»Je mehr wir Öcalans Ideen verbreiten, desto mehr läuft die Politik der Isolation ins Leere.«

NÛN – eine Fraueninitiative des Mittleren Ostens für die Freiheit von Abdullah Öcalan

Songül Karabulut, Nationalkongress Kurdistan (KNK)


»Je mehr wir Öcalans Ideen verbreiten, desto mehr läuft die Politik der Isolation ins Leere.« Foto: ANHASeit dem Tag seiner rechtswidrigen Verschleppung aus Kenia am 15. Februar 1999 wurden unterschiedliche regionale und internationale Initiativen gegründet, die sich die Durchsetzung der Forderung »Freiheit für Abdullah Öcalan« zum Ziel gesetzt haben. Während in Kurdistan seit nunmehr 23 Jahren kein Tag vergeht, ohne dass diese Forderung in Form von Aktionen, Pressekonferenzen, Erklärungen, Petitionen gestellt wird, wird sie auch außerhalb Kurdistans und auf internationaler Ebene immer lauter und sichtbarer formuliert. So veröffentlichten 1999 zahlreiche prominente Persönlichkeiten einen Appell und gründeten die Internationale Initiative »Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan«, welche seit März 1999 bis heute für dieses Ziel arbeitet.1

Eine weitere wichtige Kampagne unter Dutzenden in diesem Zusammenhang ist zweifellos diejenige der britischen Gewerkschaften. 2016 wurde in Großbritannien unter Federführung der Gewerkschaften UNITE2 und GMB3 eine gleichnamige Kampagne initiiert. Inzwischen sind Dutzende Gewerkschaften inner- und außerhalb Englands in diese Kampagne involviert. In Südafrika wurde Anfang 2021 von der Kurdish Human Rights Action Group und dem Gewerkschafts-Dachverband COSATU die »Free Öcalan«-Kampagne ins Leben gerufen.

Vor Kurzem nun hat sich eine Initiative aus dem Mittleren Osten und Nordafrika in dieses Engagement für die Freiheit von Abdullah Öcalan eingereiht. Das Besondere an dieser neuen Initiative aus dem arabischen Raum ist, dass es sich bei ihren Mitgliedern ausschließlich um Frauen handelt. So hat sich zum ersten Mal eine Fraueninitiative gebildet, deren Ziel es ist, der Inhaftierung von Öcalan ein Ende zu setzen. »NÛN – Freiheit für Abdullah Öcalan« wurde von elf Frauen – Anwältinnen, Politikerinnen und Vertreterinnen von Frauenorganisationen – aus Palästina, Libanon, Sudan, Irak, Ägypten, Jemen, Syrien und Libyen gegründet und am 4. Juni 2022 mit einer Pressekonferenz in der libanesischen Hauptstadt Beirut bekannt gegeben. Der arabische Buchstabe NÛN symbolisiert die Frau; daher rührt der Name der Fraueninitiative.

Motive und Ziele der Initiative

Gründungsmitglied Buşra Eli erklärte, dass bewusst die libanesische Hauptstadt Beirut als Ort der Bekanntmachung gewählt worden sei: »Der Vorsitzende Öcalan hat lange Jahre den Befreiungskampf von Libanon aus geführt. Als Gründerinnen haben wir uns die Frage gestellt, wo wollen wir als Initiative beginnen, und haben uns dann einstimmig dafür entschieden, ihre Gründung hier zu verkünden. Das hat symbolische Bedeutung. Unsere Initiative wird auch zur kurdisch-arabischen Freundschaft beitragen.«

Sabah Schuaid aus Libyen erklärte auf der Pressekonferenz: »Ich habe als ersten feministischen Schritt an der Gründung der Initiative ›Freiheit für Öcalan‹ teilgenommen. Es ist meine Aufgabe als Frau, diesen Kampf zu unterstützen, weil Öcalan für die Frauenbefreiung viel geleistet hat und äußerst gerecht zu uns Frauen ist. Dabei macht es keinen Unterschied, ob ich Kurdin bin oder aus Libyen komme.    

Wir sprechen hier von jemandem, der mit seinen revolutionären und einzigartigen Gedanken und Ideen einen großen Beitrag für die Frauenbefreiung geleistet hat. Er hat Frauen gestärkt und ermutigt, sich für ihre Rechte einzusetzen. Es ist wichtig, sich für seine Freiheit einzusetzen, egal welche ethnische und religiöse Zugehörigkeit wir haben.«

Die Initiative bedauert, dass obwohl Öcalan in der arabischen Welt als wichtige politische Führungspersönlichkeit bekannt ist, sich nur wenig mit seinen Gedanken und seiner Philosophie auseinandergesetzt werde. Daher habe sie es sich zur Aufgabe gemacht, seine Ideen und Gedanken in Wort und Schrift auf Arabisch bekannt zu machen und zu verbreiten. Seine Philosophie der Freiheit biete allen unterdrückten Identitäten, allen voran den Frauen, eine große Chance. Jedoch würden die kurdische Befreiungsbewegung und vor allem Abdullah Öcalan seit vielen Jahren daran gehindert, sich zu äußern und ihre Gedanken, Analysen und Vorschläge darzulegen; es finde eine regelrechte Verleumdungskampagne statt, die eine verzerrte Wahrnehmung erzeuge. Das sei der Grund, weshalb die politischen und philosophischen Analysen Öcalans im Mittleren Osten für die Lösung bestehender Probleme bislang nicht ausreichend genutzt würden. Darum erklärt die Initiative: »Wir müssen gegen die Isolationspolitik des türkischen Staates kämpfen, der mit allen Mitteln Öcalans Verbindung zur Außenwelt abschneiden will. Je mehr wir seine Ideen draußen verbreiten, desto mehr läuft die Politik der Isolation ins Leere.«

Zu den weiteren Zielen sagte Mona El-Hilalki aus Irak: »Wir möchten über die Medien, die Netzwerke der sozialen Medien eingeschlossen, zur Sensibilisierung für dieses Thema beitragen. So werden wir in arabischer Sprache Online-Seminare organisieren, die sich mit den Ideen und der Philosophie Öcalans befassen. Des Weiteren wollen wir seine Texte und Bücher zur Frauenfrage ins Arabische übersetzen und verbreiten. Wir wollen ein Online-Archiv erstellen, damit die arabischsprachigen Frauen Zugang zu den wichtigen Texten haben, daraus Nutzen ziehen und ihre Probleme lösungsorientiert diskutieren können.«

Die Gründung der Initiative hat sowohl einen menschenrechts- als auch einen friedenspolitischen Aspekt.

Freiheit für Öcalan aus Menschenrechtsperspektive: Abdullah Öcalan hat sein Volk gegen langjährigen Kolonialismus und Unterdrückung organisiert. Aus diesem Grund wurde er 1999 durch ein internationales Komplott, in das unterschiedliche staatliche Geheimdienste involviert waren, verschleppt und in die Türkei gebracht. Seitdem wird er auf der Gefängnisinsel İmralı gefangen gehalten. İmralı ist ein rechtsfreier Raum. Selbst seine geringen Rechte als Gefangener werden ihm vorenthalten. Er ist der berühmteste politische Gefangene, und es wird ihm nicht erlaubt, sich politisch zu äußern. Öcalan wurde nicht nur ein faires Verfahren vorenthalten, sondern es werden ihm all seine Rechte verweigert, und er wird als Geisel festgehalten. So werden seit 2011 Anwält:innenbesuche und seit Oktober 2014 Familienbesuche unterbunden. In Folge öffentlichen Drucks fanden sehr wenige vereinzelte Kontakte statt. So gab es innerhalb der letzten drei Jahre nur zwei familiäre Kontakte: Am 7. August 2019 konnte sein Bruder ihn kurz auf der Insel besuchen, und am 25. Mai 2021 fand ein kurzes Telefongespräch statt, das unterbrochen wurde. Diese Totalisolation ist weder mit dem nationalen noch mit dem internationalen Recht vereinbar. Obwohl das CPT (Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter) das einzige Organ ist, das ohne Einwilligung der Türkei Gefängnisse besuchen kann, unternimmt es nicht die nötigen Schritte, um dieser skandalösen Ungerechtigkeit ein Ende zu setzen. NÛN fordert die sofortige Einstellung dieser Willkür und die Verurteilung des türkischen Staates für seine Folterpraxis auf İmralı.

Diese Forderung erfährt Nachdruck durch die Praxis. So ist geplant, eine internationale Frauendelegation zu organisieren, die an die Türkei und an unterschiedliche internationale Institutionen wie das CPT, die UN, das Europaparlament und den Europarat herantritt und in Gesprächen ihre Forderung vorträgt. Dafür ist eine Kampagne in Planung.

Freiheit für Öcalan aus friedenspolitischer Sicht: Die Initiative möchte sich nicht nur mit Öcalans Ideen zur Frauenbefreiung befassen, sondern auch mit seinen Ideen zu den bestehenden Problemen der Region und mit seinen Lösungsansätzen. Der Mittlere Osten und Nordafrika bluten in Folge verfehlter Politik mit jedem Tag mehr aus. Diese historisch bedingte Situation ist mithilfe der Gedanken und Analysen Öcalans besser zu verstehen; folglich können effektivere Lösungen entwickelt werden. Öcalan ist nicht nur für die Lösung der kurdischen Frage unentbehrlich, sondern auch für den Frieden in der ganzen Region über Kurdistan hinaus eine wichtige Hauptfigur.

Die kolonialen Mächte beherrschen die Bevölkerung durch Spaltung. Nationalismus ist eine sehr gängige Ideologie, mit der die Einheit der Bevölkerung zerstört wird. Er wurde auch gegen die kurdischen Bestrebungen nach Freiheit effektiv eingesetzt. Türkischer, arabischer und persischer Nationalismus gegen die Kurd:innen gefährdet zweifellos auch den Frieden in der Region, wenn man bedenkt, dass Kurd:innen auf die Türkei, Irak, Syrien und Iran aufgeteilt sind und zu den wichtigsten innen- und außenpolitischen Faktoren dieser wichtigsten Länder in der Region gehören. Ethnische oder konfessionelle Konflikte führen dazu, dass die Region sich ständig im Kriegszustand befindet und weder Stabilität noch Demokratie und Frieden entwickelt werden können.

Die Gründung der Initiative NÛN ist gleichzeitig ein wichtiger Schritt gegen den Nationalismus und gegen die praktizierte »Teile und herrsche«-Politik in der Region. Ein Kampf für die Frauenbefreiung kann nur erfolgreich sein, wenn er gegen alle Unterdrückungsideologien gerichtet ist.

NÛN wird ihre Ziele in der arabischen Welt bekannt machen, um weitere Frauen für die Initiative zu gewinnen. Gleichzeitig möchte sie auch für die Frauen weltweit ein Vorbild darstellen, mit dem Appell, in den Ländern, in denen sie leben, ähnliche Fraueninitiativen zu gründen, und mit dem Ziel eines weltweiten Netzwerks der Fraueninitiativen »Freiheit für Öcalan«, das sehr stark und eng mit dem Ziel »Freiheit für Frauen« verknüpft ist.

Fußnoten:

1 - Für mehr Informationen siehe https://www.freeocalan.org/

2 - Unite the Union, gewöhnlich kurz Unite genannt, ist eine britische und irische Gewerkschaft

3 - GMB steht für General, Municipal, Boilermakers and Allied Trade Union uns ist eine der größten Gewerkschaften in Großbritannien


 Kurdistan Report 223 | September/Oktober 2022