Situation geflüchteter Kurd:innen in Ankunftszentren und Unterkünften in Deutschland

Europas fortschreitende Abschottung

Pena.ger1, bundesweites Online-Beratungsangebot für Geflüchtete

Das Recht auf Asyl wird seit Jahren immer weiter angegriffen und ausgehöhlt.
Im Sommer letzten Jahres beschloss der EU-Rat mit Zustimmung der Bundesregierung die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS).


Ein zentraler Aspekt der GEAS-Reform wird die Einführung von sogenannten »Grenzverfahren« sein. Diese Verfahren sollen in grenznahen Einrichtungen durchgeführt werden, in denen bis zu 30.000 Menschen gleichzeitig festgehalten werden können (in Planung: 120.000 Personen). Betroffen von den Grenzverfahren werden hauptsächlich Personen sein, deren Nationalität [in Asylverfahren] eine Gesamtanerkennungs­quote von unter 20 Prozent in der EU hat. Das »Grenzverfahren« betrifft auch Personen, die aus sogenannten »sicheren Drittstaaten« eingereist sind. Damit wird es also automatisch auch Menschen treffen, die aus Ländern mit einer höheren Quote – wie bspw. Afghanistan – kommen, da es keine sicheren Fluchtwege für sie gibt, die sie sonst nehmen könnten.

Es ist zu erwarten, dass die »Grenzverfahren« unter menschen­unwürdigen Bedingungen stattfinden werden – diese Praxis kennen wir bereits von den bestehenden Lagern des vergangenen Jahrzehnts. Systematische Menschenrechts­verletzungen wie in Moria werden zum Standard durch massen­hafte Inhaftierung und einen stark eingeschränkten Rechtsschutz (­Kasparek 2023).

Zudem nahm die Ampelregierung im Haushalt des Jahres 2024 massive Kürzungen für Migrations- und Asylverfahrensberatung vor und auch die psychosoziale Unterstützung wurde um mehr als die Hälfte ihres Vorjahresbudgets gekürzt. Diese Kürzung werden eine erhebliche Auswirkung auf die Versorgung vieler Geflüchteter haben, denn die gekürzten Angebote bieten den Geflüchteten Orientierungshilfen zu wichtigen Themen von Aufenthalt und Gesundheit bis zu Bildung, Sprachkursen, Wohnraum sowie Beschäftigung.

Anfang des Jahres beschloss die Bundesregierung außerdem das »Rückführungsverbesserungsgesetz« oder, wie Kritiker:innen es nannten, das »Hau-Ab-Gesetz III«. Damit beugte sie sich der allgegenwärtigen Forderungen nach mehr und brutaleren Abschiebungen. Das Gesetz wird die Anzahl der Abschiebungen vermutlich nicht stark ändern, greift dafür aber stark in die Grundrechte derer ein, die abgeschoben werden sollen. Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam können nun leichter und für längere Zeit angeordnet, Abschiebungen in vielen Fällen überfallartig zur Nachtzeit und ohne Ankündigung durchgeführt, auch die Wohnungen und Zimmer Nichtbeteiligter nach den Betroffenen durchsucht werden. Das Ganze ist als eine weitere Brutalisierung der deutschen Abschiebepraxis zu verstehen.

Ablehnung der Ayslanträge von Kurd:innen aus der Türkei

Im Jahr 2023 verzeichnete Deutschland einen signifikanten Anstieg der Asylanträge von türkischen Staatsangehörigen auf insgesamt 61.181, mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr (2022: 23.938 Asylanträge). Damit ist die Türkei das Herkunftsland mit den zweitmeisten Asylsuchenden in Deutschland. Insbesondere Kurd:innen aus der Türkei suchen vermehrt Sicherheit in Deutschland. Im ersten Halbjahr 2023 machten sie 84 Prozent der Asylanträge türkischer Staatsangehöriger aus.

Die Schutzgewährung für Personen kurdischer Herkunft aus der Türkei weist im Vergleich zu Antragstellenden türkischer Herkunft eine wesentlich niedrigere Rate auf. Im Jahr 2019 wurden 18 Prozent der Anträge von Kurd:innen positiv entschieden. Im ersten Halbjahr 2023 sank die Quote noch weiter auf sieben Prozent (Tendenz weiter sinkend). Im Gegensatz dazu lag die Schutzquote für die türkische Bevölkerungsgruppe weiterhin bei 70 Prozent. Obwohl auch bei dieser Gruppe die Schutzquote im Vergleich zu 2019 gesunken ist, war der Rückgang wesentlich geringer als bei Kurd:innen (PRO AYSL 2024).

Diese Diskrepanz steht im Widerspruch zur tatsächlichen staatlichen Verfolgung, der viele Mitglieder der kurdischen Minderheit aufgrund ihres politischen Engagements oder ihrer vermeintlichen Verbindungen zu bestimmten Organisationen wie der PKK ausgesetzt sind. Die autoritären Maßnahmen der Regierung unter Präsident Erdoğan, die unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung durchgeführt werden, gehen einher mit einer Erosion rechtsstaatlicher Normen (vgl. ebd.).

Antikurdischer Rassismus gegenüber Geflüchteten

Kurd:innen bilden weltweit eine der größten staatenlosen Diasporagemeinschaften. Besonders in Europa, vor allem in Deutschland, gibt es eine hohe Zuwanderung. Deutschland wird von Kurd:innen als das bedeutendste Zielland für Migra­tion in Europa angesehen (Mediendienst Integration o.J.). Schätzungsweise leben 1,3 Millionen Kurden in Deutschland, und diese Zahl scheint zu steigen, was sie zu einer der größten Einwanderergruppen macht (vgl. ebd.).

Kurd:innen sind auf unterschiedlichen Ebenen besonders vulnerabel und unsichtbar, umso wichtiger ist es, ihnen Anlaufstellen und Angebote in ihrer Sprache zu ermöglichen. Dastan Jasim pointiert es folgend: »Die Intersektion des Rassismus, der gegenüber Kurd:innen auf einer täglichen und internationalen Basis ausgelebt wird, einer Intersektion aus rassistischer, sicherheitspolitischer und diplomatischer Blindheit gegenüber der Unterdrückung von Kurd:innen, ist weiterhin Nischenthema.« (Jasim 2020). Dies spiegelt sich in den Erfahrungen wider, die kurdische Geflüchtete in Camps machen müssen. In Geflüchtetencamps erfahren Kurd:innen oft Schikanen auch von migrantischem Personal, wie Sozialarbeiter:innen, Security-Personal und Übersetzer:innen.

Sie erhalten keine angemessene Unterstützung, oft speziell aufgrund ihrer kurdischen Identität. So werden einige etwa von islamistischen Asylbewerber:innen bedroht und körperlich angegriffen, während ihre Beschwerden von den genannten Mitarbeiter:innen oft ignoriert werden.

Entstehung von Pena.ger durch den Fall von Hogir Alay

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Ausgangssituation gründete sich im Dezember 2023 das Online-Beratungsangebot für geflüchtete Menschen »Pena.ger«.

Den letzten Anstoß zur Gründung von Pena.ger gab der tragische Tod von Hogir Alay. Sein verwester Leichnam wurde am 4. November hinter der Turnhalle des Geflüchtetenlagers in Kusel, Rheinland-Pfalz, erhängt aufgefunden (PENA.GER 2023).

Im Februar 2023 floh Hogir Alay aus politischen Gründen mit seiner Frau aus der Stadt Kızıltepe im Südosten der Türkei nach Deutschland. Nach seiner Ankunft in Deutschland stellte Alay einen Asylantrag und wurde in der Geflüchtetenunterkunft Kusel untergebracht. Hogir Alay habe mehrfach aufgrund psychischer Belastungen Beschwerden geäußert, beispielsweise aufgrund wiederholter Zimmerverlegungen. Darüber hinaus soll er häufig vom Sicherheitspersonal schikaniert und Übergriffen ausgesetzt worden sein. Obwohl er sich mehrmals an die Heimleitung wenden wollte, sollen die vor Ort anwesenden Übersetzer:innen sich geweigert haben, seine Anliegen zu übersetzen, da dies den Ruf der Unterkunft schädigen würde, so die nach seinem Tod entstandenen Initiative Hogir Alay. Der 24-jährige Kurde hatte sich aufgrund der schlechten und entwürdigenden Behandlung in der Unterkunft auch an das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gewandt, diese nahm seine Anliegen nicht ernst und sahen sich dafür nicht zuständig. Hogir Alay wurde wochenlang vermisst, bis schließlich seine Familie eine E-Mail an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schrieb.

Das BAMF antwortete, die Landesbehörden seien für sein Anliegen zuständig und bot zusätzliche Informationen zu den zuständigen Behörden sowie weiteren ­Beratungsmöglichkeiten an. Obwohl Alay regelmäßig Kontakt zu seiner Familie hielt und insbesondere zu seinem Vater eine enge Bindung ­hatte, verschwand er ab dem 11. Oktober 2023 plötzlich und war nicht mehr erreichbar. Sein Bruder Şiyar Alay und sein Deutsch­lehrer baten wiederholt die Polizei in Kusel, nach ihm zu suchen. Die Polizei gab jedoch an, erst nach Alays Tod von seinem Verschwinden erfahren und keine Hinweise auf einen Vermisstenfall erhalten zu haben.

Als Alays Leichnam schließlich gefunden wurde, befand er sich in einem Zustand weit fortgeschrittener Verwesung, und eine Autopsie in der Türkei war aufgrund dessen nicht mehr möglich. Die genaue Todesursache und der Zeitpunkt seines Todes bleiben bis dato unklar, was Zweifel an der offiziellen Version aufkommen lässt. Die Initiative Hogir Alay fordert daher Aufklärung und Gerechtigkeit. Trotz öffentlichen Drucks wurden die Ermittlungen eingestellt, und Suizid wurde als Todesursache angegeben, was Zweifel hinsichtlich der Umstände seines Todes aufwirft (Sepehri 2024).

Die Unterstützer:innen von Hogir Alay haben die Initiative Pena-Ger gegründet, die über Social-Media-Kanäle auf Instagram und Twitter Hilfe für Geflüchtete anbietet, bisher in Kurdisch, Türkisch, Englisch und Deutsch. Sie haben ähnliche Beschwerden wie Alay von weiteren Geflüchteten gehört und möchten Gehör für ihre Anliegen schaffen. Das Ziel Pena.gers ist, dass jemand wirklich zuhört, von Mensch zu Mensch, weil sie alle Menschen sind und sie ein Recht auf ein Leben in Sicherheit und menschenwürdigen Lebensverhältnissen haben.

Was macht das bundesweite Online-Beratungsangebot Pena.ger?

In Oldenburg und Umgebung haben Sozial- und Rechts­berater:innen sowie Aktivist:innen das Online-Beratungsangebot ins Leben gerufen, um eine niedrigschwellige Beratung für Geflüchtete auf Deutsch, Kurdisch, Englisch und Türkisch zu bieten. Unter dem Namen Pena.ger ist das Beratungsangebot auf Instagram aktiv und unterstützt Ratsuchende insbesondere
bei Fragen zur örtlichen Struktur. Die Tätigkeiten von Pena.ger umfassen auch die Beratung im Asylverfahren sowie die Bereitstellung von Orientierungshilfen. Pena.ger beantwortet Fragen wie:

Was bedeutet das Dublin-Verfahren?

Wie kann ich meine Adresse beim BAMF ändern?

Wo finde ich eine Migrationsberatung?

Wie kann ich meine Abschlüsse anerkennen lassen? Welches Land bietet günstigere Bedingungen für meinen Asylantrag – die Schweiz oder Deutschland?

Und wie kann ich mich als queerer Mensch auf eine Anhörung vorbereiten? (PENA.GER 2023)

Pena.ger hat sich Mitte Dezember 2023 gegründet und bis dato mehr als 1300 Menschen beraten und unterstützt. Dies geschieht nach Feierabend und unentgeltlich.

Aufbaustrukturen: Sprachmittler:innenpool und Beschwerdestrukturen

Die zunehmend restriktive Grenzregimepolitik führt zu einer Verschlechterung der Beratungsumgebung, was zu Belastungen, Verzweiflung und Hilflosigkeit bei den Ratsuchenden führen kann. Pena.ger möchte diesen Belastungen entgegenwirken, indem es den Ratsuchenden Informationen über ihre Rechte und Unterstützungsmöglichkeiten bietet. Um diesen Herausforderungen beispielsweise in den Bereichen der Übersetzung und Dolmetschen zu begegnen, baut Pena.ger derzeit ein Sprachmittler:innenpool mit Menschen auf, die Deutsch als Institutionssprache und zusätzlich Kurdisch (alle ­Dialekte), Türkisch, Farsi oder Arabisch sprechen. Das Ziel besteht darin, vor allem in Bezug auf marginalisierte Sprachen eine breitere Unterstützung und ein stärkeres Angebot zu gewährleisten. Ebenso sucht Pena.ger Telefon-Sprachmittler:innen, da es in vielen Orten und Regionen (bspw. Sachsen-Anhalt, Thüringen, Bayern und Mecklenburg-Vorpommern) an kurdischsprachigen und sensibilisierten Sprachmittler:innen mangelt.

Es ist auch geplant, Beschwerdestrukturen aufzubauen und lokale Pena.ger-Beratungsstellen in verschiedenen Städten und Regionen zu etablieren, um eine flächendeckende Anlaufstelle für Ratsuchende zu schaffen. Dies ist angesichts zunehmender Beschwerden von Geflüchteten über innermigrantischem Rassismus und institutioneller Diskriminierung    sowie der Notwendigkeit politischer und institutioneller Veränderungen von Bedeutung.

Mitwirkung und Unterstützung

Interessierte können sich auch online über Instagram unter @pena.ger, X unter @penagerr oder per E-Mail unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. melden.

Literaturverzeichnis

Jasim, D. (2020). Antikurdischer Rassismus: Eine Praxis ohne Gehör. https://anfdeutsch.com/hintergrund/antikurdischer-rassismus-eine-praxis-ohne-gehoer-19296 (Letzter Zugriff: 28.03.2024).

Jordan, Ch. (2023). Rotstift trotz Rekordzuwanderung. ­https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/migrationsberatung-finanzierung-100.html#:~:text=Insgesamt%20soll%20der%20Etat%20fhttps://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/migrationsberatung-finanzierung-100.html#:~:text=Insgesamt%20soll%20der%20Etat%20f (Letzter Zugriff: 28.03.2024).

Kasparek, B. (2023). Das Ende des Schutzes.   https://www.­medico.de/blog/das-ende-des-schutzes-19332 https://www.­medico.de/blog/das-ende-des-schutzes-19332 (Letzter ­Zugriff: 28.03.2024).

Mediendienst Integration (o.J.). Kurden in Deutschland. ­https://mediendienst-integration.de/gruppen/kurden.html (Letzter Zugriff: 28.03.2024).

PENA.GER (2023). Pena.ger: Beratung für Geflüchtete auf Instagram. https://anfdeutsch.com/aktuelles/pena-ger-beratung-
fur-gefluchtete-auf-instagram-40286
(Letzter Zugriff: 28.03.
2024).

PRO AYSL (2024). https://www.proasyl.de/news/in-der-tuerkei-verfolgt-von-deutschland-abgelehnt-kurdinnen-brauchen-schutz/ (Letzter Zugriff: 15.04.2024).

Sepehri, D. (2024). Niemand will Schuld sein. https://taz.de/Tod-in-der-Gefluechtetenunterkunft-Kusel/!5991188/ ­(Letzter Zugriff: 28.03.2024).


 Fußnote

1 Pena.ger verweist auf die Verbindung von zwei kurdischen Wörtern pena (Schutzort/Hilfe) und ger (Suche/Suchender). Angelehnt ist das zusammengesetzte Wort auch an penaber für Geflüchtete. Für diesen Namen wurde sich entschieden, um auf jemanden hinzuweisen, der Schutz sucht oder Hilfe benötigt.


Kurdistan Report 233 | Mai / Juni 2024