Soziale und ethnische Herkunft als unüberwindbares Hindernis

Toz Bezi – Staubtuch

Filmbesprechung von Susanne Roden

Februar. Mein Monat. Geburtstag und die 66. Berlinale. Die Sichtung der Filme ist jedes Jahr aufs Neue eine spannende Angelegenheit. Einiges aus der Vorauswahl wird in Pressemitteilungen schon benannt, aber die Einsicht in die Datenblätter ist meist erst kurz vor dem Start möglich. Es werden wie jedes Jahr ca. 400 Filme gezeigt, diesmal aus 79 Ländern. Aus der Türkei waren vier Filme vertreten, davon drei für das ganz junge Publikum in der Sektion »Generation KPlus« (Genç Pehlivanlar – Junge Ringer; Mavi bisiklet – Das blaue Fahrrad; Rauf – Rauf) und ein Film in der Sektion »Forum« (Toz Bezi – Dust Cloth). Das Internationale Forum des Jungen Films, kurz Forum, wird als die risikofreudigste Sektion der Berlinale bezeichnet. Dokumentar- und Spielfilme kommen gleichermaßen zum Zuge, es gibt wenig formale Beschränkungen bei der Filmauswahl, viele Freiheiten, alle Formate sind willkommen: politische Reportagen, Langzeitbeobachtungen, Experiment, Avantgarde, Essay oder unbekannte Kinematografien. Die Filme des Forums bewegen sich im Grenzbereich von Kunst und Kino und so war ich sehr gespannt auf Ahu Öztürks Langfilm-Debut »Toz Bezi«. Staubtuch. Was für ein Titel für einen Film. Was assoziiert man nicht alles damit.

Toz BeziErzählt wird die Geschichte zweier kurdischer Frauen, Nesrin (30) und Hatun (42). Sie leben in Istanbul und arbeiten als Putzfrauen. Nesrin hat ihren Ehemann Cefo als Warnschuss vor die Tür gesetzt und versucht nun allein mit ihrer gemeinsamen Tochter Asmin (5) ein neues Leben aufzubauen. Hatun lebt mit ihrem Ehemann Şero (45) und Sohn Oktay (15) im gleichen Haus und träumt vom gesellschaftlichen Aufstieg. Beide Frauen verbindet die Sehnsucht nach einem besseren Leben.

Und so begleitet die Kamera sie, wie sie zwischen dem armen Wohnviertel Kartal und dem schicken Stadtteil Moda, wo ihre bürgerlichen Mittelschichtkundinnen wohnen, ständig hin- und herpendeln. Während Nesrin weiterhin nach ihrem verschollenen Ehemann sucht, ihn eines Tages auch vom Bus aus erspäht, mit vorgetäuschter Übelkeit den Busfahrer zum Anhalten bewegen kann, dann aber am Ende ihren vor ihr davonlaufenden Mann doch nicht einholen kann, macht Hatun immer wieder Abstecher zu Immobilienbüros, um ihren Traum von einem Haus am schicken Wohnort ihrer Kundinnen eines Tages doch umsetzen zu können. Sie ist so besessen vom Geldsparen, dass sie sich immer wieder den Zorn ihres Ehemannes zuzieht. Sei es der Streit um ein undichtes Abflussrohr am Waschbecken, das Şero unbedingt selbst reparieren soll, damit keine Handwerkerkosten entstehen, oder sei es die gemeinsame Heimfahrt nach einer Hochzeitsfeier, als Hatun lieber im Regen stehend an der Haltestelle auf den Bus warten will, während Şero, die schlafende Asmin auf dem Arm tragend, durchaus bereit ist, für sie alle ein Taxi zu rufen.

Als Hatun erfährt, dass es eine kleine Kirche gibt, in der man an drei aufeinanderfolgenden Montagen für seinen Wunsch beten soll und dieser dann wahr wird, scheut sie sich nicht, auch als Muslimin in die verborgene christliche Kirche zu gehen. Da sie Nesrin nicht überzeugen kann, sie zu begleiten, geht sie halt allein und bittet für ihren großen eigenen Wunsch, aber auch für die Rückkehr des verschollenen Ehemannes von Nesrin.

Mit Toz Bezi zeichnet Ahu Öztürk nicht nur ein sensibles, aber gänzlich unsentimentales Porträt einer Freundschaft zwischen zwei Frauen, beschreibt deren Nähe und private Konflikte, darüber hinaus zeigt sie auch das Bild einer Gesellschaft, in der die soziale und ethnische Herkunft ein unüberwindbares Hindernis sein kann. Sie erzählt davon fast beiläufig, wenn sie Hatun und Nesrin auf ihren Wegen zu deren Kundinnen zwischen den Welten Istanbuls folgt.

Gedreht wurden die Szenen mit einer Handkamera, wodurch eine ganz besondere Atmosphäre entstanden ist. Es ging darum, eine filmische Sprache zu finden, die dem Inhalt des Films entspricht. Es sollte dabei direkt aus der Sicht der armen Frauen gefilmt und die Notlage der Figuren für den Zuschauer nachvollziehbar gemacht werden.

Die Idee zum Film entwickelte sich aus eigenen Erlebnissen und ihr Ursprung entstammt einer der klarsten Erinnerungen Ahu Öztürks aus ihrer Kindheit: Sie besuchte mit ihrer Mutter eine Tante in deren Einzimmerwohnung, von wo sie aber dann in eine Dreizimmerwohnung wechselten. Das war ihre erste Berührung mit der privaten Welt der türkischen Mittelklasse. Während die Tante sauber machte, berührte Ahu Gegenstände, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie war erstaunt. Sie waren allein in der Wohnung, so berichtet sie in einem Interview, und sie hatte das Gefühl, allem sehr nah zu sein. Sie hätte sich sogar auf das Bett legen können, aber es gab eine imaginäre Wand, die sie davon abhielt. Diese Wand, die kannte sie aus dem Leben in ärmlichen Verhältnissen gut. Da diese Distanz sie ärgerte, teilte ihre Mutter nach ihrer Rückkehr ein Geheimnis mit ihr. Und zwar, dass die Tante eine Reinigungsfrau war und sie es niemandem erzählen sollte. Nach ihren Studienjahren, als sie auch mit linksgerichteter Ideologie in Berührung gekommen war, war das erste Anzeichen, dass dieses Geheimnis in sich zu tragen eine Wirkung auf sie ausübte: Sie empfand Sozialneid.

Später im Berufsleben förderten dann die Gespräche der Kolleginnen über deren Probleme mit ihren Putzfrauen dieses Gefühl erneut an die Oberfläche. Diese endlosen Unterhaltungen gehörten für die Frauen zum Höhepunkt des Alltags, waren ihre Putzfrauen für sie doch ein Symbol der Klassenzugehörigkeit. Und dies wiederum ließ den Gedanken zum Film in Ahu weiter reifen.

Dann kam eines Tages genau die Verwandte zu Besuch, die als Reinigungsfrau gearbeitet hatte, und erklärte, sie sei Tscherkessin. Ahu Öztürk war schockiert. Diese Frau, deren Mutter bis zu ihrem Tod nur eine Sprache gekonnt hatte, nämlich Kurdisch, stand nun vor ihr, wie eine surreale Gestalt und jenseits rationaler Erklärbarkeit. Diese Aussage verhalf ihr, sich darzustellen, ohne sich durch irgendeine vernunftmäßige Begründung unterlegen fühlen zu müssen.

Dieses Erlebnis liegt dem Entwurf der Figur Hatuns zugrunde, die sich auf ziemlich geschickte Art ihrem Kurdischsein entzog. Ahu hat dann noch Elemente von sich und ihrer Mutter hinzugefügt.

Nesrin hingegen ist eher ein Opfer und entspricht dem tiefen Gefühl von Mangel und Not, das früher in ihrem Unterbewusstsein vorherrschte.
Auch die Frauen aus der Mittelschicht repräsentieren Menschen, die Ahu persönlich kennen gelernt hat im Leben.

Die kurdische Identität kann verborgen in dieser Heterogenität innerhalb der türkischen Realität ganz unterschiedlich erfahren werden.

Dies half ihr, die kurdische Identität zu verstehen, wie sehr verschieden sie in der Türkei erlebt wird, und die Möglichkeit, die Realität zu begreifen, ist verborgen in dieser Heterogenität.

Auf die Frage, warum es in Toz Bezi weder Bilder noch direkte Dialoge zum Klassenunterschied gibt, erklärte Ahu Öztürk, dass sie zunächst schon vorgehabt hatte, viel ernstere Charaktere zu zeigen. Zum Beispiel die Arbeitgeberinnen der Putzfrauen, wie sie ihnen nur erlauben, von Plastikgeschirr zu essen, und ihnen verbieten, die Toilette zu benutzen.

Es gibt eine Kluft zwischen der Realität und der Kunst und sie wollte die Geschichte so erzählen, dass die Zuschauer nicht umhinkommen, die Realität dahinter zu erkennen.
Sie hat also die direkte Konfrontation gemieden, indem sie das Mittel des Klischees für alles, was wir uns nicht bewusstmachen, umso wirksamer einsetzen konnte.

Sie hat versucht, den Klassenkonflikt zwischen Arbeitgeberin und Arbeitnehmerin hin zu einem Konflikt zwischen großer und kleiner Schwester zu verlagern, um ihn zu verschleiern. Die stattfindende Ausbeutung wird dadurch verharmlost, dass sie die Arbeitgeberinnen als eine Art große Schwestern neu positionierte. Mit dieser Frage hat sich Ahu Öztürk am längsten beschäftigt, denn sie wolle Situationen und Verhaltensweisen zeigen, die die Erniedrigung und Ausbeutung der betroffenen Frauen wie nebenbei erzählen; Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick nicht problematisch wirken, weil sie scheinbar nicht verletzend gemeint sind. Aber sie wirken nach, im Dunkeln und zwischen den Zeilen.

Spätestens an dieser Stelle merkt man dann, dass Ahu Öztürk Philosophie studiert hat, aber es ist auch nachvollziehbar, dass man in einem Film aus der Türkei momentan gut daran tut, auf eine direkte Konfrontation, Provokation oder womöglich kritische Darstellung im Hinblick auf das Leben der oberen Mittelklasseschicht zu verzichten. Ich kenne nun die Gesetzgebung in der Türkei nicht so gut, aber allein das Wissen um über 1 800 eröffnete Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung seit August 2014 lassen nichts Gutes ahnen. Und in der Tat gibt es in dem Film Situationen, wenn Nesrin in der Küche stehend schnell ihr mitgebrachtes Essen runterwürgt und zum Teil im Mülleimer versenkt, als die Hausherrin verfrüht zurückkommt, und wenn Hatun für die Dame des Hauses und deren Besuch einen Mokka bereitet und serviert und dann gebeten wird, sich doch zu ihnen zu setzen. Tja, schön. Da sitzt sie dann und darf den beiden beim Plaudern und Trinken zusehen. Dort wird dann vom Besuch festgestellt, dass Hatun eine Tscherkessin sei, wegen der blonden Haare und weil sie ja aus Qers (Kars) kommt. Klarer Fall.

Ich habe während meines Studiums mit Anfang 20 auch bei einer Dame sauber gemacht, die allerdings in der Nähe wohnte und wo es für mich keinen spürbaren Klassenunterschied gab. Aber es gab ein anderes Problem, das auch Nesrin im Film hat: Sie hat keine Ahnung vom Saubermachen, was ihr auch in einer Szene auf offener Straße von einer ehemaligen Arbeitgeberin an den Kopf geworfen wird. Und auch, dass es eben keine zweite Chance gibt.

Gerade bei Nesrin gibt es auch eher freundliche und ernsthaft wohlgemeinte Situationen mit einer Arbeitgeberin, die aber in ihrer Unbedarftheit und ihrem Lebensstil gar nicht bedenkt, dass ihre Putzkraft weder Schulbildung noch Ausbildung genossen hat. Somit sind die Vorschläge, sich eine Arbeit mit sozialer Absicherung zu suchen, auch eher konterkarierend, denn Nesrin schlägt alle Angebote ohne eine solche Absicherung in den Wind und das, als gerade das Geld immer knapper wird und der Vermieter schon die Miete angemahnt hat. Als die Arbeitgeberin dann erkennt, dass sie ihr weder eine weitere Arbeit vermitteln kann ohne einen Bildungshintergrund, noch sonst etwas geht, schlägt sie vor, Nesrin solle doch erst mal den Schulabschluss nachmachen und sich dann was aufbauen.

In dem Moment wird dann klar, es geht immer mehr den Bach runter, und die Verzweiflung in Nesrin wächst. Nachdem dann der Strom abgedreht wurde und der Vermieter damit droht, sie auf die Straße zu setzen, eilt sie in ihrer Not zu Hatun und bittet um finanzielle Hilfe.

Diese jedoch erklärt ihr, dass sie ihr kein Geld geben will, da sie auf ein Haus spart. Es gibt also keine Freundschaft und keine Solidarität zwischen den beiden Frauen, die zuvor wie enge Schwestern miteinander umgingen und so viel Gemeinsames teilten. Von dem Zeitpunkt an ist ein Gespräch mit Nesrin nicht mehr möglich, auch das dann doch überreichte Geld von Hatun kann nichts mehr ändern, denn Nesrin hat innerlich abgeschlossen, kümmert sich auch nicht mehr um die Tochter. Dies übernimmt dann zunehmend Hatun, die immer schon eine Tochter haben wollte.

Um die Geschichte der Tante zu erzählen, suchte Ahu Öztürk zunächst nach Antworten, die einen Bezug zu den Bereichen Kultur, Politik und Ethik haben. Aber es gab keine ordentlichen Lösungen und am Ende blieb bei ihr nur das Gefühl von Scham. So begann sie zu schreiben, um sich mit dem Thema zu versöhnen.

Ahu Öztürk war sich sicher, dass sie die Welt, um die es ging, ganz selbstverständlich würde zeigen können, denn sie war ja ein Teil davon und fühlte sich ihr zugehörig. Aber mit der Zeit bemerkte sie, dass sie dieser Welt nicht mehr angehörte, denn dieser Klasse anzugehören heißt, sprachlos zu sein, zu schweigen. Und sie hatte ihre Sprache gefunden, um diese Geschichten zu erzählen. Auch wenn Ahu versucht hat, die Wirklichkeit zu fassen, so ist es doch vor allem ein persönlicher Film.

Ahu Öztürk wurde 1976 in Istanbul (Türkei) geboren. Sie studierte Philosophie an der Ege Üniversitesi (Ägäis-Universität) in Izmir. 2004 drehte sie ihren mittellangen Debütfilm Sandık (Chest, 48 Min.) und 2010 Open Wound (21 Min., Episode in: Açık Yara – Tales from Kars). Toz Bezi – Dust Cloth von 2015 ist ihr erster abendfüllender Spielfilm.
Ret Film wurde 2012 von Çiğdem Mater und Nesra Gürbüz mit dem Ziel gegründet, neue Filmvisionen zu fördern und um den Nachwuchs im türkischen Kino zu unterstützen. Sie haben die letzten drei Jahre zusammen gearbeitet, um Kurzfilme und Dokumentationen zu produzieren. Sie kannten Ahu Öztürk durch ihren Kurzfilm Open Wound. Als diese dann mit ihnen Kontakt aufnahm und ihre Geschichte vorstellte, waren die Produzenten sofort begeistert davon. Die Geschichte in ihrer Bescheidenheit und Einfachheit, aber auch mit einer kraftvollen Beobachtung nahm sie sofort gefangen. Sie glauben, dass es wichtig ist, diesen Aspekt der Türkei durch die zwei kurdischen Frauen zu zeigen. Der Film gibt uns die Möglichkeit, zwei verschiedene Versionen von Istanbul zu zeigen, da ist das Elendsviertel von Kartal und dann Moda, die wohlhabende obere Mittelschicht der anatolischen Seite. Wir sehen zeitgleich die zeitgenössische gegenwärtige Türkei durch verschiedene Frauen-Charaktere aus verschiedenen sozialen Klassen, so die Produzenten von Ret Film.