Familie SaylemezUnsere Tochter ist dem Profitdenken mehrerer Staaten zum Opfer gefallen ...

»Frankreich ist uns eine Erklärung schuldig«

Interview mit der Familie von Leyla Şaylemez

Seit dem Mord an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez am 9. Januar 2013 in Paris ist ein Jahr vergangen. Wir haben ihre Familie in Halle besucht, um mit ihnen zu sprechen und mehr über Leylas Leben zu erfahren. Es ist eine große Familie: Leyla hatte sieben Geschwister. Sie empfangen uns herzlich und sind trotz ihres Schmerzes gerne bereit, auf unsere Fragen zu antworten.

 

Ihr stammt doch eigentlich aus Amed (Diyarbakır) und seid später nach Mersin gezogen. Mögt Ihr ein bisschen aus dieser Zeit erzählen?

Cumali Şaylemez: Ja, wir sind aus dem Kreis Lice in Amed. 1978 gab es Unstimmigkeiten zwischen den DorfbewohnerInnen. Die Menschen waren damals in der Lage, sich im Streit um ein Huhn oder eine Ziege gegenseitig umzubringen. Ich konnte das nicht begreifen. Das Land war vom Feind besetzt, dazu wurde geschwiegen, aber wegen eines Huhns gingen sie sich gegenseitig an den Kragen. Ich wollte weder sterben noch töten, und so bin ich mit meinen Eltern nach Mersin gezogen.

Wie verlief Euer Leben in Mersin?

Ich heiratete meine Cousine Sifa Şaylemez und arbeitete auf dem Bau. Leyla kam in Mersin als unser viertes Kind 1988 zur Welt. Zu der Zeit war ich schon politisch tätig. Als die Repression zu groß wurde, mussten wir 1994 nach Deutschland kommen.

Könnt Ihr etwas über die Kindheit von Leyla in Mersin erzählen?

Leyla war schon als kleines Kind sehr intelligent. Sie hatte gute Beziehungen zu ihren Geschwistern und FreundInnen. Damals verliefen Hochzeitsfeiern in einer Serhildan-Atmosphäre. Auf solchen Feiern war Leyla dann das Maskottchen, sie machte mit ihren kleinen Fingern das Siegeszeichen.

Sifa Şaylemez: Unsere Tochter war als Kind sehr beliebt in ihrem Umfeld. Sie war sehr emotional und wollte alles mit ihren FreundInnen teilen. Auch in der Schule war sie gut, ihre LehrerInnen wollten, dass sie weitermacht, aber dann mussten wir ja 1994 nach Deutschland gehen.

Wie war das für Euch, als Ihr nach Deutschland kamt?

Es war natürlich ein völlig fremdes Land. Wir kannten uns nicht aus und konnten auch die Sprache nicht. Am Anfang war es sehr schwer, auch für die Kinder. Leyla erzählte, dass in der Schule niemand mit ihr und ihren Geschwistern reden würde. Sie litt sehr darunter, wenn sie nicht mitspielen durfte oder ein anderes Kind ihre Hand nicht halten wollte. Wahrscheinlich hat sie deshalb später immer FreundInnen gesucht, die keine Deutschen waren. Sie hatte viele FreundInnen aus Vietnam, Kambodscha oder Afrika.

Hat diese Erfahrung der Ausgrenzung ihr Leben beeinflusst?

Leyla konnte das einfach nicht begreifen; sie fragte mich ständig, warum die Leute uns nicht mögen würden. Manchmal verkroch sie sich tagelang in ihrem Zimmer und dachte nach. Sie las auch sehr viel. Ausgrenzung war etwas, das sie sehr traurig machte. Sie wollte, dass alle frei und gleich sind.

Wie war Leyla zu Hause, in ihrer Familie?

Sie war mir eine sehr große Hilfe und machte viele Dinge im Haushalt, ohne dass ich es mitkriegte. Ihre Geschwister und auch ihre FreundInnen vernachlässigte sie nie. Bei jeder Gelegenheit nahm sie auch an der Kulturarbeit im Verein teil. Sie liebte die Natur, aber am liebsten las sie Bücher. Sie sagte dann, ich muss viel lesen, damit es meinem Volk mal zugutekommt. Auch im sozialen Leben war sie sehr aktiv und nahm an allen möglichen Veranstaltungen teil. Dabei fühlte sie sich immer verantwortlich für alles.

Wie habt Ihr reagiert, als sie sich der Befreiungsbewegung angeschlossen hat?

Natürlich war es hart für mich, und ich konnte es am Anfang nicht akzeptieren. Aber dann dachte ich, nach all dem Leid, das unser Volk erfahren musste, tue ich sowohl ihr als auch mir Unrecht. Schließlich hat sie sich selbst dazu entschieden, für die Freiheit ihres Volkes zu kämpfen. Viele Mädchen geraten auf die schiefe Bahn, aber meine Tochter ist eine Befreiungskämpferin geworden. So habe ich mich selbst überzeugt, dass Leyla das Richtige macht, und dann war ich auch stolz auf sie.

Hattet Ihr weiter Kontakt miteinander, nachdem sie sich der Befreiungsbewegung angeschlossen hatte?

Ja, wenn auch nicht sehr oft. Sie kam manchmal vorbei oder rief uns an. Wie gesagt, sie hatte ein großes Verantwortungsbewusstsein und spielte eine zentrale Rolle in der Familie. Sie sagte mal, dass alle kurdischen Mütter wie ihre eigene Mutter seien. Wenn sie Familien besuchte, benahm sie sich wie eine Tochter des Hauses, sie fühlte sich nicht fremd und konnte sofort Kontakt mit Menschen herstellen. Einmal hörten wir fast zwei Jahre nichts von ihr. Später haben wir erfahren, dass sie in Kurdistan war und das vor mir verheimlicht hatte, damit ich mir keine Sorgen mache. Dann stand sie auf einmal wieder vor der Tür. Ich habe mich sehr gefreut, aber gleichzeitig war ich auch beunruhigt.

Warum warst Du beunruhigt?

Ich meinte zu ihr: »Sag die Wahrheit, bist Du weggelaufen? Hast Du die FreundInnen verraten? Warum bist Du gekommen?« Und sie antwortete, so etwas würde sie nie tun. Sie war aus gesundheitlichen Gründen zurückgeschickt worden, um hier zu arbeiten, wegen Rückenproblemen und Polypen, die ihr sehr zu schaffen machten. Nachdem sie operiert worden war, ist sie wieder in die Arbeit gegangen. Sie war sehr lebhaft, Untätigkeit konnte sie nicht ertragen.

Wie habt Ihr von dem Mord erfahren?

Leylas Großvater in der Türkei war krank. Mein Mann war deshalb nach Mersin gefahren. Frühmorgens klingelte es. Ich war schon am Abend vorher so unruhig gewesen, konnte nicht stillsitzen. Als es dann klingelte, wurde ich noch nervöser. Es standen fünf bis zehn FreundInnen vor der Tür. Ich dachte sofort, dass mein Schwiegervater verstorben sei. Aber sie sagten, dass Leyla ermordet worden war. Ich war wie erstarrt. Die Zeit stand still. Es ist nicht möglich, diese Gefühle zu beschreiben. Mein Mann kam am selben Tag aus der Türkei zurück und wir sind alle sofort nach Paris gefahren.

Wie habt Ihr die Atmosphäre in Paris wahrgenommen?

Es sind letztes Jahr Zehntausende Menschen nach Paris gekommen. Alle empfanden Schmerz und Wut. Natürlich war es für uns ein Trost, dass so viele Menschen da waren. Wir haben versucht, stark zu sein, und die Menschen haben uns aufgefangen. Dafür können wir nicht genug danken. Unsere Tochter hatte mal zu ihren FreundInnen gesagt, »wenn ich sterbe, werden mich Tausende auf dem letzten Weg begleiten«. So war es dann ja auch. Und alle Menschen waren so traurig, als ob ihr eigenes Kind dort im Sarg liegen würde. Ich bin immer sehr stolz auf meine Tochter gewesen. Ich wünschte nur, sie hätte aufstehen und die Menschenmassen sehen können.

Wie war es in Kurdistan, als die Leichname überführt wurden?

Überall, in Paris, Istanbul, Amed und Mersin waren unglaublich viele Menschen. Alle waren so traurig, als ob es ihre eigene Tochter wäre, und gleichzeitig versuchten sie uns zu trösten. Es war wirklich so, als ob das nicht mehr nur unsere Tochter, sondern sie zur Tochter des ganzen kurdischen Volkes geworden ist.

Möchtest Du noch etwas sagen, Sifa?

Meine Tochter hat für das Glück und die Freiheit ihres Volkes gekämpft. Das hat sie mit ihrem Leben und mit ihrem Tod bewiesen. Einen so grausamen Tod hat sie nicht verdient. Sie stand noch am Anfang ihres Lebens, als sie uns weggenommen wurde. Ihr Tod ist unbegreiflich für uns. Wir werden niemals aufhören, ihre Mörder zu verfolgen. Trotz allem wollen wir, dass ihr Gerechtigkeit widerfährt und die Hintergründe der Tat öffentlich gemacht werden. Unsere Tochter ist dem Profitdenken mehrerer Staaten zum Opfer gefallen, deshalb verlieren wir unseren Glauben an die Gerechtigkeit immer mehr. Ich bin eine Mutter, die ihr Kind in diesem Krieg verloren hat. Ich will, dass endlich Frieden in Kurdistan herrscht. Und ich möchte mich noch einmal bei allen bedanken, die uns in dieser schweren Zeit nicht alleingelassen haben.

Yasemin, magst Du uns etwas über Deine große Schwester erzählen?

Yasemin Şaylemez (22): Meine Schwester war ein mutiger Mensch, sie sprach ihre Gedanken offen aus. Sie glaubte nicht alles, was ihr erzählt wurde, aber sie tat alles, um andere zu überzeugen. Die Beziehung zu ihren FreundInnen und auch den LehrerInnen war im Allgemeinen gut. Leyla konnte sehr schnell Kontakt zu Menschen finden. Auch in der Familie spielte sie eine große Rolle, sie lachte gerne und brachte andere zum Lachen.

Wie hast Du die Zeit erlebt, als sich Leyla der Befreiungsbewegung angeschlossen hat?

Wir sind alle mehr oder weniger im Verein groß geworden, aber bei Leyla ging das noch tiefer. Ich erinnere mich, dass sie an einem Hungerstreik teilgenommen hatte. Danach hat sie sich verändert, sie las noch mehr als früher, Bücher, Zeitschriften. Bei uns liefen immer die Nachrichten, aber sie hörte viel aufmerksamer zu als wir anderen. Der Krieg in Kurdistan ging ihr sehr nahe.

Und wie war Eure Beziehung untereinander?

Sie war nicht nur meine große Schwester; wenn meine Mutter nicht da war, übernahm sie auch die Mutterrolle für uns alle. Sie zeigte ihre Liebe sehr offen und beschäftigte sich viel mit mir, fragte nach und hörte zu. Das Letzte, was sie für mich getan hat, war meine Eltern zu überzeugen, dass ich in eine eigene Wohnung ziehen kann, weil ich angefangen hatte zu studieren und die Uni sehr weit weg war. Sie rief meine Mutter an und sagte ihr, sie müsse ihren Töchtern schon vertrauen. So hat sie meine Eltern überzeugt und sie haben es schließlich erlaubt. Ich habe eine Wohnung angemietet, aber nur eine Woche später wurde meine Schwester ermordet. Danach bin ich natürlich zu meiner Familie zurückgekehrt. Für mich ist nichts mehr wie früher, ich habe auch das Studium aufgegeben. Manchmal versuchen die Menschen mich zu trösten und sagen, das Leben geht weiter, Leyla hätte gewollt, dass du studierst und dein Leben lebst, aber ich will das von ihr selbst hören. Ihr Tod ist unbegreiflich für mich. Auch in der Familie spielte sie eine wichtige Rolle.

Möchtest Du zum Schluss noch etwas sagen?

Der Mord an meiner Schwester und den beiden anderen Freundinnen ist immer noch nicht aufgeklärt. Nichts kann sie zurückbringen, aber der französische Staat ist uns immer noch eine Erklärung schuldig.

Das Interview mit der Familie von Leyla Şaylemez führten Roj­da Aydin, Agnes Alvensleben, Mehmet Zahit Ekinci.