Gründung der Gemeinschaft der Frauen Kurdistans KJK
Eine neue Etappe in der Kurdistan-Frauenfreiheitsbewegung
Gönül Kaya, Aktivistin der kurdischen Frauenbewegung
Der Mittlere Osten ist der geographische Raum, in dem die 5 000-jährige staatlich-etatistische Klassengesellschaft ihre tiefsten Wurzeln geschlagen hat. Das Chaos und die Krise der Gegenwart sind auch Ausdruck der in diesen 5 000 Jahren ungelösten gesellschaftlichen Probleme. Doch wenn wir jenseits dieser Periode schauen, werden wir erkennen, dass der Mittlere Osten auch die Region ist, in der die frauenzentrierte natürliche Gesellschaft ihren Ursprung hat. Die Geschichte der Region vor Einbruch der staatlich-etatistischen und patriarchalen Gesellschaft beherbergt somit ebenso eine Zivilisationsgeschichte, die wir auch als die Geschichte der demokratischen Zivilisation bezeichnen können. Wir haben es also im Mittleren Osten eigentlich mit zwei Zivilisationen zu tun, deren Macht und Geisteshaltung stets im Widerspruch zueinander standen und weiterhin stehen.
In unserer Gegenwart hat die Zivilisation des patriarchalen Systems ein Tableau der Ausbeutung, Zerstörung, Vergewaltigung und des Massakers hinterlassen. Unschwer ist zu erkennen, dass sich die gesellschaftlichen Probleme im Zuge dieser Zivilisationsgeschichte immer weiter verschärft haben. Das patriarchale System hat auch keinen Anspruch darauf, diese Probleme zu lösen, denn es ist deren Erzeuger. Der Widerpart dieses Systems, die Geisteshaltung und die Kräfte der demokratischen Zivilisation, wurde unter seiner Herrschaft stets mit Gewalt unterdrückt, aber zu keinem Zeitpunkt vernichtet. Die Spuren der demokratischen Zivilisation können wir in der Realität der Frauen, der Völker, des Glaubens und der Kultur wiedererkennen. Die Geographie des Mittleren Ostens ist somit zugleich Zeugin einer Unterdrückungs- und Leidensgeschichte als auch einer Geschichte großer Widerstände.
Die ersten SklavInnen der Menschheitsgeschichte sind die Frauen. Die Versklavung der Gedanken, des Körpers und des Willens der Frau stellt die erste Form der Sklaverei dar. Die Versklavung der Gesellschaft durch den herrschenden Mann ist erst die Folge der Versklavung der Frau durch den Mann. So gesehen ist die Realität der Frau zugleich auch die Stammzelle der demokratischen Zivilisation. Wenn das historisch aufgearbeitet wird, lässt sich verstehen, wie es dazu kam, dass die Frauen durch Religion, Gesetz und Tradition auf so grausame Weise unterdrückt und massakriert wurden/werden.
Die sich seit den 1970ern organisierende kurdische Freiheitsbewegung hat im Zuge ihrer Entstehung und ihres Wandels die Frage der Freiheit der Frauen ins Zentrum ihrer Suche nach der Antwort auf die Frage der gesellschaftlichen Freiheit gestellt. In den rund vierzig Jahren Widerstand hat sie ihren revolutionär-demokratischen Fortschritt zweifellos vor allem ihren Errungenschaften im Frauenfreiheitskampf zu verdanken. Bereits zu ihren Gründungszeiten herrschte die Überzeugung vor, dass die Freiheit Kurdistans an die Freiheit der Frauen gekoppelt ist. Diese Überzeugung führte 1987 zur ersten autonomen Frauenorganisierung in Form der Union Patriotischer Frauen Kurdistans (YJWK). Dieser erste Schritt in Richtung autonomer Selbstorganisierung der Frau hatte das Ziel, dass die Frauen sich stark und organisiert am nationalen Freiheitskampf der KurdInnen beteiligen.
Doch auch wenn das Ziel zunächst die verstärkte Beteiligung der Frauen am Freiheitskampf war, begann diese Organisierung ab Anfang der 1990er sich ebenso mit den Frauen- und Familienverhältnissen in Kurdistan sowie mit den Auswirkungen des kolonialistischen Systems auf die kurdische Gesellschaft und auf das Verhältnis zwischen Mann und Frau auseinanderzusetzen. Eine federführende Rolle bei den Auseinandersetzungen mit diesen Themen spielte der Vorsitzende der kurdischen Freiheitsbewegung, Herr Abdullah Öcalan. Seine Aussagen wie »Der Grad der Freiheit einer Gesellschaft bemisst sich nach dem Grad der Freiheit der Frau in ihr« oder »Die Kurdistan-Revolution ist eine Revolution der Frau« haben schon früh deutlich gemacht, dass der Freiheitskampf in Kurdistan neben seinem nationalen auch einen sozialrevolutionären Charakter hat.
Das Interesse der Frauen am ideologischen Paradigmenwechsel in der kurdischen Freiheitsbewegung und dessen Einfluss auf die Perspektive der Frauenrevolution war groß. Ab den 1990er Jahren begannen Frauen aus allen Teilen der Gesellschaft, sich am Freiheitskampf zu beteiligen. Ihre Zahl in den Reihen der Guerilla wuchs, was den Freiheitskampf auf ein neues Niveau hob. Die politische Tiefe beeinflusste zugleich die gesellschaftliche, ideologische und kulturelle Selbstreflexion und die Freiheitssuche. Die Einflüsse des herrschenden patriarchalen Systems auf die Frauen und Männer innerhalb der Bewegung wurden genauer hinterfragt und reflektiert. Das einzelne Individuum zu durchleuchten, sich mit ihm auseinanderzusetzen, um die Einflüsse des kolonialistischen Systems darauf zu ergründen, war gängige Praxis innerhalb der PKK. Bei dieser Auseinandersetzung wurden mit dem Erstarken des Frauenfreiheitskampfes nun auch die Einflüsse des patriarchalen Systems auf jedeN EinzelneN hinterfragt und kritisiert. Diese Auseinandersetzungen blieben nicht allein in den Reihen der Bewegung, sondern wurden auch in die Gesellschaft getragen. Zu den wichtigsten Bildungsthemen mit der Zivilbevölkerung gehörte die Auseinandersetzung mit der Realität von Mann und Frau in der Gesellschaft sowie den Eigenschaften der patriarchalen Kultur. Der Widerstand richtete sich also seitdem nicht nur gegen den kolonialistischen Staat, sondern auch gegen die feudalen und kapitalistischen Eigenschaften in den eigenen Reihen.
So gewann neben dem antikolonialen und dem antikapitalistischen auch der antipatriarchale Charakter dieser Bewegung an Bedeutung. Im Zuge der quantitativen und qualitativen Fortschritte im Frauenfreiheitskampf folgte 1995 der nächste Schritt in der autonomen Frauenorganisierung. Auf dem Frauenkongress in den Bergen Kurdistans wurde der Freie Frauenverband Kurdistans (YAJK) gegründet. Mit dem YAJK schufen die Frauen ihre Organisierungsform, mit der sie ihrem eigenen Willen Ausdruck verleihen konnten. Der Frauenfreiheitskampf übernimmt im Freiheitskampf des kurdischen Volkes von nun an die zentrale Rolle. Die Aussage, die Gesellschaft könne sich nicht befreien, ohne dass die Frau sich befreit hat, findet in der Bevölkerung breiten Widerhall. Die Frauen beginnen ihre selbstständige Organisierung auf alle Teile des Freiheitskampfes auszuweiten. Von der Guerilla über den politischen bis hin zum sozialen Bereich entstehen autonome Frauenorganisierungen. Dies stärkt auch den Kampf um die Geschlechtergerechtigkeit im kurdischen Freiheitskampf. 1998 entwirft erneut der PKK-Vorsitzende die Frauenfreiheitsideologie, die Perspektive der mentalen und physischen Befreiung der Frau vom patriarchalen System und des Wandels der Männer. Mit dieser Perspektive entschließen sich die Frauen, sich das nächste Ziel zu setzen: gestärkt mit der Frauenfreiheitsideologie eine Frauenpartei zu gründen.
Maßgeblich für diesen Entschluss ist die Erkenntnis, dass die Freiheit der Gesellschaft durch die Freiheit der Frauen bestimmt werden kann. Da die erste Versklavung in der Geschichte ihren Anfang mit der Versklavung der Gedankenwelt nahm, muss die ideologische Frauenpartei sich das Ziel setzen, von den Gedanken angefangen bis hin zum Körper die Frauen vom patriarchalen System zu befreien. Ziel muss sein, mit der organisierten und widerstandsfähigen Frau im freien Land das freie Leben aufzubauen. Auch muss es das Ziel sein, die ästhetischen Werte der Frauen vom feudalen und kapitalistischen Maßstab zu lösen, sodass die Frau ihr eigenes Leben selbst gestalten und in die gesamte Gesellschaft tragen kann.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen muss die Frauenparteiwerdung zu mehr als bloß zur Gründung der Partei eines Geschlechts führen. Es wird zugleich auch beabsichtigt, den gesellschaftlichen Sexismus in der gesamten Gesellschaft zu überwinden. Die Frau wird dabei eine Vorreiterrolle übernehmen, aber der Mann muss sich mit dem Maßstab der Freiheit und Gerechtigkeit auch selbst reflektieren. Die Frauenpartei realisierte ihre Gründung im Jahr 1999 [als Arbeiterinnenpartei Kurdistans PJKK bzw. 2000 als Partei der Freien Frau PJA]. Heute hat sie sich zur Aufgabe gemacht, Frauen ideologisch, philosophisch, sozial, politisch und kulturell zu stärken und die Frauenfreiheitsideologie und die Wissenschaft der Frauen (Jineolojî) weiterzuentwickeln.
Nach Gründung der Partei der Freien Frau Kurdistans (PAJK) 2004 weitete sich die Selbstorganisierung der Frauen aus – in Form der Verbände der Freien Frauen (YJA) auf den gesellschaftlichen und politischen Bereich, mit den Einheiten der Freien Frauen STAR (YJA STAR) auf den Bereich der Selbstverteidigung, und auf den Bereich der jungen Frauen. All diese autonom arbeitenden Bereiche fanden sich 2005 unter dem Dach des Hohen Frauenrates (KJB) zusammen. Dessen Gründung fällt in denselben Zeitraum, in dem unser Vorsitzender Abdullah Öcalan für alle, die gegen die kapitalistische Moderne Widerstand leisten, das alternative Gesellschaftskonzept des Demokratischen Konföderalismus und das Projekt der Demokratischen Moderne vorschlug.
Auf dem KJB-Kongress im Jahr 2014 wurde eine neue Etappe in der Geschichte der autonomen Frauenselbstorganisierung genommen und das Organisationsmodell verändert. Der KJB wurde als Dach der Frauenorganisierung als unzureichend und zu eng bewertet. Es wurde beschlossen, die Organisierung der Frauen auf gesellschaftlicher Ebene müsse in Form eines konföderalen Systems angegangen werden, und aufbauend auf diesem Beschluss wurde die Gemeinschaft der Frauen Kurdistans (Komalên Jinên Kurdistan, KJK) gegründet.
Die KJK hat das Ziel, auf der kommunalen Ebene aufbauend in allen vier Teilen Kurdistans Kommunen, Räte, Akademien, Kooperativen und ähnliche Formen der Selbstorganisierung zu unterstützen und voranzutreiben. Die Frauen nehmen sich überall im konföderalen System das Leben in der Kommune zur Grundlage des gesellschaftlichen Lebens. Das Ziel ist es, jede Frau in den Kommunen zu organisieren.
Die KJK stellt die konföderale Einheit und das gemeinsame Dach der organisierten Frauenstrukturen und Einzelpersonen dar. In diesem System legt die PAJK ihren Fokus auf die ideologische Auseinandersetzung, die YJA Star entwickeln die Selbstverteidigung der Frau in allen Lebensbereichen und die Jungen Frauen (Komalên Jinên Ciwan) stärken ihre autonome Selbstorganisierung. Jede Organisation behält ihre Eigenheit, versteht sich aber zugleich als Teil der KJK. Und jede Organisation hat die Aufgabe, das System der konföderalen Organisierung der Frauen aufzubauen, zu stärken und zu schützen.
In ihrer Gründungserklärung stellt sich die KJK vor: »Komalên Jinên Kurdistan ist ein konföderales System, das sich auf Basis des demokratischen, ökologischen und frauenfreiheitlichen Paradigmas organisiert und die ideologische Vorreiterrolle der PAJK, die Selbstverteidigungskraft von YJA Star und die Kraft der Komalên Jinên Ciwan als zentrale Bestandteile ihres Systems versteht. Die organisierten Frauenstrukturen tragen die Verantwortung, nach den Prinzipien und der Arbeitsweise des Demokratischen Konföderalismus zu agieren. Bei den ideologischen, organisatorischen, politischen Fragen und den Fragen der legitimen Selbstverteidigung der Frauenfreiheitsbewegung, die von strategischer Bedeutung sind, fällt sie [die KJK] gemeinsame Entscheidungen und setzt sie um. Jede Teilorganisation arbeitet mit ihrer satzungsmäßigen Identität direkt und in Koordination mit den anderen Teilorganisationen.«
Die KJK-Organisierung erklärt sich als Gegnerin des Staatssystems und des etatistischen Verständnisses. Dementsprechend setzt sie sich auch ihre Selbstorganisierung über die Grenzen der Staaten hinweg auf der Basis von Respekt gegenüber der gesellschaftlichen Vielfalt und demokratischen Prinzipien zum Ziel.
Damit die demokratische Konföderation Kurdistans auf dem Prinzip der Frauenfreiheit beruhen kann, trägt die KJK große Verantwortung und hat bedeutende Aufgaben zu erledigen. Die KJK-Organisierung ist aber nicht allein für die kurdische Frau von Bedeutung, sondern sieht sich auch in der Verantwortung für die Frauenbewegungen auf der gesamten Welt. Gleichzeitig haben sowohl der Kampf der kurdischen Frauen als auch die Kämpfe der Frauen weltweit einen großen Erfahrungsschatz gesammelt. Die KJK will diese Erfahrungen in ihr neues Organisationsmodell einfließen lassen und mit diesem Bewusstsein den Aufbau der demokratischen Einheit der Frauen ermöglichen.
Damit nach 5 000 Jahren erneut eine Frauenzivilisation im geographischen Raum des Mittleren Ostens erblühen kann, müssen wichtige Aufgaben unter der Vorreiterrolle dieses Organisationsmodells gemeistert werden. Es steht außer Frage, dass die Welt Zeugin einer Frauenrevolution im 21. Jahrhundert sein wird. Mit dem Widerstand der Frauen von Rojava und Kobanê hat die Kurdistan-Frauenfreiheitsbewegung erneut der gesamten Welt ihren an sich selbst gestellten Anspruch kundgetan, diese historische Epoche zur Ära der Frauen und der Freiheit zu machen.