Editorial

Liebe Leser:innen,

es ist ein sehr angespanntes Klima, das gerade in Kurdistan vorherrscht. Während in Ostkurdistan und im Iran weiterhin die Proteste kochen, der Krieg in Südkurdistan unter Einsatz von chemischen Kampfstoffen fortgeführt wird und das Gebiet der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien nahezu täglich von Drohnenschlägen erschüttert wird, ist es doch der Norden, auf den sich alle Blicke richten. Sowohl Parlaments- als auch Präsidentschaftswahlen stehen in Nordkurdistan und der Türkei an. Ihr Ergebnis wird wohl wenige Wochen nach Erscheinen dieser Ausgabe feststehen.

Nie gab es »normale« Wahlen in der Türkei und so ist es auch dieses Mal. Die Anspannung ist groß, da vor dem Hintergrund des noch nicht vergessenen verheerenden Erdbebens, dem sich konkretisierenden HDP-Verbot und der zerbrechenden Wirtschaft die Ängste zwar groß sind, andererseits die Hoffnungen mit der verlängerten Waffenruhe der PKK in Nordkurdistan, der gesellschaftlichen Kraft, die sich am Neujahrsfest Newroz entwickelt hat und die Möglichkeit, dass ein Ende des Ein-Mann-Regimes von Erdoğan und seinem AKP/MHP-Machtkonstrukt endlich beendet werden könnte, ebenfalls immens sind.

Niemand in der Region macht sich die Illusion, dass durch die Wahlen auto­matisch alles besser wird, oder ein großer Wandel einsetzt. Es ist ein Machtwechsel, der sich vermutlich vollziehen wird, bei dem sich Spielraum für gesellschaftliche Organisierung und Annäherung öffnen kann. An dieser Stelle empfehlen wir den Artikel »Der Kampf der demokratischen Moderne und ihre Erfolge gegen den türkischen Faschismus« von Navdar Serhat.

Auch hat – nach längerer Corona-bedingter Pause – endlich der vierte Teil der Konferenz-Reihe »Die kapitalistische Moderne herausfordern« in Hamburg stattfinden können. Unter dem Motto: »Wir wollen unsere Welt zurück! – Widerstand, Rückeroberung und Wiederaufbau! Autonome Bildung und Organisierung!« sammelten sich fast tausend Menschen aus aller Welt und führten in kritischen Diskussionen die Gedanken sozialer-revolutionärer Bewegungen weltweit zusammen. Etwas, dass nicht einmal das Bundesinnenministerium durch eine Intervention seitens des Verfassungsschutzes, dem sich der Präsident der Universität Hamburg ohne Widerstand direkt fügte, verhindern konnte.

Auch wenn sich bei der Konferenz des »Network for an Alternative Quest« in Hamburg wieder einmal gezeigt hat, dass mithilfe von starker Solidarität und guter Organisierung jede Repression ins Leere laufen gelassen werden kann, sieht man auch, dass die Repression und Kriminalisierung kurdischer Strukturen, sowie die von internationalistischen Strukturen, die sich mit der kurdischen Bewegung befassen und von ihr lernen wollen, immens zunehmen. Insbesondere seit der Einreichung des Antrages zur Aufhebung des Betätigungsverbotes der PKK in Deutschland im letzten Jahr steigt die Zahl davon Betroffener. Immer mehr Fälle von erteiltem Ausreiseverbot, Wohnungs- und Vereinsdurchsuchungen, Abschiebungen und §129 a/b Verfahren sind zu verzeichnen. Die deutsche Regierung setzt sich auf ihre ganz eigene Art und Weise mit der im Koalitionsvertrag beschlossenen Parole »Mehr Fortschritt wagen« auseinander.

In den kommenden Wochen werden viele politische Entwicklungen auf uns zukommen, neben den Wahlen ist es auch der hundertste Jahrestag des Lausanner Vertrags, der damals die Vierteilung Kurdistan besiegelte, bis heute die Gemüter der Menschen erregt und Anlass vieler Interessensvertreter:innen sein wird, eine neue »Kurdistan-Politik« zu beginnen. In diesem Sinne wünschen wir, dass wir mit dieser Ausgabe das Interesse am kurdischen Freiheitskampf vertiefen und hoffen auf positive Entwicklungen in den kommenden Monaten.

Eure Redaktion


 Kurdistan Report 227 | Mai/Juni 2023