Vorstellung der Kampagne gegen den schmutzigen Handel der EU mit der Türkei
»Kein schmutziger Deal mit der Türkei! Keine Rückendeckung für Krieg gegen Menschenrechte, Demokratie und Frieden!«
Michael Knapp, Kurdistan-Solidaritätskomitee Berlin
Am 04.07.2016 stellten Vertreter_innen des Demokratischen Kongresses der Völker, HDK, eines Bündnisses aus türkischen, kurdischen und internationalen linken Gruppen, Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Kampagne »Kein schmutziger Deal mit der Türkei! Keine Rückendeckung für Krieg gegen Menschenrechte, Demokratie und Frieden!« vor. Inzwischen hat die Türkei einen Putschversuch und eine immense Steigerung der Repression auf Landesebene erlebt. Der »schmutzige Deal« der Bundeskanzlerin Merkel, auf Kritik an der Türkei auf allen Ebenen zu verzichten, dauert ungebrochen an. Während das AKP-Regime seine Machtbasis durch die Festnahme Zehntausender ausbaut, sichert ihm die EU zusätzlich zu den versprochenen 3 Milliarden Euro weitere 1,4 Milliarden Euro Unterstützung zu und stützt es damit ökonomisch.
Der sogenannte Flüchtlingsdeal ist allein für die Machtbasis von Merkel und Erdoğan positiv, für die Geflüchteten, die Bevölkerungen der EU und der Türkei stellt er jedoch eine Katastrophe dar. Treibt er doch die Geflüchteten in eine immer ausweglosere Situation und führt er doch zu einer noch weit größeren Zahl von Geflüchteten aufgrund der Stärkung des Erdoğan-Regimes und damit der Lösungslosigkeit der internationalen, regional im Mittleren Osten ausgetragenen, Konflikte.
Die Konsequenz für die Geflüchteten zeigte sich schon kurz nach der Unterzeichnung des Abkommens am 18. März – so berichtete Amnesty International von Massenabschiebungen syrischer Geflüchteter aus der Türkei zurück ins Kriegsgebiet. Die Türkei verfolgt damit die Taktik, exterritoriale Lager in Nordsyrien/Rojava zu errichten und als Schutzmacht für diese aufzutreten. Dies zielt darauf ab, eine direkte militärische Intervention und Besetzung dieser von der Türkei mit großem Interesse bedachten Gebiete vorzubereiten. Der Plan dieser Pufferzone wird von der Türkei mit großer Regelmäßigkeit aus der Schublade geholt – er stellt jedoch eine große Gefahr für die in Syrien und Rojava lebenden Menschen dar, da er sich gegen die Menschen und die Selbstverwaltung von Rojava richtet. Wenn die Menschen einmal die Grenze der Türkei auf offiziell syrisches Staatsgebiet überquert haben, wird die Rückkehr zu einem lebensgefährlichen Unterfangen, systematisch wird an der Grenze auf Flüchtlinge geschossen. Gerry Simpson von Human Rights Watch erklärte schon im Mai: »Während hochrangige, türkische Vertreter_innen behaupten, sie würden syrische Flüchtlinge mit offenen Grenzen und offenen Armen empfangen, werden diese von ihren Grenzschützer_innen geschlagen oder umgebracht ... Das Feuer auf traumatisierte Männer, Frauen und Kinder zu eröffnen, die vor Kämpfen und wahllosem Krieg fliehen, ist wahrhaft ungeheuerlich.«
Ein Überlebender eines solchen Angriffs am helllichten Tage beschreibt ihn folgendermaßen: »Am Sonntag, den 17. April brachte uns ein Schmuggler gegen fünf Uhr nachmittags zur Grenzmauer. Plötzlich, als wir etwa 500 Meter von der Mauer entfernt waren, hörten wir Schüsse aus automatischen Waffen, die von der Mauer aus abgefeuert wurden. Die Kugeln schlugen um uns herum ein. Die Frauen begannen zu schreien, die Kinder zu weinen, aber die Schüsse dauerten an. Wir warfen uns alle zu Boden und bedeckten die Kinder mit unseren Körpern. Ich lag in der Nähe meiner Schwester und meines Cousins, die Kugeln trafen sie, als sie am Boden lagen. Sie hörten auf zu schreien und zu rufen. Ich wusste sofort, dass sie tot waren.«
Hinzu kamen Fälle von systematischer Folter an Geflüchteten durch türkische Soldaten, im Falle von Cafer Abdullah El-Hemûd Anfang Juli 2016 mit Todesfolge. Offiziell sind in den letzten 22 Monaten mehr als 340 Zivilist_innen von türkischen Soldat_innen beim Grenzübertritt erschossen worden. Human Rights Watch veröffentlichte schon Anfang Mai ein Video, das vor den Übergriffen an der türkischen Grenze warnte (https://www.hrw.org/tr/news/2016/05/10/289723).
Ähnliche Vorfälle häuften sich in den letzten Wochen und Monaten. Selbst die Geflüchteten, die es in die Türkei geschafft haben, werden zum Spielball türkischer Machtpolitik. Während sich die türkische Regierung damit brüstet, mehr als 2,62 Millionen Geflüchtete aufgenommen zu haben, werden nur etwa 274 000 vom türkischen Staat in Aufnahmelagern versorgt. Der Rest ist gezwungen, im informellen Sektor als Billigstlohnkräfte ums Überleben zu kämpfen. Nur 300 000 von 700 000 Kindern im Grundschulalter besuchen eine Schule.
Erdoğan wurde dabei zum politischen Hoffnungsträger dieser Geflüchteten, als er ihnen die türkische Staatsbürgerschaft versprach. Durch diese 2,2 Millionen potentiellen Neubürger_innen soll die loyale Klientel der AKP erweitert werden und diese Bevölkerung gezielt zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt werden. So ist geplant, die Geflüchteten insbesondere in der kurdischen Region in den neu aufzubauenden kurdischen Städten anzusiedeln, um die Demographie und die Hegemonie der kurdischen Freiheitsbewegung zu brechen und in alevitischen Regionen wie Gurgum (Maraş) eine religiös-konservative regierungstreue Mehrheit herzustellen. Gerade die staatliche Organisation der Türkei, AFAD (Katastrophen- und Notfallmanagement-Behörde), welche die Flüchtlingslager betreibt, hat sich in der Vergangenheit immer wieder als Schnittstelle zu dschihadistischen Gruppen erwiesen und die Lager sind häufig zum Rekrutierungsfeld für Dschabhat al-Nusra und den sogenannten Islamischen Staat (IS) geworden. So wurden in Kobanê bei getöteten oder gefangenen IS-Mitgliedern immer wieder AFAD- Ausweise gefunden. Auch der türkische Geheimdienst rekrutiert hier für seine Esadullah-Todesschwadron, die in aufständischen kurdischen Städten eingesetzt wird.
Jedes dieser Themen ließe sich weiter vertiefen – unabhängig davon müssen sich die Unterstützer_innen des als »Flüchtlingsdeal« deklarierten Handels mit Menschen und ihren Rechten darüber klar sein, dass das erkaufte Schweigen der Bundesregierung die Massaker in Kurdistan unterstützt und befeuert und mittlerweile schon zu 500 000 Binnenflüchtlingen in der Türkei geführt hat. Während die Türkei behauptet, Flüchtlinge aus Syrien »mit offenen Armen« zu empfangen, entstehen neue große Fluchtbewegungen aus der kurdischen Region der Türkei.
Auch aus diesem und den genannten Aspekten heraus rufen wir dringend dazu auf, die Kampagne gegen den »schmutzigen Deal« zu unterstützen.