Auswertung der Fachtagung
»Der Weg zum Frieden in Kurdistan: Friedensmodelle im internationalen Vergleich«
Emel Engintepe, Kurd-Akad: Netzwerk kurdischer AkademikerInnen e. V.
Friedensgespräche bilden eine unerlässliche Voraussetzung zur Beilegung gewaltsamer Konflikte. Dem Dialog und den Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien muss jedoch auch ein progressiver Friedensprozess folgen, um eine stabile Lösung zu schaffen.
Seit dem Frühjahr 2013 hat sich eine neue Möglichkeit für Frieden in Nordkurdistan (Türkei) eröffnet. Der Gesprächsprozess zwischen Vertretern der türkischen Regierung und der kurdischen Partei zur friedlichen Lösung der politischen und sozialen Konflikte ist eingeleitet und durch den Rückzug der bewaffneten kurdischen Guerillaeinheiten vom türkischen Staatsgebiet bestätigt. Doch die Verhandlungen sind nach mehreren Monaten ins Stocken geraten.
Auf der Fachtagung (25.01.2014, Dortmund) wurde in zwei aufeinander folgenden Foren und in einer Abschlussdiskussion debattiert, welche Möglichkeiten die Friedensverhandlungen für eine politische Lösung der kurdischen Frage bieten: Das erste Forum bot einen Vergleich mit ethnisch und konfessionell konnotierten Friedensprozessen an den Beispielen Nordirland und Baskenland. Das zweite Forum richtete den Fokus auf die kurdische Frage auf dem Staatsgebiet der Türkei und die gegenwärtigen Bedingungen für einen Friedensprozess.
Welche Lehren ergeben sich aus internationalen Friedensprozessen?
Dr. Uschi Grandel (Info Nordirland/Info Baskenland) erläuterte eingangs, dass jeder Friedensprozess zwar einzigartig sei, dass jedoch Machtstrukturen und -mechanismen ähnlich wirken, so im Kolonialismus und im Imperialismus. Daher könne aus den Konzepten, Errungenschaften und Fehlern der anderen gelernt werden.
Der Nordirland-Konflikt sei durch die koloniale Haltung Großbritanniens zu erklären. Die Unabhängigkeitsbewegung der Iren sei aus einem faktisch britischen Apartheidsregime hervorgegangen und zunehmend konfessionell ausgelegt worden. Der Waffenstillstand der IRA (Irish Republican Army) von 1994 war ein erster Schritt zur politischen Lösung, woraufhin 1998 das Belfaster Abkommen/Karfreitagsabkommen unterzeichnet wurde.
Demokratisierung und Entmilitarisierung
Der wesentliche Gehalt des Friedensabkommens in Nordirland sei die Demokratisierung der Staatsstrukturen gewesen, wie auch die des Geheimdienstes von Nordirland, und die Befriedung der bewaffneten Kontrahenten. Das Friedensabkommen sei nicht nur wegen stattgefundener Entmilitarisierung erfolgreich gewesen, sondern insbesondere auch, weil es Polizeireformen beinhaltete, die ein modernes Polizeirecht mit Stadträten als Kontrollgremien zustande gebracht haben.
Zivilgesellschaftliche Aussöhnung und internationale Kooperationen
Zusammengefasst sind aus Sicht der Referentin die Beteiligung der Bevölkerung und der Zivilgesellschaft wesentliche Garanten für einen stabilen Friedens- und Aussöhnungsprozess, wozu auch das Zugehen auf die reaktionären Parteien gehöre. Aber auch eine internationale Unterstützung durch andere Freiheitsbewegungen sei wichtig, wie die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen der nordirischen Unabhängigkeitsbewegung und dem südafrikanischen ANC (African National Congress) beweise. Die Unterstützung durch die großen irischen Communities in den USA und in Großbritannien scheine ebenso bedeutsam. Schließlich sei die Aufarbeitung der Vergangenheit unerlässlich, so geschehen durch die nordirische Kampagne für Gerechtigkeit gegenüber den Opfern von Staatsterrorismus.
Politisierung entgegen den Interessensdivergenzen
Der Konflikt im Baskenland existiere seit der Franco-Diktatur, da ein geordneter Übergang vom Faschismus zur Demokratie nicht gelungen sei. Der bewaffnete Kampf und die Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht im Baskenland seien vor allem gegen den zentralistischen spanischen und französischen Nationalstaat gerichtet.
Während der Friedensverhandlungen sei es immer wieder zu Anschlägen gekommen. Trotz der anhaltenden Friedensverhandlungen zwischen 2005 und 2007 herrsche ein gesundes Misstrauen gegenüber den Profiteuren des Konflikts, die größtenteils im spanischen Staat verortet werden; denn nicht der Konflikt werde von den Kriegsprofiteuren als Bedrohung empfunden, sondern ein möglicher politischer Lösungsprozess.
Der spanische Staat fürchte die Politisierung der Basken (baskische linke Unabhängigkeitsbewegung) stärker als eine bewaffnete Auseinandersetzung: Zunächst, während der bewaffneten Auseinandersetzungen in den 1980er Jahren, propagierte der spanische Staat, die Basken sollten ihre Rechte durch friedliche und politische Beteiligung durchsetzen. Nach den politischen Erfolgen in den 1990ern wurde die baskische Bewegung als »Ableger der terroristischen ETA« diffamiert. Darauf folgten staatlich initiierte Massenprozesse gegen politische Betätigung, wie beispielsweise der gegen Jugendliche und Jugendorganisationen. Daraus ließe sich schlussfolgern, dass der spanische Staat keine politischen Lösungen und Antworten anbieten konnte oder es an Lösungsbereitschaft mangelte.
Grundpfeiler eigener Politik
Infolgedessen wurden durch die baskische Bewegung unerlässliche Säulen (2010) bestimmt, zu denen die Unterstützung durch die baskische Bevölkerung gehört und ihre Mobilisierung auf der Straße; es gehört aber auch dazu, die internationale politische Gemeinschaft in ihrer Vermittlerrolle zu gewinnen.1 Außerdem besteht die Prämisse, jedwede Gewalt auf den Straßen zu vermeiden.
Neustrukturierung des Nahen Ostens
Der Nahost-Experte Dr. Michael Lüders wies darauf hin, dass Friedensprozesse als langwierige Entwicklungen zu betrachten seien, wie die Beispiele Nordirland und das Baskenland verdeutlichen. Es gebe auch stets bestimmte Gruppen, die an einem Wandel nicht interessiert seien und auf ihren bestehenden Privilegien beharren. Die Kurden seien, historisch betrachtet, Verlierer der Aufteilung der osmanischen Gebiete nach dem Ersten Weltkrieg, doch gegenwärtig eröffneten sich neue Chancen, wie durch die südkurdische Autonomieregion im Nordirak oder in Syrien erkennbar wird. Doch ein Grundproblem seien die noch immer bestehenden feudalen Strukturen (ethnisch, konfessionell), die nationale Identitätsbildung behinderten und politische Kleinstgebilde ohne staatliche Einheit beförderten. Eine voranschreitende Fragmentierung der Gebiete sei jedoch bedenklich, da das Fortbestehen von Kleinstaaten ohne gemeinsame Wirtschaftseinheit und pluralistisch verfasste Freiheitsordnung fraglich sei. Ein kurdisches Nationalstaatsgebilde sei schwierig durchzusetzen und dagegen sei eine kulturelle sowie politische Autonomie, die Verwirklichung von Rechtsstaatlichkeit und eine konsequente Entmilitarisierung von größerem Belang.
Welche gesellschaftlichen und politischen Forderungen stehen in der Türkei zur Debatte?
Der Parlamentsabgeordnete der BDP (Partei für Frieden und Demokratie) für Şirnex (Şırnak)/Türkei, Hasip Kaplan, wies auf die bedeutenden Errungenschaften der kurdischen Bewegung hin. Die kurdische Identität und Kultur seien vor vollkommener Assimilation bewahrt und ein Mindestmaß an Akzeptanz sowohl in der Türkei als auch auf der internationalen Weltbühne geschaffen worden. Mittlerweile seien die größtenteils kurdisch besiedelten Gebiete in Nordkurdistan (Türkei) über die Kommunalverwaltungen durch BDP-Mitglieder dominiert. Abdullah Öcalan werde als Repräsentant der Kurden wahrgenommen und sei bestimmend für eine Demokratisierung und Befriedung der Türkei. Im Westen der Türkei werde ein Demokratisierungs- und Friedensprozess für die ganze Türkei debattiert. Doch der türkischen Regierung fehle es an Initiative und Programmen, Freiheiten und Grundrechte zu schaffen, wie bspw. der Stillstand der Verfassungskommission zeige. Die vielfältige Gesellschaft in der Türkei müsse sich in einem pluralistischen Parlament und in einer integrativen Politik widerspiegeln.
Hasip Kaplan verwies auf internationale Friedensprozesse, die zeigten, dass konkrete Lösungsschritte den eigentlichen Friedensprozess einleiten. So wurde erst mit der Umsetzung der Generalamnestie von politischen Gefangenen in Nordirland der Weg zu einem Friedensprozess beschritten.
Mit welchen Maßnahmen sollte der Prozess von Aussöhnung und Ausgleich zwischen den Konfliktparteien und der Gesamtgesellschaft gesichert werden?
Juristische Aufarbeitung von Verbrechen
Der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD (Insan Hakları Derneği), Öztürk Türkdoğan, gab zunächst einen Überblick über die Rechtsgrundlagen des Internationalen Völkerrechts der Vereinten Nationen (Römisches Statut, 1998), auf die sich der Menschenrechtsverein beruft, die jedoch überwiegend von der türkischen Regierung nicht getragen werden bzw. unerfüllt bleiben. Eine Aufarbeitung und Aufklärung durch juristische Ermittlungen und Verfahren zu sichern, sei sowohl für die Opfer und deren Angehörige von Bedeutung als auch für die gesamte Gesellschaft. Untersuchungen und Zahlenmaterial der NGOs unterscheiden sich erheblich von den wenigen Untersuchungen des Staates, wie die Ermittlungen zu den Opfern von Vertreibung und den Opfern von unrechtmäßigen Hinrichtungen zeigen.
Die Regierung habe zwar ein paar wenige Untersuchungen über parlamentarische Untersuchungsausschüsse durchführen lassen, doch diese überwiegend nicht abschließend ausgewertet. Sämtliche Untersuchungen der Regierungen folgen der Begründung der Terrorismusbekämpfung und betrachten die Vorfälle im Rahmen der staatlichen Sicherheitspolitik. Die Perspektive, Freiheitsrechte zu wahren oder der Diskriminierung und Unterdrückung von bspw. den Kurden entgegenzuwirken, wird nicht eingenommen.
Zivilgesellschaftliche Aufarbeitung und Aussöhnung
Auf der anderen Seite wurde der Rat der Weisen mit ernsthaften Anliegen gegründet, auch wenn seine Ergebnisse noch ausstehen. Es gebe weitere zivilgesellschaftliche Initiativen, wie die des Friedensrats, einiger Menschenrechtsinitiativen und zudem eine Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission zu den Foltervorfällen im Gefängnis No. 5 von Amed (Diyarbakır) mit über 800 Opferberichten. Der Menschenrechtsverein setze sich für eine Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission auch für jüngere Verbrechen ein, denn die Täter seien teilweise noch immer in Posten und Ämtern. Zur Aufarbeitung gehöre aber auch die Neubewertung der Geschichtsschreibung seit dem Ende des Osmanischen Reiches. Der staatlich verordnete türkisch-sunnitische Nationalismus habe eine intolerante und brutale Assimilationspolitik forciert, weshalb historische Geschichtsdeutungen z. B. zur Jungtürkenbewegung, den Genoziden und Massakern an Armeniern/Assyrern, Griechen, Aleviten u. a. überarbeitet werden müssten. Eine Anerkennung historischer Verbrechen/Genozide im Rahmen einer gesellschaftlichen Aussöhnung seitens der türkischen Regierung stehe noch immer aus. Auch der Völkermord an den Armeniern und Assyrern, aber auch andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit würden noch immer nicht akzeptiert und eine historische Aufarbeitung mittels Erinnerungs- und Gedenkkultur verhindert.
Welche Faktoren wirken auf den Friedensprozess?
Der Rechtswissenschaftler Prof. Mithat Sancar erläuterte eingangs seine Grundannahme, nach der Friedensprozesse nicht auf Vertrauensverhältnissen basieren. Es sei darauf zu bauen, dass eine der Seiten demokratisch motiviert ist. Der Friedensprozess werde von den unterschiedlichen Parteien nicht nur aus idealistischen und humanistischen Gründen eingeleitet und vollzogen, sondern eigentlich, um unterschiedliche Ziele und Forderungen durchzusetzen.
Grundlegend stehe gegenwärtig die Frage im Raum, inwiefern die Neustrukturierung des Nahen Ostens durch Kriege oder politische Vereinbarungen bevorstehe. Es stehe außerdem zur Debatte, wie dieser Nahe Osten, der durch vielfältige Ethnien und Konfessionsgemeinschaften unter unterschiedlichen politischen Konstrukten geprägt sei, gestaltet werden wird, kleinstaatlich oder durch größere Einheiten. Kleinstaatsverfechter müssten viele kriegerische Auseinandersetzungen, ob nun im Irak, in Syrien oder im Iran, in Kauf nehmen.
Dahingegen werde ein Föderalismus bzw. Konföderalismus im Nahen Osten von der kurdischen Bewegung als strategisches Ziel verfolgt, das weniger eine nationalstaatliche Loslösung aus den jeweiligen Staaten favorisiert als vielmehr die Durchsetzung von Selbstverwaltungs- und Partizipationsstrukturen in den jeweiligen Staaten.
Welche Lösungswege eröffnen sich?
Die Sprecherin der Initiative »Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan«, Havin Güneşer, bestätigte, so wie auch aus den Beiträgen zu Nordirland und dem Baskenland deutlich wurde, ein Vergleich mit internationalen Friedensprozessen zeige, dass die Phase offizieller Friedensgespräche und -verhandlungen äußerst sensibel sei. So habe es in Südafrika zeitgleich zu den Verhandlungen Übergriffe und Massaker, bis hin zu Genoziden gegeben. Selbst als Mandela freigelassen wurde, habe es Morde an Aktivisten gegeben.
Mandela sei jahrzehntelang als Terrorist gebrandmarkt worden, nicht nur vom südafrikanischen Apartheidsregime, sondern auch von der internationalen Staatengemeinschaft. Eine internationale Unterstützung sei deshalb nicht zwingend vorhanden, sondern ergebe sich auch zu unterschiedlichen Phasen.
Es sei deutlich, dass internationale Mächte durch ihre Politik (historisch) konfliktverursachend oder -schürend wirken können, wie beispielsweise durch eine imperialistische Interessenspolitik im Nahen Osten, deren Auswirkungen die Kurden durch Unterdrückung erleiden müssen. Im Bürgerkrieg in Syrien sei das Interessengemenge deutlich spürbar. Einerseits werden die Kurden zu einer eindimensionalen Haltung aufgefordert, sich entweder für oder gegen das Assad-Regime zu positionieren. Andererseits werde ihr dritter Weg eigener Verwaltungsstrukturen ignoriert und sie würden als Akteure ausgegrenzt, wie jüngst in der Genfer Konferenz, zu der sie nicht eingeladen wurden.
Von kurdischer Seite erarbeitete Lösungskonzepte wie zur Demokratisierung der türkischen Staatsstrukturen oder zur Schaffung föderaler Verwaltungsstrukturen würden nicht wahrgenommen. Abdullah Öcalan verteidige seine Konzepte zur Befriedung, Demokratisierung und Föderalisierung der Türkei und des Nahen Ostens, die unbestritten dem Gedanken der Völkerverständigung folgten. Um den Friedensprozess zu beschleunigen und zu sichern, setze sich die Initiative für seine schnellstmögliche Freilassung ein.
Eine ausführliche Dokumentation mit den wesentlichen Inhalten der Rede- und Plenumsbeiträge ist auf der Homepage des Vereins www.kurd-akad.com zugänglich.
1 Höhepunkt des Friedensprozesses bildete eine Friedenskonferenz mit baskischer Zivilgesellschaft und unter Beteiligung repräsentativer Akteure der internationalen Gemeinschaft, wie Kofi Annan und Gerry Adams.
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