzt werden. Wie einst Enver, ist auch sie zum Scheitern verurteilt, wenn der Widerstand stark genug ist.

Die Türkei bedroht Griechenland und Zypern mit Marineeinheiten, fordert die Rückgabe griechischer Inseln an die Türkei und fordert das Recht auf Öl- und Gasförderung im Mittelmeer. Wohin führt die Kriegs- und Angriffslust Erdoğans, der zunehmend von Europa und der Welt isoliert wird?

Die Probleme im östlichen Mittelmeer, auf Zypern und in der Ägäis sind ernst, sie hängen mit der Expansionspolitik der Türkei zusammen. Erdoğan stellt den Vertrag von Lausanne in Frage: »In Lausanne haben sie uns einen Großteil unserer Gebiete genommen, das werden wir nicht hinnehmen«. Vor einigen Tagen äußert sich Devlet Bahceli (Vorsitzender der Partei der Nationalistischen Bewegung, MHP) über zwölf der durch Verträge von Italien an Griechenland übertragenen Inseln »Die Status der Inseln müssen erneut angesprochen werden, denn es sind türkische Inseln«. Eine solche Äußerung Bahcelis ist ernst zu nehmen und bedeutet, dass die tatsächlichen Ziele im Mittelmeer weit über die Erdgas- und Erdölsuche hinausgehen. Die Türkei hätte mit Zypern, Griechenland und anderen Staaten den Dialog suchen können und die Probleme hätten durch Verhandlungen behoben werden können. Doch das ist nicht die Absicht der Türkei. Derzeit betrachtet sie sich selbst als stark, ihre Gegenüber aber als schwach. Sie schätzt Zypern und Griechenland als schwach ein und folglich geht sie davon aus, ohne Weiteres expandieren und die dem türkischen Festland nahen Inseln annektieren zu können. Das ist das Produkt der Expansionspolitik der Türkei.

Das griechische Volk und seine Regierung müssen die Ereignisse aus dieser Sicht bewerten und dementsprechend Vorkehrungen treffen. Dazu gehört eine starke Verteidigung. Eine andere Sprache versteht die Türkei nicht. Andernfalls wird sie ihre aggressive Politik weiterführen. Genau wie einst Nordzypern, so könnte sie auch die nahegelegenen Inseln besetzen. Diese Gefahr muss ernst genommen werden. Auch ein Angriff auf Zypern liegt im Bereich des Möglichen.

Diktatoren wie Erdoğan können jederzeit um sich schlagen. Saddam griff im Inneren Kurd*innen an und massakrierte sie mit chemischen Waffen. Er griff den Iran an, führte gegen ihn acht Jahre einen sinnlosen Krieg und drang dann in Kuwait ein. Hätte er sich Kuwait einverleiben können, hätte er von dort andere Golfstaaten ins Visier genommen. Die Welt stoppte ihn. Die Regierenden in der Türkei befinden sich auf denselben Pfaden. Meines Erachtens müssen zunächst alle Opfer der Angriffe eine Koalition bilden und gemeinsam gegen die Angriffe Widerstand leisten. Ich meine damit das griechische und das kurdische Volk, die Armenier*innen und Araber*innen. Auch die durch die Flüchtlingspolitik und IS-Terror erpresste EU und die restliche Welt müssen der aggressiven türkischen Politik Einhalt gebieten. Diese Diktatoren geben nach, sobald sie einer Kraft begegnen, die ihre eigene übersteigt. Aus diesem Grund sollten sich die USA nicht mit Stellungnahmen begnügen, sondern Maßnahmen ergreifen, vor allem auf dem Gebiet der Verteidigung. Erdoğan betrachtet sich selbst als zweiten M. Kemal oder Sultan Süleyman. Er würde 2023 gerne sagen »Mustafa Kemal gründete die Republik und ich erweitere sie im Jahr ihres 100-jährigen Bestehens«. Seine Ziele sind Rojava (Nordsyrien), Südkurdistan (Provinz Mossul) und die ägäischen Inseln. Diese Expansionspolitik ist ernstzunehmen und es sind Vorkehrungen dagegen zu treffen.

Wie könnte sich in der Türkei Erdoğans und Bahcelis die Kurdenfrage entwickeln? Gibt es die Möglichkeit einer politischen Lösung? Wenn ja, wie? Können Sie darlegen, wie die Haltung der kurdischen Freiheitsbewegung zu diesem Thema ist?

Die derzeitige Politik der Türkei als sozialdarwinistische Politik ist auf Vernichtung ausgelegt. Sie basiert auf unserer Nichtexistenz. Kurd*innen sollen durch gewaltsame demografische Veränderungen aus dem Weg geräumt werden. Mit dieser Mentalität kann es keinen Frieden geben. Von der derzeitigen Regierung erwarten wir als Bewegung keine politische Lösung. Unsere Haltung ist es, uns auf allen Ebenen zu verteidigen, indem wir uns gegen die Angriffe stärken. In der Türkei oder an anderen Orten, unsere Haltung ist die der Verteidigungspolitik. Solange diese Macht besteht, erwarten wir weder innen noch außen Frieden. Dementsprechend positionieren wir uns neu und versuchen, uns entsprechend zu stärken. Türkische Regierende erzählen seit 37 Jahren »wir erledigen sie, wir haben sie erledigt«, sie greifen ständig an, und ja, sie besitzen spezielle Technologien, die sie mithilfe anderer Staaten angeschafft haben, vor allem Drohnen. Sie vertrauen auf diese Waffentechnik und verkünden Erfolge. Doch das entspricht nicht der Wahrheit. Diese Waffen sind auf dem Schlachtfeld nicht erfolgreich; auch wir entwickeln Maßnahmen gegen diese Technik. Wir werden uns verteidigen. Die Türkei plant jedes Jahr Programme, um uns zu besiegen. Wir dagegen setzen ihnen Jahr für Jahr eine größere Kraft entgegen. Seit 37 Jahren gibt es einen bewaffneten Kampf und wir setzen unseren Kampf fort. Die Türkei ist nicht so stark.

Mit anderen Worten, diese Regierung hat alle Ressourcen des Landes für den Krieg bereitgestellt und die türkische Wirtschaft bricht aufgrund der Kriegskosten allmählich zusammen. Die Soldaten können nicht überall eingesetzt werden stattdessen wird versucht, mit moderner Kriegstechnologie erfolgreich zu sein. Aber das kann nicht ewig so weitergehen. Niemand hat das Monopol über Technik. Auch wir finden Techniken, um die ihren unschädlich zu machen. Aus unserer Sicht steht die derzeitige Regierung der Türkei vor dem Zusammenbruch. Sie versucht, diesen Zeitpunkt hinauszuzögern. Ich bin davon überzeugt, dass wir ihr Ende mit einem entschlossenen Kampf beschleunigen können.

Zum Abschluss möchte ich betonen, wie wichtig und erfolgreich Solidarität unter den Völkern gegen Rassismus und Faschismus, Unterdrückung, Erpressung, Krieg und Massaker ist. In diesem Sinne sage ich Solidarität! Und immer wieder Solidarität! Ich grüße alle Ihre Leser*innen. 

Fußnoten:

1 - Ergenekon ist eine mafiöse ultranationalistische Struktur innerhalb der staatlichen und ökonomischen Strukturen der Türkei, die im Hintergrund versucht, politische und ökonomische Entscheidungen zu bestimmen. Oft wird sie auch »Tiefer Staat« genannt.

2 - Synonym für Panturkismus. Pseudohistorische Ideologie über die Einheit aller Turkvölker

3 - Enver Pascha, führender Jungtürke

Zur Person Zübeyir Aydars: Der Jurist und Politiker Aydar wurde 1961 in der Provinzstadt Dihê (Eruh) in Nordkurdistan geboren. Nach seinem Jurastudium bekleidete er das Amt des Vorsitzenden der IHD (Verein für Menschenrechte) und der Partei SHP (Sozialdemokratische Volkspartei). Bei den Parlamentswahlen 1991 wurde er als Kandidat der SHP als Abgeordneter der Provinz Sêrt (Siirt) ins Parlament gewählt. Im selben Jahr wechselte er zur kurdischen Partei DEP. Ihm sowie den DEP Abgeordneten Leyla Zana, Orhan Doğan, Hatip Dicle, Ahmet Türk, Sırrı Sakık und Mahmut Alınak wurde 1994 die Immunität entzogen. Nach einer Gefängnisstrafe, war er gezwungen, die Türkei zu verlassen.
Nachdem er 1994 in der Schweiz den Flüchtlingsstatus erhielt, begleitete er leitende Positionen in Organisationen wie dem 1995 gegründeten Kurdischen Parlament im Exil (PKDW) und dem 1999 gegründeten Kurdischen Nationalkongress (KNK).2003 wurde er zum Vorsitzenden des Kongra-Gel gewählt. Aktuell ist er Mitglied der KCK und des Exekutivrats der KNK.

 Kurdistan Report 212 | November/Dezember 2020