Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage

Die gesellschaftliche Frage1

Abdullah Öcalan

Der erste Teil des Textes ist im Kurdistan Report 232 abgedruckt².

2. Das gesellschaftliche Problem von Moral und Politik

Die Nachteile, die sich durch die Aufteilung des gesellschaftlichen Problems in einzelne Probleme ergeben, sind mir bekannt. Auch wenn diese Methode, die die eurozentrische Wissenschaft entwickelte, indem sie der analytischen Intelligenz keine Grenzen setzte, einige Errungenschaften aufzuweisen hat, lässt sich nicht leugnen, dass sie die Gefahr des Totalitätsverlustes der Wahrheit in sich birgt. Ihre Nachteile stets vor Augen und mir des Risikos, das gesellschaftliche Problem in einzelne ›Probleme‹ aufzuteilen, bewusst, werde ich diese Methode weiterhin anwenden. Später im Epistemologie-Teil werde ich andere Herangehensweisen diskutieren.

Nicht ohne Grund wurden im ersten Kapitel über die gesellschaftliche Frage Macht und Staat behandelt. Der Hauptgrund dafür ist, dass sie die Hauptquelle der Probleme bilden. Die Macht- und Staatsverhältnisse und -apparate, die mit ihrer ganzen Schwere über und – seit dem sechzehnten Jahrhundert – in der Gesellschaft wirksam wurden, haben im Wesentlichen die Funktion inne, die geschwächte und ihrer Selbstverteidigungsfähigkeit beraubte Gesellschaft für die Ausbeutung durch das Monopol vorzubereiten. Diese Definition von Macht und Staat ist von großer Bedeutung. Die Behauptung, Macht und Staat seien ausschließlich die Gesamtheit der Gewaltapparate und -verhältnisse, birgt eine ernsthafte Unzulänglichkeit in sich. Meines Erachtens ist es die wichtigste Rolle dieser Apparate, die Gesellschaft zu schwächen und ihrer Selbstverteidigungsfähigkeit zu berauben. Diese Rolle nehmen sie wahr, indem sie das ›Daseinsmittel‹ der Gesellschaft, d.h. ihr moralisches und politisches Gefüge, stetig schwächen und ihnen verunmöglichen, zu funktionieren und ihre Rolle zu spielen. Die Gesellschaft kann nicht weiterexistieren, ohne den Bereichen der Politik und Moral zur Existenz zu verhelfen.

Die grundsätzliche Rolle der Moral ist es, die Gesellschaft mit Regeln auszustatten, derer sie zum Weiterbestehen und Überleben bedarf, und ihr die Fähigkeit zu verleihen, diese umzusetzen. Eine Gesellschaft, die ihre Existenzregeln und die Fähigkeit, sie umzusetzen, eingebüßt hat, ist nichts als eine Tierherde und kann unter diesen Umständen einfach ausgenutzt und ausgebeutet werden. Die Rolle der Politik ist es, die für die Gesellschaft notwendigen moralischen Regeln zu bieten und zudem ständig die Mittel und Methoden zur Befriedigung der grundsätzlichen materiellen sowie geistigen Bedürfnisse der Gesellschaft zu diskutieren und zu entscheiden. Die Gesellschaftspolitik führt mit den auf dieser Grundlage entwickelten Diskussions- und Entscheidungsfähigkeiten zu einer lebhafteren und aufgeschlosseneren Gesellschaft und bildet den wesentlichsten Existenzbereich der Gesellschaft, der sie die Fähigkeit, sich selbst zu verwalten und ihre Angelegenheiten selbst zu lösen, verleiht. Die unpolitische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die einem enthaupteten Huhn ähnlich hin und her rennt, ehe ihr Tod eintritt. Der effektivste Weg, um eine Gesellschaft funktionsunfähig zu machen und zu schwächen, ist, sie der Politik (mit dem islamischen Ausdruck: der Scharia), also ihrer Gesellschaftlichkeit und der zur Befriedigung ihrer materiellen sowie geistigen Bedürfnisse notwendigen Diskussions- und Entscheidungsorgane, zu berauben. Kein anderer Weg kann für die Gesellschaft zu so großen Nachteilen führen.

Aus diesem Grund ersetzten die Macht- und Staatsapparate und -verhältnisse zunächst die gesellschaftliche Moral durch das ›Recht‹, ihre Politik durch ›Staatsverwaltung‹. Die Moral- und Politikfähigkeit der Gesellschaft, ihre beiden grundsätzlichen Daseinsstrategien, zu verhindern und sie durch das Recht und die Verwaltung der Herrschaft zu ersetzen, bilden jederzeit grundsätzliche Aufgaben von Macht und Staat. Wenn diese Aufgaben nicht erfüllt werden, können weder Kapitalakkumulation noch Ausbeutungsmonopole existieren. Jeder einzelne Moment der fünftausendjährigen Zivilisationsgeschichte ist voller Angriffe, die darauf abzielen, die Moral- und Politikfähigkeit der Gesellschaft zu brechen und sie durch das Recht und die Verwaltung der Kapitalmonopole zu ersetzen. So sieht die nackte Zivilisationsgeschichte mit ihren wahren Beweggründen aus und eine richtige Geschichtsschreibung ist nur möglich, wenn diesen Beachtung geschenkt wird. Im Kern aller gesellschaftlichen Kämpfe in der Geschichte steckt diese Tatsache. Soll die Gesellschaft gemäß ihrer eigenen Moral und Politik leben oder lässt man sie gemäß dem Recht und der Verwaltung der ungebändigten Ausbeutungsmonopole wie eine Tierherde vegetieren? Mit den Worten, die unfassbare ›krebsartige Vergrößerung‹ des Rechts und der Verwaltung von Macht und Staat stelle die Hauptursache der Probleme dar, möchte ich eben diese Tatsache ausdrücken.

Es gilt einen weiteren Aspekt zu erhellen. Wenn die Hierarchie zum ersten Mal etabliert wird und ›Erfahrung‹ und ›Expertise‹ gesellschaftliche Bedeutung erlangen, wird von ihnen – unabhängig davon, ob man sie Staat oder Autorität nennt – ein Nutzen erwartet. Dass die Gesellschaft den Staat und die Autorität (Macht) nicht als gänzlich negativ betrachtet, rührt von diesen Erwartungen her. Die Gesellschaft erwartet von der Macht und dem Staat Erfahrung und Expertise und bildet sich ein, dadurch werde sie sich ihre Angelegenheiten erleichtern. Die Gründe, aus denen sie die Existenz des Staates erträgt, sind diese beiden Faktoren. Erfahrung hat nicht jeder. Auch Expertise kommt nicht jedem zu. Der Staat und die Autorität, die im Laufe der Geschichte diese berechtigte Erwartung ausnutzten, verwandelten allerdings die Verwaltung in einen Bereich, in dem die inkompetentesten, unerfahrensten und jeglicher Expertise fernen Personen beschäftigt werden, in dem gefaulenzt wird, anstatt das Recht umzusetzen, intrigiert wird, anstatt erfahrungsbasiert zu arbeiten. Große Degenerationen und Katastrophen hängen eng mit diesen großen Abweichungen und Verkehrungen zusammen.

Dass die Bourgeoisie, die historisch vor allem einen Ausdruck der krebsartigen Entwicklung der Mittelklasse darstellte, sich mitten in der Gesellschaft, in ihrem ›Schoß‹, positionierte, ihre egoistischsten Interessen als ›Recht‹ und ihre äußerst degenerierte Verwaltung als ›konstitutionelle Regierung‹ präsentierte und aus diesem Grund die Macht und den Staat in unzählige ›Apparate‹ und angebliche Expertisefelder aufteilend vermehrte, war eine regelrechte Katastrophe. Die Gesellschaft kam vom Regen in die Traufe.

Die grenzenlosen Diskussionen des Liberalismus, dieser Finesse der Vernunft der Bourgeoisie, über Themen wie ›Republik‹, ›Demokratie‹, ›Verfassung‹, ›Verkleinerung der Verwaltung‹, ›Einschränkung von Macht und Staat‹ verschleiern nicht nur die Wahrheit, sondern sind zudem noch Träger von gegenteiligen Inhalten. Die Fähigkeit der Bourgeoisie, die Verfassung, Republik und Demokratie zu entwickeln, die Verwaltung zu verkleinern und die Macht und den Staat einzuschränken, ist nicht einmal so groß wie die der Mittelklasse in der Antike. Denn, was diese edlen Begriffe dysfunktionalisiert, ist die materielle Beschaffenheit der Mittelklasse, ihre Existenzweise. Wie soll die Gesellschaft, die im Altertum über sich einen König oder eine Dynastie mit Ach und Krach ertragen konnte, die grenzenlos gewordenen bürgerlichen Apparate und Dynastien ertragen können? Absichtlich verwende ich den Begriff ›bürgerliche Apparate und Dynastien‹. Denn beides teilt denselben Ursprung. Die Bourgeoisie übernahm ihre ganze Verwaltungs- und Regelungskunst von ihren Vorgängern, den großen aristokratischen und monarchischen Dynastien. Sie besitzt keine Fähigkeit zur Selbstschöpfung. Die krebserregende Auswirkung der Macht- und Staatsverhältnisse sind auf die Klassennatur der Bourgeoisie zurückzuführen. Die Natur der Mittelklasse ist faschismusgeladen.

Folglich gehört es zu den grundsätzlichsten Problemen, dass die Bourgeoisie die moralischen und politischen Gefüge der Gesellschaft verkrüppelt und dysfunktionalisiert. Zweifellos lassen sich die moralischen und politischen Gefüge und Bereiche nicht gänzlich vernichten. Solange die Gesellschaft existiert, werden auch Moral und Politik existieren. Da aber Macht und Staat aufhören, Expertise- und Erfahrungsfelder zu sein, können Moral und Politik nicht mehr ihre kreative und funktionale Fähigkeit wahrnehmen. Es ist offensichtlich, dass die Macht- und Staatsapparate und -verhältnisse (Medien, Nachrichtendienste und spezialisierte OperationstrupDer erste Teil des Textes ist im Kurdistan Report 232 abgedruckt².pen jeglicher Art, ideologische Lehren usw.) heute der Gesellschaft, die sie bis in ihre feinsten Poren durchdrungen haben, die Kehle abschnüren und sie in eine Lage versetzen, in der sie sich nicht mehr wiedererkennen, keine ihrer moralischen Prinzipien umsetzen, über ihre grundsätzlichsten Bedürfnisse weder politisch diskutieren noch Entscheidungen treffen (demokratische Politik) können. Dass die viel diskutierten und wahren herrschenden Mächte der Gegenwart, die ›globalen Konzerne‹, also die ewigen Monopole, den größten Kapitalboom der Geschichte in dieser Ära erzielten, hängt eng damit zusammen, dass die Gesellschaft in diese Lage versetzt wurde. Ohne den Verfall und die Zersplitterung der Gesellschaft könnte man auf virtuellem Wege, d. h. ohne jemals irgendein Produktionsmittel zu berühren, niemals aus Geld so viel mehr Geld machen. Die Gewinne der Monopole im Laufe der Geschichte und ihre gegenwärtig exorbitanten Gewinne, als wüchse Geld auf Bäumen, werden dadurch erzielt, dass Dasein und Gehirn der Gesellschaft leergefegt werden. Denn »Geld wächst nicht auf Bäumen!«

Ich muss wiederholen, dass nicht nur die grenzenlos vermehrten Macht- und Staatsapparate und -verhältnisse die Gesellschaft in diese Lage versetzen, sondern dass mithilfe der Medien, die eine zumindest genauso effektive Hauptquelle der Hegemonie darstellen, gleichzeitig die ideologische Eroberung der Gesellschaft vollzogen wird. Ohne sie durch die Ablenkung mittels Nationalismus, Religionismus, Sexismus, Szientismus und Artismus (die Industrialisierung der Kunst und insbesondere des Sports) zu verblöden, könnte weder alleine durch die Macht- und Staatsapparate und -verhältnisse ein derartiger gesellschaftlicher Verfall erzeugt werden, noch könnten die virtuellen globalen Konzerne (gemeint ist das Finanzkapital, das Geldkapital) und die historischen Monopole die Gesellschaft ihrer Gesellschaftlichkeit berauben und sie einer grenzenlosen Ausbeutung aussetzen, die einem Soziozid gleichkommt.


 Fußnote

1 Aus: Soziologie der Freiheit (= Manifest der demokratischen Zivilisation, Band III). Münster 2020. S. 129-133.
2 https://kurdistan-report.de/index.php/archiv/2024/114-kr-232-maerz-april-2024/1558-die-gesellschaftliche-frage


Kurdistan Report 233 | Mai / Juni 2024