Editorial

 

Liebe Leser:innen,

als in der nordkurdischen Provinz Wan plötzlich junge Menschen begannen, die Straßen ihrer Stadt zu fegen, hatte sich etwas ereignet, das man vielleicht als eine Zäsur in der Herrschaftszeit des AKP-Regimes bezeichnen kann.

In Wan und vielen anderen Städten und Provinzen Nordkurdistans hatte die DEM-Partei gerade zahlreiche Wahlerfolge erzielt. Bei den ­Kommunalwahlen am 31. März 2024 musste das AKP-Regime trotz des Einsatzes staatlicher ­Mittel für den Wahlkampf, trotz der Gleichschaltung der Medien und schließlich auch Wahlmanipulationen eine herbe Niederlage einstecken. Sie unterlag nicht nur in den kurdisch dominierten Gebieten der DEM, sondern auch im Westen der Türkei der CHP. Zum ersten Mal seit den Parlamentswahlen 2002 ging die AKP nicht als stärkste Partei aus den Wahlen hervor.

Kurz nach den Kommunalwahlen trat dann das ein, was viele erwartet ­hat­ten. Das AKP-Regime war nicht bereit, seine Niederlage in ­Nordkurdistan einzugestehen. Während bei früheren Kommunalwahlen die gewählten Bürgermeister:innen abgesetzt und inhaftiert wurden, hatte die AKP dieses Mal einen anderen Plan. Für die Provinz Wan wurde ein Wahlputsch vorbereitet, nach dem die Kandidatur des DEM-Kandidaten Abdullah Zeydan im Nachhinein annulliert wurde. Der AKP-Kandidat, der nur knapp die Hälfte der Stimmen des DEM-Kandidaten erhalten hatte, sollte die Stadt regieren. Doch das AKP-Regime hatte nicht mit der Reaktion der Bevölkerung auf diese Entscheidung gerechnet.

Zehntausende Menschen gingen in Wan und anderen Teilen Nordkurdistans auf die Straße. Sie trotzten der Gewalt von Polizei und Militär und ignorierten die von der Regierung verhängten Versammlungsverbote. Auch die türkischen Oppositionsparteien, angesteckt vom Mut der DEM-Partei und der kurdischen Bevölkerung, bezogen Stellung gegen die Pläne der AKP. Schließlich musste das Regime in Ankara einlenken und die Wahl von Abdullah Zeydan und seiner Co-Vorsitzenden Neslihan Şedal anerkennen.   

Die Menschen in Wan haben nicht nur erfolgreich ihren Wählerwillen gegen das Vorgehen des autoritären AKP-Regimes verteidigt. Sie haben auch ein anderes, partizipatives und selbstverwaltetes Verständnis von Kommunalverwaltung verteidigt. Und so war es selbstverständlich, dass sie nach dem erfolgreichen Widerstand gegen das AKP-Regime und den Staatsapparat als erstes die Straßen ihrer Stadt fegten und gemeinsam mit ihren legitimen Vertreter:innen feierten. Es sind Bilder wie diese, die dem Freiheitskampf in Bakûr, in ganz Kurdistan und darüber hinaus Hoffnung und vor allem Kraft geben.

Der erfolgreiche Widerstand in Wan und die Wahlniederlage vom 31. März machen deutlich: Die AKP ist angeschlagen. Das sollte aber kein Grund sein, das Regime Erdoğans abzuschreiben. Im Gegenteil: Gerade in der jetzigen ­Situation könnten die türkischen Machthaber auf eine Eskalation des Krieges setzen. Als das AKP-Regime bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 seine absolute Mehrheit verlor, trug es den Krieg nach Kurdistan, um an der Macht zu bleiben. Dieser Krieg dauert bis heute an. Und auch aktuell gibt es neue Drohungen für weitere kriegerische Offensiven des türkischen Staates in Südkurdistan und Rojava.

Die Kommunalwahlen und der Widerstand von Wan waren also ein Etappenerfolg gegen das AKP-Regime. Doch die entscheidende Auseinandersetzung zwischen dem Regime und der kurdischen Freiheitsbewegung steht möglicherweise unmittelbar bevor.

Eure Redaktion


 Kurdistan Report 233 | Mai / Juni 2024