zusätzlich im Internet:

AKP schürt Konflikt zwischen AlevitInnen und SunnitInnen

In Maraş droht ein neues Massaker

Jiyan Durgun

Ein grün-flammendes Meer von Tälern und Feldern passiert mensch in der jetzigen Jahreszeit auf dem Weg in das Dorf, in dem mein Vater das Licht der Welt erblickte. Ein Dorf zwar mit einer sehr jungen Geschichte, doch sind die Seiten des Buches der Geschichtsschreibung der Menschen der Region mit viel Leid und Dramen beschrieben worden. Wie allzu oft in dem Lande, das die Geburt der menschlichen Zivilisation beherbergt, scheint es, als ob die Zeiger der Uhr wieder zurückgestellt werden würden und sich die Geschichte wiederholen würde. Um die Angst zu verstehen, die derzeit die Menschen aus meinem Dorf und die kurdischen AlevitInnen in der Region plagt, gilt es die Zeit Revue passieren zu lassen. Wirkliche Empathie werden dennoch wohl nur die Menschen aufbringen können, die das erlebt haben, was den Menschen dort widerfahren ist.

Wir schreiben das Jahr 1978. Ähnlich wie auch heute blicken wir auf eine Türkei, die geteilt ist. Nationalistisch-reaktionäre FaschistInnen und links-progressive RevolutionärInnen polarisieren das Land. Hinzu kommt, dass inmitten des revolutionären Frühlings sich zu Beginn der 1970er Jahre eine Gruppe zu formen begann, aus der später die kurdische Freiheitsbewegung hervorgehen sollte. Mit dem Ziel der nationalen Befreiung nach sozialistischem Vorbild begann die überwiegend aus StudentInnen bestehende Gruppe um Abdullah Öcalan von Ankara aus, nach Kurdistan zurückzukehren. Ein neues Bewusstsein und ein neuer Widerstandsgeist sollten dem kurdischen Volk wiedergegeben werden, dessen Freiheitsdrang lange Zeit in den Ketten aus Angst lag, in die grausame Massaker und eine Assimilationspolitik, die ihresgleichen suchte, eingraviert worden waren. Eines der ersten Ziele auf diesem Pfad stellten die kurdischen Dörfer von Gurgum (Maraş) dar. Unter der Avantgarde von Kemal Pir, der selber kein Kurde war, begann die Gruppe, die vom türkischen Staat als »ApoistInnen« betitelt worden war, die Bevölkerung in der Region zu organisieren. Auch wenn es in vielen anderen Städten Kurdistans ebenfalls einen großen Andrang zu den ApoistInnen gab, war die Beteiligung nirgendwo so hoch wie in den Dörfern von Gurgum. Dies war vor allem dem türkischen Staat ein Dorn im Auge. Denn dadurch vereinten sich in der Region, die geographisch im Südwesten Kurdistans liegt, mehrere Feindbilder der offiziellen Staatsräson der türkischen Republik, die von den herrschenden Kräften zu den drei »K« zusammengefasst wurden: KurdIn, KommunistIn und Kızılbaş (türk. für »Rotschopf«). Letzteres ist die eigene Bezeichnung der AlevitInnen aus Kurdistan. Entgegen anderen Orden und Glaubensrichtungen innerhalb des AlevitInnentums beziehen die Kızılbaş ihren Ursprung nicht auf die mohammedanische Religion, sondern auf Naturreligionen wie den zoroastrischen Glauben des Mazdaismus. Ein Grund, warum das Feindbild, das sie in den Augen der herrschenden Kräfte darstellten, größer war als das jeder anderen Bevölkerungsgruppe.

Im Jahre 1978 formte sich die Gruppe der ApoistInnen, die inzwischen über mehrere Zehntausend AnhängerInnen in ganz Kurdistan und der Türkei zählte, zu einer Partei. Am 27. November gründete sich im Dorf Fis bei Amed (Diyarbakır) die ArbeiterInnenpartei Kurdistan (PKK). »Die Antwort des türkischen Staates auf die Gründung der Partei ließ nicht lange auf sich warten und erfolgte am 22. Dezember, weniger als einen Monat nach dem ersten Kongress«, so PKK-Mitbegründer und jetziger Kovorsitzender der Gemeinschaft der Gesellschaften aus Kurdistan (KCK), Cemil Bayık.

Kurz vor dem 22. Dezember markierten Unbekannte die Haustüren von AlevitInnen in Gurgum. In der Nacht begann ein Pogrom gegen die AlevitInnen in Stadt und Dörfern. Mit Schusswaffen und Schwertern bewaffnete Männer klopften in Herrenmanier an die markierten Türen. Kinder, Frauen und Männer, bei denen es sich um AlevitInnen handelte, wurden auf brutalste Art und Weise ermordet. Schwangeren Frauen wurden die Bäuche aufgeschlitzt. Menschen wurden bei lebendigem Leibe verbrannt. Menschen, die behaupteten, sie seien SunnitInnen, sollten Koranverse aufsagen. Wussten sie diese nicht zu rezitieren, reihten auch sie sich unter den Hunderten von Opfern ein, die bis zum 25. Dezember im Rahmen des »Massakers von Maraş« zu Tode kamen. In den frühen Morgenstunden des 26. Dezembers 1978 wurde in Gurgum der Ausnahmezustand ausgerufen. Dieser weitete sich in den darauffolgenden Tagen auf weitere Städte aus.

Nach dem Massaker flohen die Menschen aus Angst und Furcht vor weiterer Verfolgung massenhaft aus Gurgum. Die meisten von ihnen nach Europa. Auch die amerikanische und ostasiatische Diaspora weist viele Flüchtlinge aus Gurgum auf. Symptomatisch für den Charakter verfolgter Bevölkerungsgruppen lassen sich die Folgen des Massakers auch in den Generationen danach spüren. Ähnlich wie bei den JüdInnen und den ÊzîdInnen handelt es sich bei den kurdischen AlevitInnen aus Gurgum um eine Exilbevölkerung, die weiter das Trauma des Massakers in sich trägt. Die Zahl der Menschen aus Gurgum, die im Exil leben, übersteigt die Zahl derjenigen, die in den Dörfern geblieben waren. Dabei handelt es sich um diejenigen Menschen, deren Verbundenheit mit ihrer Heimat sie dazu veranlasste, nicht zu fliehen. Trotz der ständigen Repression, der sie durch den türkischen Staat und das türkische Militär – welches das Gebiet faktisch belagert – ausgesetzt sind. Es sind genau diese Menschen, die gegen die Siedlungspolitik der türkischen AKP-Regierung und das damit verbundene drohende neue Massaker auf die Barrikaden gehen und Widerstand leisten.

Zwischen den insgesamt 16 alevitischen Dörfern, die etwa 3 000 EinwohnerInnen fassen, soll ein sogenanntes Flüchtlingscamp für 27 000 sunnitische AraberInnen errichtet werden. Bei der Auswahl des Platzes für das vorgesehene Camp von AFAD (Behörde für Katastrophenmanagement) handelt es sich um keinen Zufall. Zumal es in nahe liegenden Teilen von Gurgum, die sunnitisch dominiert sind, leer stehende Flüchtlingsunterkünfte gibt. Weiter ist das für das Camp vorgesehene Gebiet aus rein technischen und logistischen Gründen nicht für die Errichtung von Unterkünften in dieser Größenordnung geeignet. Unabhängig davon ist es gesellschaftliche Norm, in den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, die Flüchtlinge beherbergen, die Unterbringung von Flüchtlingen in Gebieten mit anderer ethnischer und besonders konfessioneller Identität zu vermeiden. Aus Sorge vor möglichen Konflikten wegen der starken gesellschaftlichen und politischen Polarisierung, die auf religiösen und ideologischen Unterschieden fußt. Die AKP setzt bewusst auf die demographische Veränderung der kurdischen Regionen. Sie provoziert mit der Errichtung dieses Camps und der Ansiedlung von 27 000 sunnitischen AraberInnen, deren Zahl fast zehn Mal so hoch ist wie diejenige der dort lebenden alevitischen Bevölkerung, Konflikte zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen.

Die Menschen leben seitdem in stetiger Angst vor einem neuen Massaker. Anfang März bildete die Bevölkerung aus Gurgum gemeinsam mit Menschen aus dem Exil, vor allem aus Deutschland, eine Initiative gegen die Errichtung eines AFAD-Camps zwischen den kurdisch-alevitischen Dörfern der Region. Seit Mitte März halten die Menschen aus der Region Mahnwachen an dem Platz, auf dem das Camp gebaut werden soll. Trotz zahlreicher Angriffe türkischer Sicherheitskräfte, die bereits einen Dorfbewohner das Leben kosteten, wird der Widerstand unter der Avantgarde der Demokratischen Partei der Völker (HDP) entschlossen fortgesetzt. Der Kovorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, erklärte, dass es nicht sein könne, »dass der türkische Staat DschihadistInnen-Camps zwischen alevitische Dörfer bauen will. Wir AlevitInnen, wir wissen, was der Staat mit diesem Vorgehen bezweckt. Bei Maraş handelt es sich um eine Stadt, in der eines der größten Massaker an AlevitInnen begangen wurde. Uns sind die Absichten bewusst. Wir werden wissen, diese zu verhindern. Es ist von immenser Bedeutung, dass die gesamte Bevölkerung Widerstand gegen das Vorgehen leistet.«

Untersuchungen belegen, dass der türkische Staat und die formale Hilfsorganisation AFAD in ihren Flüchtlingscamps ethnisch-konfessionelle Selektion betreiben. Während die AKP in den AFAD-Camps fast ausschließlich sunnitische AraberInnen unterbringt, die aus Gebieten stammen, die der sogenannte Islamische Staat (IS) oder andere dschihadistische Gruppen wie der Al-Qaida-Ableger Al-Nusra-Front an die Volksverteidigungseinheiten (YPG) oder die Regimekräfte verloren haben, werden die von den kurdischen Kommunalverwaltungen und den Volksräten vor Ort aus eigener Kraft errichteten Flüchtlingscamps, die KurdInnen, ChristInnen und anderen Minderheiten Schutz gewähren, systematisch zerstört. Erinnert sei an dieser Stelle an die Bilder, als die Menschen in Pîrsûs (Suruç) Notunterkünfte in Form von Zelten für die Flüchtlinge aus Kobanê an der Grenze aufgestellt hatten und das türkische Militär mit Panzerfahrzeugen die Zelte nicht nur zerstörte, sondern auch noch konfiszierte.

Der türkische Staat schließt seine Grenzen für nicht sunnitische Flüchtlinge. Die türkische Armee macht keinen Halt davor, auf Kinder zu schießen, damit sie die Grenze nicht überqueren. Dutzende Menschen, die aus Kobanê in die Türkei geflüchtet waren, wurden von Grenzsoldaten gefoltert. Indessen lädt der türkische Staatspräsident Erdoğan die Menschen aus Gebieten wie Girê Spî (Tel Abyad) oder anderen Gebieten ein, die vom IS zurückerobert wurden. Die AKP verfolgt seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges eine bestimmte Flüchtlingspolitik. Sie leistet allein sunnitisch-arabischen Flüchtlingen Hilfe. Das belegen auch die Zahlen der aufgenommenen Flüchtlinge in den staatlich kontrollierten AFAD-Lagern. So fliehen die AlawitInnen und ChristInnen trotz geographischer Nähe zur Türkei in den Libanon oder nach Jordanien. Dass es sich bei den AFAD-Lagern um Rekrutierungslager für den IS und andere dschihadistische Gruppen handelt, ist schon lange kein Geheimnis mehr. Einige von ihnen entpuppten sich sogar als Stützpunkte des IS. Aussagen türkischer Abgeordneter zufolge rekrutiert auch der türkische Geheimdienst MIT Flüchtlinge aus den Lagern, um sie dann in islamistischen Organisationen einzuschleusen. Weiter instrumentalisiert die Türkei die Flüchtlinge als Druckmittel gegen Europa, um sich aus ihrer internationalen Isolation zu befreien, die durch die türkische Syrienpolitik entstanden war.

PetitionDie kurdischen AlevitInnen fürchten sich vor neuen Pogromen und Massakern. Die AKP plant eine Konfrontation zwischen AlevitInnen und SunnitInnen und will den syrischen Bürgerkrieg nach Nordkurdistan tragen. In Europa hat sich bereits eine große Solidaritätsplattform gebildet. Auch die Linke hat bereits in einer gemeinsamen Erklärung mit der HDP ihre Solidarität geäußert. Auf Change.org wurde eine Unterschriftenkampagne gestartet:https://www.change.org/p/kahramanmara%C5%9F-sivriceh%C3%BCy%C3%BCk-k%C3%B6y%C3%BCnde-d%C3%BC%C5%9F%C3%BCn%C3%BClen-kamp%C4%B1n-iptali-i%C3%A7in-imza-kampanyas%C4%B1


Zur Person: Jiyan Durgun kandidiert bei den anstehenden Berliner Landtagswahlen im September für die Linke. Dabei wird sie vom Demokratischen Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Deutschland – NAV-DEM e. V. und der Plattform HDP Berlin unterstützt. Seit langen Jahren ist Jiyan Durgun als Aktivistin in der kurdischen Jugend- und Frauenbewegung aktiv.