PKK-Verbot, die 22.
Eine neue Kraft entwickeln!
Wolfgang Struwe
Nun ist wieder »Jahrestag«. Im November 1993 sprach der damalige Innenminister Kanther der Bundesrepublik Deutschland das sogenannte »PKK-Verbot« aus. Es gab in der Vergangenheit viele Initiativen und Aktivitäten dagegen, kann in der momentan gegebenen politischen Sachlage an eine Aufhebung des Verbots zu denken sein?
Um die Diskussionen und Debatten des letzten Jahres ist es wieder ruhiger geworden. Dies konnte auch das Interview Cemil Bayıks mit dem NDR/WDR im April dieses Jahres nicht durchbrechen, der sich darin für die Eskalation im Rahmen der Protestaktionen in den 1990ern in Deutschland entschuldigte, die angeblich zur Durchsetzung des Betätigungsverbots für bestimmte kurdische Organisationen, Büros, Vereine, Verlage etc. geführt hatten. NAV-DEM, das Demokratische Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Deutschland e. V., sah in seiner Mitteilung zu der Erklärung des Kovorsitzenden der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) »eine Chance des Dialogs auch für und in Deutschland«. Die Bundesregierung antwortete schnell, sah dies allerdings anders und erklärte, dass die Äußerungen Bayıks keinen Anlass zu einer Neubewertung böten. Seitdem ist es in der Politik ruhig geworden um die Forderungen nach einer Aufhebung des Verbots.
Doch still ist es nicht geworden, denn immer mehr Gruppen ergreifen die Initiative. Es wird Flagge gezeigt, Parolen und »verbotene Symbole« tauchen auf, ob am Kirchturm in Lübeck, vor dem Reichstag in Berlin, an der Flora in Hamburg, am 1. Mai in Oldenburg, am Kasseler Herkules oder an Hauswänden in Göttingen ... In Solidaritätserklärungen mit Rojava, Şengal (Sindschar) oder zu den Anschlägen in Amed (Diyarbakır), Pirsûs (Suruç) oder jetzt Ankara, die Forderung nach der Aufhebung des PKK-Verbots ist weithin zentral geworden und wird von vielen neuen Kreisen unterstützt.
Das Verbot muss weg, das ist für viele deutlich geworden. Der Weg ist gekennzeichnet, und der Rahmen der Initiativen gegen das Verbot weitet sich stetig aus, die Initiativen werden vielseitiger. Und im Gegensatz zu den vergangenen Jahren, in denen die Aktivitäten begrenzt als Kampagne zum Jahrestag im November geführt wurden, haben sich die Forderungen nach der Aufhebung mit denen nach der Freilassung der gefangenen kurdischen PolitikerInnen und dem Stopp der militärischen und polizeilichen Unterstützung der Türkei in der allgemeinen Praxis durchgesetzt.
Von der Politik können wir nicht erwarten, dass von dieser Seite eine wirkliche Bereitschaft besteht, den Freiheitskampf der Kurdinnen und Kurden anzuerkennen. Das wird deutlich, wenn wir die Reaktionen auf die Eskalation der Kriegspolitik der AKP-Regierung betrachten. Welche Reaktionen gibt es auf die Bombardierung der Meder-Verteidigungsgebiete durch die türkische Luftwaffe, die seit dem Anschlag in Pirsûs Angriffe auf das von der PKK kontrollierte Gebiet fliegt? Am 1. August wurde ein ganzes Dorf zerstört und gezielt wurden ZivilistInnen unter Feuer genommen und getötet. Welche Auswirkungen haben die Angriffe der türkischen Armee auf die Bevölkerung in den Städten Nordkurdistans? Allein in Cizîr (Cizre) wurden bei der neuntägigen Belagerung der Stadt durch »Sicherheitskräfte«der Türkei 23 ZivilistInnen getötet. Welche Konsequenzen werden von der bundesdeutschen Politik wegen der Menschenrechtsverletzungen, der Schändung von Leichnamen, der gezielten Zerstörung von Friedhöfen durch das türkische Militär gezogen? Wer steckt wirklich hinter den Anschlägen von Amed, Pirsûs und Ankara? Wie kann ein Land wie die Türkei in die Diskussion als sicheres Herkunftsland kommen, das Parlamentswahlen nicht anerkennt, weil die Bevölkerung selbst bestimmt, an welche Partei sie ihre Stimme vergibt, und als Reaktion auf ein unerwünschtes Wahlergebnis mit Krieg und unbeschreiblichem Terror gegen die eigene Bevölkerung vorgeht? Was ist aus der Kritik an Erdoğans AKP-Regierung wegen der Unterstützung der Terrorbanden des Islamischen Staats und anderer DschihadistInnen geworden?
Die Antwort ist einfach. Zurzeit meint Erdoğan, dass er am längeren Hebel sitze und sich nicht reinreden lassen müsse in seinem Kampf um die Alleinherrschaft. War es in der bipolaren Welt die geostrategische Lage der Türkei im NATO-Verbund im Besonderen als Stützpunkt gegen die Sowjetunion, so ist die Türkei heute ein wichtiger Handelspartner und mit seinen 80 Millionen EinwohnerInnen ein großer Markt. Sie ist ein wichtiges Land für die Sicherung der EU-Außengrenze (obwohl sie kein EU-Mitglied ist) und sie ist Energiedrehscheibe für Gas und Öl sowie Sprungbrett nach Asien und in den Mittleren Osten. Da fällt Kritik natürlich schwer.
Dies alles reicht, um zu erkennen, dass wir vonseiten der herrschenden Politik in Deutschland keinerlei Veränderung ihrer »KurdInnenpolitik« erwarten können. Nicht, dass es keine Kritik an der Erdoğan-Politik gäbe, da sind sich (fast) alle Parteien einig, so offen Krieg zu führen gegen die eigene Bevölkerung (allein 23 Kinder, einige durch gezielte Kopfschüsse von türkischen Sondereinheiten, wurden bei den letzten Angriffen in Städten Nordkurdistans getötet). Das kommt in diesem demokratischen Europa nicht so gut ...
Aber an der Hinhaltepolitik der türkischen Regierung im – nun beendeten – sogenannten Lösungs- oder Friedensprozess gab es wenig auszusetzen. Wenn in dieser Phase der Waffenruhe in der Türkei und Nordkurdistan, die den Menschen ein wenig Hoffnung gab, den Krieg beenden zu können, den Forderungen der kurdischen Politik auch nur ein wenig nachgekommen und die Hand, die immer wieder zum Frieden gereicht wird, ergriffen worden wäre, sei es, sich als Mediator, als sogenanntes »drittes Augenpaar«, im Friedensprozess zwischen den beiden Kriegsparteien Türkei und kurdischer Bewegung anzubieten oder gar der kurdischen Bevölkerung mit einer Lockerung des Verbots entgegenzukommen, auch wenn es erst nur kleine Schritte gewesen wären, aber ...
Es geschah genau das Gegenteil. Neben den alltäglichen Streitereien auf Protestkundgebungen oder Demonstrationen wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz wegen z. B. des Zeigens sogenannter verbotener Symbole, des Konterfeis Abdullah Öcalans, nahmen auch die Verhaftungen wieder zu, allein vier Personen wurden 2015 wegen angeblicher PKK-Mitgliedschaft verhaftet. Laut AZADÎ, RECHTSHILFEFONDS für Kurdinnen und Kurden in Deutschland e. V., befinden sich derzeit sieben Kurden – einige schon verurteilt – wegen »Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung« (§ 129b) in Haft.Das sind:
Metin A. in Strafhaft. Er war im November 2011 auf Ersuchen der deutschen Bundesanwaltschaft in der Schweiz verhaftet und in Auslieferungshaft genommen worden. Er wurde im Februar 2014 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Mehmet D. Er wurde am 28. August 2014 verhaftet. Am 29. August 2015 wurde er zu drei Jahren Haft verurteilt.
Ali Ö. in U-Haft. Er wurde am 12. Februar 2015 verhaftet.
Abdullah S. in U-Haft. Er wurde am 5. März 2015 zu einer Haftstrafe von sechs Jahren verurteilt.
Ahmet C. in U-Haft. Er wurde am 18. Juli 2015 verhaftet.
Bedrettin K. in U-Haft. Er wurde am 27. August 2015 verhaftet.
Kenan B., er wurde gerade – direkt nach Merkels Reise in die Türkei – verhaftet.
Die Vorwürfe gegen kurdische PolitikerInnen sind fast immer gleich. Vorgeworfen wird ihnen zumeist, dass sie als PKK-Kader in Deutschland für irgendeine Region zuständig gewesen sein sollen. Bewiesen wird das dann anhand von Überwachungsprotokollen, zumeist über die Handy-Überwachung. Vorgeworfen werden ihnen nicht illegale oder kriminelle Delikte, sondern allein die Mitgliedschaft in der PKK. Und diese wird festgemacht an der Beteiligung an gesellschaftlichen oder politischen Aktivitäten, wie dem Organisieren von Veranstaltungen, Festen, Kampagnen, Demonstrationen oder auch an dem Schlichten alltäglicher Familienstreitigkeiten ... Die in den Haftbefehlen formulierten Beschuldigungen gleichen Textbausteinen, weil sie genau so auch in anderen Haftbefehlen nachzulesen sind. Ausgetauscht sind lediglich z. B. ihre Namen und die Orte. Also nicht irgendwelche Straftaten können ihnen nachgewiesen werden, sondern allein die Mitgliedschaft in der PKK soll so bewiesen werden.
Die Praxis der deutschen Bundesregierung ist eine eindeutige Parteinahme für die türkische Seite in dem Konflikt, der momentan eine brisante Eskalation erlebt. Und diese extreme Eskalation kommt nicht von ungefähr und auch nicht unerwartet:
In der Türkei und Nordkurdistan knackte zum ersten Mal eine wirklich basisdemokratische Oppositionspartei bei der Parlamentswahl im Juni die Zehnprozenthürde, achtzig Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker HDP hätten in die Große Nationalversammlung der Türkei in Ankara einziehen können. Ihre vordersten Anliegen wären die Demokratisierung des Landes, die Beendigung des Krieges und das friedliche Zusammenleben der Völker gewesen, und das steht im krassen Gegensatz zu dem von Erdoğan gesetzten Ziel eines Präsidialsystems, in dem er sich in seinem neu erbauten Palast schon als Kalif über das Neoosmanische Reich gesehen hatte.
In Südkurdistan/Nordirak konnten die Volksverteidigungskräfte HPG gemeinsam mit der Frauenguerilla YJA-Star und den bewaffneten Verteidigungseinheiten YPG/YPJ den Vormarsch der Banden des Islamischen Staates stoppen und Tausenden Menschen das Leben retten. Die Peşmerge-Kräfte der südkurdischen Autonomieregion hatten zuvor Reißaus genommen und die Bevölkerung schutzlos dem IS überlassen.
Mit dem Ausbau des demokratischen Konföderalismus und der Errichtung eines basisdemokratischen Gesellschaftssystems in Rojava entwickelte der kurdische Freiheitskampf mitten im Chaos des syrischen BürgerInnenkriegs eine neue Perspektive, die weit über die Grenzen des Landes hinaus ausstrahlte und Millionen Menschen weltweit mobilisierte. Der Sieg in der Schlacht um Kobanê und die Verbindung der beiden Kantone Cizîrê und Kobanê brachten dem IS und seinen UnterstützerInnen eine schwere Niederlage bei.
Und in den europäischen Mainstream-Medien änderte sich zudem die Berichterstattung über die PKK. Zunehmend positiv wurde berichtet, besonders über den Frauenbefreiungskampf der kurdischen Freiheitsbewegung, der dem Frauenbild Erdoğans und des IS so gar nicht entspricht. Das von Abdullah Öcalan in seinen Gefängnisschriften entwickelte Konzept des demokratischen Konföderalismus, der demokratischen Autonomie wurde in der gesellschaftlichen Entwicklung nicht allein in Rojava sichtbar, lebendig. Ein Beispielsystem, um die Konflikte in der Region – und nicht nur dort – lösen zu können!?
Diese Entwicklung sollte gestoppt werden, mit allen Mitteln. Viele hatten Erdoğan schon zugesprochen, dass er in die Geschichte der Republik Türkei eingehen werde, weil diese unter der Regierung seiner Partei eine weitgehende Demokratisierung erleben, ein Modell für den demokratischen Islam darstellen und der langandauernde Konflikt mit der kurdischen Seite gelöst werden würde. Die Verhandlungen mit der PKK und Öcalan waren ein Beispiel für diesen Weg. Wie es nun aussieht, werden Erdoğan und die AKP schon in die Geschichte der Republik eingehen, aber eher dadurch, dass der Staatsterror unter ihrer Ägide die Ausmaße des schmutzigen Krieges der 1990er Jahre noch toppen kann.
Mit dem Konzept des demokratischen Konföderalismus, der demokratischen Autonomie und dem erfolgreichen Kampf gegen den IS hat die kurdische Freiheitsbewegung einen starken internationalistischen antifaschistischen Kampf eröffnet und damit auch einer schon seit Jahren in die Defensive geratenen Linken in den Metropolen eine neue Perspektive geben können. So bekommen die Auseinandersetzung um die Aufhebung des PKK-Verbots sowie die Verteidigung der kurdischen Revolution eine neue, tiefer gehende strategische Bedeutung.