Das PKK-Verbot zum 30. Jahrestag überdenken

Das PKK-Verbot als Angriff auf die kollektive Identität der Kurd:innen

Mahmut Şakar, Rechtsanwalt, stellv. Vorsitzender von MAF-DAD e.V. – Verein für Demokratie und internationales Recht

 

Im November 2023 jährt sich zum 30. Mal der Tag, an dem das deutsche Innenministerium ein umfangreiches Betätigungsverbot für die PKK erließ und sogleich vollstreckte. Auch wenn wir den 26. November 1993 symbolisch als Ausgangspunkt für die Kriminalisierungspolitik gegenüber den Kurd:innen nehmen, so zeigt ein Blick auf die Düsseldorfer Prozesse (begannen ab 1989) und die bis in das Jahr 1986 zurückreichende Repressions- und Bestrafungspraxis, dass wir es in Wirklichkeit mit einer bis zu 40 Jahre alten rechtlichen und politischen Ausrichtung zu tun haben.

Bereits das Datum ist aussagekräftig: Die verbotsorientierte, aggressive Haltung Deutschlands gegenüber dem jahrzehntelangen politischen und sozialen Kampf des kurdischen Volkes hat sich parallel zur modernen Geschichte der kurdischen Frage entwickelt. Die kurdische Frage meint die grundlegendsten menschlichen, existentiellen und soziokulturellen Forderungen des kurdischen Volkes, denen in der Geschichte immer wieder mit den Praktiken der Massaker, der Migration und der ethnischen Säuberungen begegnet wurde.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit den sogenannten kurdischen Aufständen zwischen 1925 und 1938, kämpfte das kurdische Volk gegen seine brutale Unterdrückung durch den türkischen Staat. Nach einer Übergangsphase begann die kurdische Frage ab Mitte der 70er Jahre mit dem Aufkommen der nationalen Befreiungskämpfe und dem Wind der 68er Jugendbewegung, wenn auch schwach, wieder aufzublühen. Der faschistische (türkische) Militärputsch von 1980 versuchte dieses Wiederaufleben von Anfang an durch Folter, äußerste Brutalität und unmenschliche Praktiken, vor allem im Gefängnis von Amed (tr. Diyarbakır), im Keim zu ersticken. Mit dem Beginn des bewaffneten Widerstandes der PKK am 15. August 1984 erreichte der Freiheitskampf des kurdischen Volkes jedoch ein Stadium, das bis heute bestimmend ist. Erst ab diesem Zeitpunkt wurden die kurdische Existenz, ihre grundlegenden Forderungen und ihr Streben nach der Anerkennung von Rechten und Gerechtigkeit international sichtbar. Der existenziell geführte Kampf der Kurd:innen gegen die Verleugnung der kurdischen Identität, die Assimilation durch den türkischen Staat und die Brutalität der Vergangenheit wurde unumgänglich. Diese Entwicklung und die innenpolitische Neuausrichtung gegen die PKK veranlassten die Türkei, den Umgang mit der PKK in den Mittelpunkt ihrer internationalen Beziehungen zu stellen. Seitdem hat sich insbesondere die NATO (das nordatlantische Verteidigungsbündnis der North Atlantic Treaty Organization) in der kurdischen Frage aktiv auf die Seite der Türkei gestellt. Deutschland war das erste und prominenteste Land, das sich im Namen der NATO den Forderungen des kurdischen Volkes nach der Gewähr von Grundrechten und Freiheiten widersetzte.

Die Gründe dafür können Gegenstand einer anderen Diskussion sein. Vor allem aber ist der 40-jährige juristische und politische Orientierungsprozess Ausdruck der Haltung des deutschen Staates gegenüber den Forderungen des kurdischen Volkes nach einer Sichtbarmachung der kurdischen Frage.

diekurden sindkeineDie Politik des Verbotes zur Unterstützung des Völkermordes an den Kurd:innen

Tatsächlich hat sich diese Synchronität in der Umsetzung der deutschen Kriminalisierungspolitik fortgesetzt. Bei allen wichtigen historischen Ereignissen des kurdischen Volkes hat Deutschland seine Verbotspolitik zum Nachteil der kurdischen Gesellschaft betrieben. Dafür gibt es viele Beispiele. Schauen wir uns zunächst die Bedingungen an, unter denen der Verbotsbeschluss vom 26. November 1993 umgesetzt wurde. Es ist klar, dass wir dieses Thema nicht nur als eine innerdeutsche Angelegenheit betrachten können.

Das Jahr 1989 war das Jahr der ersten massiven Volksaufstände und Mobilisierungen, die in der kurdischen Politik als Serhildan von Botan bekannt wurden. Diese Volksaufstände, die sich nach und nach über ganz Kurdistan ausbreiteten, stellten ein Novum in der Geschichte Kurdistans dar. Denn sie wuchsen und entwickelten sich unter der Führung derjenigen, die den untersten Klassen der Gesellschaft angehörten, unter der Führung der am meisten Unterdrückten und insbesondere unter der Führung der Frauen. Sie breiteten sich weit über nationale Grenzen hinaus aus. Zum ersten Mal in der Geschichte stießen die Forderungen nach Rechten und Freiheit auf ein so breites Interesse und wurden von der gesamten Gesellschaftsstruktur getragen. Vor diesem Hintergrund diskutierte und beschloss der türkische Staat in seinem höchsten Gremium, dem Nationalen Sicherheitsrat (MGK), ab 1992 eine von der NATO patentierte Strategie zur Bekämpfung der Bevölkerung, die als »Kriegsführung geringer Intensität« oder »Counter-Guerilla-Kriegsführung« bezeichnet wird. Der türkische Journalist Ismet Berkan erklärte in seinem Artikel vom 6. Dezember 1996, er habe die Protokolle dieser Entscheidung gelesen.

Wir alle kennen die Folgen dieser Entscheidung.

Tausende von Dörfern wurden niedergebrannt und mussten evakuiert werden. Intellektuelle, politische und zivile Persönlichkeiten wurden auf offener Straße ermordet. Die Hizbulkontra (türkische Hizbollah) wurde für diese Morde verantwortlich gemacht. Sie gilt als die Vorgängerin der im Dezember 2012 gegründeten Hüda-Par (tr. Hür Dava Partisi), der heutigen Wahlpartnerin der AKP.

Tausende von Menschen verschwanden. In Kurdistan warten heute noch immer Massengräber auf ihre Öffnung. Diese Phase erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren 1993/94. Auch Menschenrechtsaktivist:innen und Journalist:innen, die über diese höllische Phase in der Öffentlichkeit berichteten, wurden ermordet und gefoltert. Zeitungszentren wurden bombardiert und mit massivem Druck und Zensur wurde versucht, jede Berichterstattung zu unterbinden.

In diese Zeit fällt auch das Verbot der PKK in Deutschland. Mit dem Verbot wurden umgehend zahlreiche kurdische Vereine und Verbände überall in Deutschland sowie Nachrichtenagenturen und Zeitungen geschlossen. Das kurdische Potential in Europa, das die Ereignisse in Kurdistan in die Welt hätte tragen können, wurde von dem deutschen Staat massiv unterdrückt. Ziel war es, Protestaktionen in Deutschland gegen diesen schweren Angriff und das brutale Vorgehen des türkischen Staates gegen die kurdische Zivilbevölkerung zu unterbinden und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit zu vermeiden.

Wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der in Europa ansässigen Kurd:innen in Deutschland lebt, wird klar, dass das Verbot darauf abzielte, die Kurd:innen in ganz Europa handlungsunfähig zu machen. Nicht nur die internationale Solidarität sollte unterbunden werden, sondern insbesondere auch die in Deutschland lebenden Kurd:innen sollten daran gehindert werden, tiefere Verbindungen zu Kurdistan aufzubauen und sich an dem Freiheitskampf ihres Volkes zu beteiligen. Diese Parallelität sagt uns auch Folgendes: Das noch immer bestehende PKK-Verbot in Deutschland unterstützt bis heute die Gewalt- und Völkermordpolitik des türkischen Staates in Kurdistan und ist deren politische Stütze und ein wesentlicher Teil ihrer Umsetzung auf der internationalen Bühne.

verbotdemokolnDas PKK-Verbot in Deutschland ist ein Ausnahmezustand

Das Verbot der PKK, welches am 26. November 1993 mit einem Runderlass des damaligen deutschen Innenministers Manfred Kanther (CDU) begann und seit 30 Jahren ständig aktualisiert wird, ist zu einer umfassenden staatlichen Politik geworden. Wenn es um die Kurd:innen geht, ist ein ministerieller Runderlass ein Text, der weit über seinen eigentlichen Geltungsbereich und sein Format hinausgeht. Diese Maßnahme wirkt fast wie eine verfassungsmäßige Regelung dauerhaft, kontinuierlich und bindend für alle vergangenen und zukünftigen Regierungen. Deutschland begegnet den Kurd:innen, die seit jeher Demokratie und Freiheit fordern, mit einer unnachgiebigen Politik des Verbots. Aus der Schwere und der Wirkung dieses Rundschreibens von 1993 wird deutlich, dass es sich um eine außerordentliche Rechtsvorschrift gegen die Kurd:innen handelt. Wenn es um die kurdische Frage geht, betont Deutschland, ebenso wie die Türkei, bis heute, dass es selbstverständlich keine Sonderregelung anwende. Im Gegenteil, Deutschland stellt seine außergewöhnlichen und diskriminierenden politischen und rechtlichen Praktiken in einem derart routinemäßigen Stil und Verfahren dar, als wären sie vollkommen normal und entsprächen den üblichen Gepflogenheiten.

Ein ähnlicher rechtlicher und politischer Ansatz lässt sich beispielsweise bei den Ausgangssperren in sieben Provinzen und 17 Distrikten Kurdistans in den Jahren 2015/16 beobachten. Im Bericht des damaligen UN-Hochkommissars für Menschenrechte vom 27. Februar 2017 heißt es, dass die Ereignisse und Zeugenaussagen »ein Bild der Apokalypse« zeichnen. Ungefähr 2.000 Menschen, darunter 1.200 Zivilist:innen, verloren ihr Leben. Mehr als 200 junge Zivilist:innen wurden in Kellern lebendig verbrannt. Mehr als 355.000 Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben, ganze Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Schaut man sich an, worauf der türkische Staat diese Vorgänge rechtlich stützt, so stellt man fest, dass weder das Kriegsrecht noch der Ausnahmezustand ausgerufen wurden, sondern dass als Referenz der Artikel 11/c des Provinzgesetzes ohne nähere Bestimmung herangezogen wurde. Dieser Artikel regelt lediglich die Befugnis des Gouverneurs, der in erster Linie für die Provinzen zuständig ist, Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Diese Routinevorschrift erlaubt es nicht annähernd, Entscheidungen mit derart schwerwiegenden Folgen für ein großes geographisches Gebiet zu treffen. Aber genau das ist und meint die kurdische Frage:

Die staatliche Verwaltung, die Justiz und der Sicherheitsapparat wissen, wie in Kurdistan gewöhnliche Entscheidungen und Befugnisse umgesetzt werden, dass es nämlich für Massaker und schwere Verbrechen keiner besonderen Befugnisse und Regelungen bedarf. Straflosigkeit ist somit weitverbreitete Staatspolitik. In Deutschland sind sich die Institutionen, insbesondere der Sicherheitsapparat, der Tiefe dieser Verbotspolitik bewusst und wissen auch, dass es sich um staatliche Politik handelt. Der Beitrag dieser Mechanismen zur Aufrechterhaltung des Verbots über einen so langen Zeitraum ist nicht zu übersehen. Aber auch die vom Staat relativ unabhängigen Institutionen handeln aus einem ähnlichen »Bewusstsein« heraus. Die Presse zum Beispiel ignoriert den Schaden und die Ungerechtigkeit, die der kurdischen Gesellschaft durch das 30 Jahre andauernde Verbot zugefügt wurden. Sie bauscht stattdessen jedes noch so kleine Phänomen gegen die Kurd:innen und für das Verbot auf, was zeigt, dass der Staat seine Hausaufgaben gemacht hat.

Die Haltung der Justiz gegenüber dem Verbot

Die interessanteste und ambivalenteste Institution in der deutschen Kriminalisierungs- und Verbotspolitik ist die Judikative. Gleichzeitig spielt sie eine sehr wichtige Rolle. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Gewaltenteilung funktioniert, es also in Deutschland normalerweise keine Einmischung der Verwaltung in die Judikative gibt, so wird dennoch deutlich, dass die Judikative kein Kontroll- und Gegengewicht zur Exekutive und Sicherheitsbürokratie darstellt, ­insbesondere im Zusammenhang mit Verfahren nach §§ 129a und b StGB. Die Tatsache, dass ein großer Teil der kurdischen Gemeinschaft in Deutschland in der Justiz keine Hoffnung auf eine Lösung der andauernden Unterdrückung und Nötigung sieht, insbesondere die feste Überzeugung, dass Fälle nach §§ 129a und b StGB ganz automatisch eine Bestrafung nach sich ziehen, führt dazu, dass die Institution der Judikative als Teil der großen Koalition der Verbote wahrgenommen wird. Auch in Verfahren nach §§ 129a und b StGB werden die schrittweise Erhöhung des Strafmaßes und die Verhängung von Strafen von 4–5 Jahren, obwohl keine Gewalttätigkeit vorgeworfen wird, als Handeln der Justiz im Rahmen der grundlegenden staatlichen Strategie verstanden.

Die Tatsache, dass Deutschland die Meinungs- und Organisationsbemühungen gegen eine systematische und langjährige Völkermordpolitik, wie die Angriffe des türkischen Staates auf die Zivilbevölkerung, die Keller von Cizîr (tr. Cizre), die ethnischen Säuberungen in Efrîn, den Einsatz chemischer und anderer verbotener Waffen, durch Gesetz und Justiz im Keim ersticken will, zeigt zudem, dass die Justiz als Institution in Deutschland hochgradig politisiert ist, und macht die Behauptung, Deutschland sei ein unabhängiger Rechtsstaat, lächerlich.

Diese Wahrnehmung vertieft das Misstrauen der kurdischen Gesellschaft gegenüber der deutschen Justiz und führt zu der Schlussfolgerung, dass es sinnlos ist, seine Rechte vor Gericht einzufordern, sich zu verteidigen oder gar eine Anwält:in zu engagieren, wenn man mit einem Strafverfahren nach §§ 129a/b StGB konfrontiert wird. Es herrscht der Glaube vor, dass die Verteidigung von vornherein aussichtslos ist, dass, egal was man tut oder sagt, das Urteil schon vorher feststeht. Die abschließende Schlussfolgerung ist, dass der deutsche Staat insgesamt eine auf Kriminalisierung und Verboten basierende Strategie gegenüber den Kurd:innen verfolgt und dass alle staatlichen Institutionen/Mechanismen eine Position innerhalb dieser Strategie einnehmen.

Schlussfolgerung: Das PKK-Verbot als Angriff auf die kollektive Identität der Kurd:innen

Natürlich könnten die Haltung und die Praktiken der staatlichen Institutionen in Deutschland gegenüber der kurdischen Gemeinschaft noch ausführlicher beschrieben werden. Die vorliegende Darstellung reicht jedoch aus, um das Geschehen in einen Kontext zu stellen. Die seit fast 40 Jahren bestehenden Verwaltungsvorschriften gegen die Kurd:innen, die Art und Weise, wie sie von der Polizei und den Geheimdiensten umgesetzt werden, die Aufgabe der Justiz, diese Praktiken zu legitimieren, und die Ausrichtung der Presse, diese Praktiken zu verschleiern oder Kurd:innen ins Visier zu nehmen, zeigen uns, dass die Verbotspolitik in Deutschland die vorherrschende staatliche Politik gegen die Kurd:innen ist und dass das hauptsächliche Angriffsziel dieser Politik die kollektive Identität der Kurd:innen ist.

Die Organisation von und Teilnahme an demokratischen Ver­an­staltungen, das Singen kurdischer Lieder, das Feiern von iden­ti­tätsstiftenden Volksfesten wie Newroz, die ­Organisierung von und Teilnahme an traditionellen Gedenkfeiern für die im Krieg getöteten Menschen, die Äußerung von Einwänden gegen die Isolation und die Haftbedingungen Öcalans, das Tragen von Symbolen, Fotos, Fahnen, das Skandieren bestimmter Parolen, die Gründung eines Verlages, die Veröffentlichung und der Verkauf von Büchern, die Herausgabe von Musikkassetten und CDs, die Archivierung und Veröffentlichung kurdischer Musik, das Schreiben von Zeitungsartikeln oder Nachrichten, die Kritik am nunmehr seit 30 Jahren bestehenden PKK-Verbot und der Einsatz für dessen Aufhebung … All diese und viele weitere Praktiken sind in Deutschland regelmäßig Gegenstand polizeilicher Ermittlungen und staatlicher Repression geworden. Die Summe all dieser Aktivitäten macht bereits einen großen Teil der kurdischen Identität aus. Die Kriminalisierung dieser politischen, sozialen, kulturellen und intellektuellen Aktivitäten bedeutet folglich die Kriminalisierung der kurdischen Identität und letztendlich die Kriminalisierung der kollektiven Existenz der Kurd:innen und ihrer ethnischen Struktur. Das herrschende System in Deutschland hat die grundlegendsten Forderungen der Kurd:innen aus der politischen Diskussion ausgeschlossen und sie stattdessen zu einem Teil deutscher Sicherheitspolitik gemacht. Auch die kollektive Identität und ethnische Existenz der Kurd:innen sind zum Ziel dieser Sicherheitspolitik geworden. Es ist notwendig, diese Realität hinter dem Fortbestehen des Verbots zu sehen, das trotz all der bereits vergangenen Jahre und Belastungen noch immer mit hoher Intensität fortgesetzt wird. Eine demokratische Haltung und Solidarität mit dem kurdischen Volk gegen das Verbot bedeuten nicht nur, die Grundrechte der Kurd:innen zu verteidigen, sondern auch ihre kollektive Existenz.


 Kurdistan Report 230 | November / Dezember 2023