Zum Stand der Verhandlungen über Schwedens Beitritt zur NATO

Gesetze für Erdoğan im schwedischen Parlament

Interview mit Rıdvan Altun, Demokratisches Kurdisches Gesellschaftszentrum Schweden


Schweden gilt für viele Menschen als einer der Musterstaaten für Rechtsstaatlichkeit und bürgerliche Freiheiten. Viele unterdrückte Völker blickten immer wieder mit Sympathie auf die Regierungen Schwedens. Denn man wusste, dass das skandinavische Land sich mit Kritik an autoritären und unterdrückerischen Regimen nicht zurückhielt. Nach dem Beginn des Krieges zwischen Russland und der Ukraine begann das Land jedoch an Prestige zu verlieren, insbesondere nach seinem Antrag auf Mitgliedschaft in der NATO. Um das türkische Veto gegen das eigene NATO-Beitrittsgesuch zu verhindern, hat die schwedische Regierung sich der Regierung Tayyip Erdoğan im letzten Jahr fast gänzlich unterworfen und dabei ihre rechtsstaatlichen Traditionen hinter sich gelassen. Je mehr die schwedische Regierung Erdoğans Forderungen nachgab, desto höher legte Erdoğan die Messlatte und stellte immer neue Forderungen. Die schwedisch-türkischen Verhandlungen, bei denen die Kurd:innen schnell zur Verhandlungsmasse wurden, sind nun in eine Sackgasse geraten.
Wir haben mit Rıdvan Altun, dem Sprecher des Diplomatiekomitees des Demokratischen Kurdischen Gesellschaftszentrums in Schweden (NCDK), über den jüngsten Stand der schwedischen NATO-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und das neue Anti-Terror-Gesetz in Schweden gesprochen.

Das neue Anti-Terror-Gesetz ist in Schweden seit dem 1. Januar in Kraft. Was hat sich im Leben der in Schweden lebenden Migrant:innen, insbesondere der Kurd:innen, verändert?

Das Gesetz gibt dem Staat weitreichendere Befugnisse als bisher, wenn es um die Verfolgung von vermeintlich terroristischen Aktivitäten im Land geht. An unserer politischen Arbeit ändert das Gesetz erst einmal nichts. Wir setzen unsere politische Arbeit und Aktivitäten wie bisher fort. Es gibt allerdings eine weitere Gesetzesinitiative, die derzeit in den Ausschüssen erörtert wird und voraussichtlich im März vom Parlament verabschiedet werden soll. Wenn dieses Gesetz in seiner jetzigen Form verabschiedet wird, dann wird es unsere politische Arbeit direkt angreifen. Der schwedische Außenminister Tobias Billström hat bereits der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu erklärt, dass ab Juni keine kurdischen Farben und PKK-Flaggen bei öffentlichen Veranstaltungen in Schweden mehr gezeigt werden dürften. Auch wenn Billström später erklärte, er habe sich nicht ganz so geäußert und sei missverstanden worden, wurde diese Aussage in Schweden breit diskutiert und als Skandal bezeichnet. Die Linkspartei hat wegen dieser Aussage eine Beschwerde bei der parlamentarischen Rechtskommission eingereicht.

Ist dieses Gesetz gegen Kurd:innen gerichtet? Kann man sagen, dass es sich bei dem besagten Gesetz, das Anfang des Jahres in Kraft getreten ist, um ein allgemeines Gesetz handelt und dass das neue Gesetz, das in Kraft treten soll, ein Gesetz ist, das als Ergebnis der Verhandlungen mit der Türkei über die NATO-Mitgliedschaft auf den Kampf der Kurd:innen abzielt?

Genau so sehen wir es. Mit seiner Aussage gegenüber der türkischen Nachrichtenagentur möchte Tobias Billström den türkischen Behörden die Botschaft übermitteln, dass er und seine Regierung entschlossen sind, den kurdischen Kampf und die PKK so zu bekämpfen, wie Ankara es wünscht. Hierfür wird sogar ein eigenes Gesetz erarbeitet. Unter starkem öffentlichen Druck machte er einen Rückzieher. Aber es gibt ein Video von besagtem Interview mit dem schwedischen Außenminister. Und wenn man sich das ansieht, dann ist die Botschaft Billströms nicht zu leugnen.

Haben Sie irgendwelche Informationen über den Anwendungsbereich des neuen Anti-Terror-Gesetzes? Was sind seine Inhalte?

In der schwedischen Presse gab es Berichte über den Inhalt des neuen Gesetzes. Wenn die Opposition es nicht schafft, das Gesetz zu verhindern oder zumindest abzuschwächen, besteht die Gefahr, dass viele Organisationen, die derzeit in Schweden aktiv sind, verboten werden. Gegen diejenigen, die bei Demonstrationen kurdische Flaggen zeigen, werden dann Ermittlungen eingeleitet werden. Das Zeigen von Flaggen soll also verboten werden. Die Finanzen der Vereine sollen stärker überprüft und öffentliche Förderungen gestrichen werden. Mit anderen Worten: Es wird ein Gesetz geben, das den Wünschen von Erdoğan entspricht.

Was werden Sie tun, um zu verhindern, dass dieses Gesetz verabschiedet wird?

Um das neue Gesetz zu verhindern, haben sich Bürgerinitiativen gebildet. Es hat auch bereits eine öffentliche Veranstaltung stattgefunden, an der ehemalige Minister:innen, Abgeordnete, bekannte Journalist:innen und viele führende Politiker:innen der sozialdemokratischen Partei teilgenommen haben. Dort wurde der Beschluss gefasst, gegen die Verabschiedung dieses Gesetzes inner- und außerhalb des Parlaments aktiv zu werden. Außerdem wurden Solidaritätskomitees gebildet, die sich für den Schutz der Rechte der Kurd:innen einsetzen. Wir werden insbesondere mit der Sozialdemokratischen Partei Schwedens, der Linkspartei und allen anderen Oppositionsparteien zusammenkommen. Wir sehen, dass die Regierungspartei zögert, das neue Gesetz ins Parlament einzubringen, und dass sie mit einer sehr ernsten Reaktion der Öffentlichkeit rechnen muss. Daher glauben wir, dass unsere Gegenaktivitäten die Verabschiedung dieses Gesetzes verhindern können. Wir erachten die öffentliche Meinung, sowie die Haltung der Sozialdemokratischen Partei, der Linkspartei und der Grünen gegen das neue Gesetz als wichtig.

Es heißt, dass der schwedische Geheimdienst (SÄPO) den Kurd:innen den Terrorismusstempel aufgedrückt habe. Die SÄPO soll verschiedene kurdische Aktivist:innen, darunter auch Sie, vorgeladen und befragt haben. Was bezweckt der schwedische Geheimdienst damit?

Nach unseren Informationen hat die Regierung die SÄPO beauftragt, sich mit kurdischen Aktivist:innen zu treffen und eine neue Lageanalyse zur kurdischen Selbstorganisierung in Schweden zu erarbeiten. Sie wollen einen neuen Bezugsrahmen für die Kurd:innen schaffen. Vor 2017 wurde die PKK in den schwedischen Sicherheitsberichten als Bedrohung aufgeführt. Seit 2017 werden kurdische Organisationen nicht mehr in die schwedische Sicherheitsbedrohungsliste aufgenommen. Derzeit sind kurdische Organisationen dort nicht aufgeführt. Das missfällt dem türkischen Staat, und er versucht mittels seiner Beziehungen den schwedischen Geheimdienst zu einer Neubewertung der Kurd:innen zu bewegen. Das Ziel Ankaras ist, dass die Kurd:innen in Schweden kriminalisiert und verfolgt werden. Ein zweiter Grund für die Neuausrichtung der SÄPO gegen die Kurd:innen ist, dass sie dem türkischen Staat sagen wollen: »Seht her, wir lassen die Kurd:innen nicht in Ruhe. Wir kontrollieren sie, und wir üben ständig Druck auf sie aus«.

Die SÄPO traf sich mit einigen kurdischen Repräsentant:innen, darunter auch mit Ihnen. Was hat sie mit Ihnen besprochen?

Vertreter:innen der SÄPO haben sich in den letzten drei oder vier Monaten persönlich oder telefonisch mit verschiedenen Mitgliedern des NCDK getroffen und sie nach ihrer Meinung und ihren nächsten Plänen gefragt. Sie haben Fragen gestellt wie: »Die Gesetze ändern sich, wie werdet ihr darauf reagieren? Was haltet ihr von dem neuen Gesetz? Was werdet ihr tun, wenn wir kurdische Aktivist:innen an die Türkei ausliefern? Wir finanziert ihr euch?« Sie wollen gewissermaßen unseren politischen Herzschlag messen. Bei unseren Treffen mit ihnen haben wir erklärt, dass die Vereine unter dem Dach des NCDK transparent und für das Gemeinwohl arbeiten. Wir haben deutlich gemacht, dass wir keine Geheimnisse haben und dass unsere Türen für jede:n offen sind. Wir haben betont, dass wir keine Verbindungen zu Terrorismus haben.

Der schwedische Ministerpräsident Ulf Kristersson hat sich zur NATO-Mitgliedschaft seines Landes geäußert und gesagt: »Die Türkei will Dinge von uns, die wir nicht tun können und nicht geben wollen.« Wie laufen die Verhandlungen mit der Türkei über die NATO-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands?

Soweit wir es beurteilen können, finden die Verhandlungen zwischen den USA, der NATO und der Türkei statt und nicht zwischen Schweden und der Türkei. Bei der erwähnten Presse­konferenz stand der schwedische Premierminister mit dem NATO-Generalsekretär Stoltenberg vor den Kameras. Kristersson sagte: »Wir haben alles getan, was wir im Rahmen unserer Gesetze tun können. Aber die Türkei will mehr von uns.« Obwohl die schwedische Regierung behauptet, standhaft zu bleiben, bettelt sie Erdoğan praktisch an, den NATO-Beitritt zu genehmigen, und macht Zugeständnis um Zugeständnis. Allerdings gab der Chefunterhändler Oscar Stenström vor kurzem bekannt, dass die Verhandlungen eingefroren wurden: »Wir glauben, dass Verhandlungen in einer derart angespannten Atmosphäre keine Ergebnisse bringen, sondern sie im Gegenteil noch erschweren.«

Obwohl der Chefunterhändler die Koranverbrennung und die Proteste gegen Erdoğan als Gründe anführte, glaube ich, dass der Hauptgrund für das Einfrieren der Verhandlungen die Demütigung Schwedens am Verhandlungstisch mit der Türkei und der verstärkte öffentliche Druck waren. Die Verhandlungen zwischen der Türkei und Schweden über die NATO-Mitgliedschaft sind in der Presse und der öffentlichen Meinung Gegenstand des Spotts geworden. In der schwedischen Presse wurden Hunderte von Karikaturen veröffentlicht, in denen schwedische Vertreter:innen wegen ihrer Rolle bei den Gesprächen verspottet wurden. Die Öffentlichkeit glaubt, dass ihre Werte mit Füßen getreten werden, dass die Meinungsfreiheit zerstört wird und dass sie es nicht verdient hat, noch weiter gedemütigt zu werden. In der Tat konnten die schwedischen Behörden dem Druck der öffentlichen Meinung nicht mehr standhalten. Ich denke, dass die Verhandlungen von nun an eher zwischen den USA, der NATO und der Türkei stattfinden werden.

In letzter Zeit standen die Kurd:innen im Mittelpunkt der Verhandlungen um die NATO-Mitgliedschaft. Hat die neue Regierung mit Ihnen Kontakt aufgenommen? Hatten Sie in letzter Zeit Treffen mit der Regierung?

Wir standen vorher in vielen Fragen mit der Regierung in Kontakt, aber sobald die NATO-Verhandlungen begannen, brach unser Dialog ab. Ich glaube, sie will der Türkei zeigen, dass sie sich von uns distanziert. Bis April letzten Jahres indes haben wir uns noch mit den Regierungsparteien im Parlament getroffen und gemeinsame Konferenzen veranstaltet. Heute diskutieren wir diese Themen nur noch mit der Opposition.

Schweden hat drei Geflüchtete an die Türkei ausgeliefert. War das eine Ausnahme, oder werden wir derartiges von nun an häufiger erleben?

Die Zahl der Personen, die auf Erdoğans Auslieferungsliste stehen, wächst in der Türkei wie die Inflation. Wenn Schweden seine geltenden Gesetze nicht ignoriert, kann keine:r der Personen auf Erdoğans Liste an die Türkei ausgeliefert werden. Erdoğan weiß, dass niemand, der:die auf seiner Liste steht, an die Türkei ausgeliefert werden kann. Aber er täuscht die Öffentlichkeit und gibt vor, dass die in die Türkei abgeschobenen Personen das Ergebnis seiner Diplomatie seien. Dabei wurden diese Menschen wegen abgelehnter Asylanträge aus Schweden abgeschoben. Erdoğan geht es nur darum, der öffentlichen Meinung ein Bild zu vermitteln, das aussagt: »Ich habe es gefordert, und sie mussten liefern.« Die Auslieferung einer Person mit einer Aufenthaltsgenehmigung ist eine Sache, die Abschiebung einer Person, deren Asylantrag nicht anerkannt wurde, eine andere. Es ist notwendig, auf die Nuancen zu achten. Bislang wurde noch keine Person ausgeliefert, die auf Erdoğans Liste steht. Als der schwedische Premierminister in der Türkei war, sagte Erdoğan: »Ich will den Journalisten Bülent Keneş«. Der schwedische Oberste Gerichtshof hat diesen Antrag jedoch abgelehnt. Die Auslieferung der Personen, welche Ankara von Schweden fordert, muss von einem Gericht genehmigt werden. Wenn die Asylgerichte die Beweise eines Asylbewerbers nicht für ausreichend halten, sind sie befugt, ihn abzuschieben. Das sind zwei verschiedene Dinge. Aber die Türkei führt ihre eigene Öffentlichkeit in die Irre und behauptet, die schwedische Regierung gebe klein bei. Seit jeher wurden immer wieder Asylanträge von kurdischen oder türkischen Oppositionellen, die in Schweden Zuflucht suchten, abgelehnt und die betroffenen Personen in die Türkei abgeschoben. Die letzte Abschiebung ist also kein Novum. Schweden wird die Zahl der Abschiebungen vermutlich weiter erhöhen, um der Türkei Gefallen zu tun. Natürlich möchten wir deutlich sagen, dass wir diese Abschiebungen generell verurteilen. Ich wollte aber aufzeigen, dass die Sachlage etwas anders ist, als sie von Erdoğan dargestellt wird.

Fakt ist, je mehr wir Kurd:innen unseren demokratischen Kampf stärken, je klarer wir unsere legitimen Forderungen zum Ausdruck bringen, desto mehr Menschen werden wir für uns gewinnen. Kürzlich demonstrierten in Stockholm Tausende unserer schwedischen Freund:innen mit unseren Farben und PKK-Fahnen durch die Straßen von Stockholm. Die in Schweden lebenden Kurd:innen werden an ihren demokratischen Grundrechten festhalten und ihren Kampf mit Aktionen und Aktivitäten im Rahmen der Gesetze fortsetzen. Daran sollte niemand zweifeln. 


 Kurdistan Report 226 | März/April 2023