ypjDie Verteidigungskräfte von Rojava – YPG/YPJ

... ausschließlich zum Schutz der Bevölkerung agieren ...

Michael Knapp, Kurdistan-Solidaritätskomitee Berlin

Wir erleben in den letzten Jahren, Monaten und Wochen rasende Veränderungen in der Region Rojava. Ein basisdemokratisches Rätesystem etabliert sich immer weiter. Die sich permanent erweiternde gesellschaftliche Organisierung, die Ausrufung der Autonomie und die Wahlen, die im Mai anstehen, zeigen die Dynamik in der Region. Viele Menschen blickten am 19. Juli 2012 staunend nach Syrien, nach Rojava, als eine Stadt nach der anderen die Revolution ausrief und die Bevölkerung zusammen mit den Volksverteidigungseinheiten (YPG) das Assad-Regime aus vielen Orten Rojavas – soweit möglich – friedlich vertrieb. Es warf die Frage auf: Woher kommt auf einmal diese Massenorganisierung?

 

Dazu muss man wissen, dass diese Verteidigungseinheiten nicht aus dem Nichts entstanden sind, sondern auf einer Entwicklung aufbauen, die 2004 mit dem Massaker von Qamişlo (al-Qamishli) begonnen hatte. Der Boden für die kurdische Freiheitsbewegung in der Region war allerdings schon weit früher bereitet worden, als die PKK mit ihrer Mahsum-Korkmaz-Akademie in der Bekaa-Ebene vertreten war und viele AktivistInnen aus dieser Bewegung, allen voran auch Abdullah Öcalan, die Region bereisten und mit der Bevölkerung in Kontakt traten und einen bleibenden Eindruck hinterließen, sodass, als wir uns im Oktober 2013 eine Woche mit einer Delegation in Rojava aufhielten, viele Familien, bei denen wir wohnten, noch diesen prägenden Einfluss und erste Begegnungen mit der PKK und ihrer Befreiungsideologie in Erinnerung hatten. In den letzten dreißig Jahren schlossen sich viele syrische Kurdinnen und Kurden der PKK an und kämpften in anderen Regionen Kurdistans.

Die ideelle Verbindung mit der PKK und ihrer Ideologie prägte vor allem die von Ausgrenzung und Assimilierung durch den syrischen Staat betroffene kurdische Bevölkerung Rojavas. Dies gilt insbesondere für die durch die Frauenbefreiungsideologie besonders angesprochenen Frauen.

2004, nach einem Fußballspiel und Übergriffen baathistischer Fans auf KurdInnen, kam es zu einem spontanen Aufstand, der vom syrischen Staat mit massiver Gewalt niedergeschlagen wurde. Pro Asyl spricht in einer Erklärung von mindestens 70 Toten und 300 Verletzten.1

Spätestens ab diesem Zeitpunkt war vielen KurdInnen klar geworden, dass klandestine Selbstverteidigungskomitees eine unabdingbare Notwendigkeit darstellen. So wurde damit begonnen, illegale Einheiten aufzubauen, die in der Lage waren, Vergeltungsaktionen auf Angriffe des Assad-Regimes durchzuführen. Vergeltungsaktionen dieser Einheiten fanden schon lange vor den Aufständen in Syrien unter anderem in ar-Raqqa und Heleb (Aleppo) statt.

Der Aufbau der YPG 2012

Nach dem Beginn der Aufstände wurde in den Widerstandskomitees in Rojava beschlossen, dass diese Einheiten, die sich schon lange vor den Aufständen heftige Kämpfe mit dem Regime geliefert hatten, nun offiziell als Yekiniyen Parastina Gel – als Volksverteidigungseinheiten – auftreten. Im Jahr 2012 kehrten nun auch viele AktivistInnen aus Rojava, die zuvor in der PKK oder der PJAK aktiv gewesen waren, nach Rojava zurück und unterstützten den Aufbau der YPG. Allen voran der 25 Jahre als Kommandant der kurdischen Guerilla tätige Xebat Dêrik, der einen besonders aktiven Beitrag zum Aufbau der YPG leistete. Er wurde durch ein Komplott, in das Agenten des türkischen Geheimdienstes MIT wie der syrische Kurde Abdullah Bedro verwickelt waren, ermordet. Dieser Mord machte schon das aktive »Interesse« der Türkei an der Lage in Rojava deutlich. Eine Organisierung des Widerstands unter Einfluss linker Ideen sollte um jeden Preis verhindert werden. Doch die Realität in Rojava ist eine andere.

Bekanntlich ist Rojava eine multiethnische und multireligiöse Region. Um eine solche, besonders in Krisenzeiten, zu organisieren und zu verwalten, drängt sich ein System der Repräsentanz aller Identitäten und Bevölkerungsgruppen nahezu auf. Diese Idee musste nicht neu erfunden werden, sie ist in der kurdischen Region insbesondere in Nordkurdistan seit Ende der 90er Jahre präsent – der Demokratische Konföderalismus. So kamen zwei bedeutende Entwicklungsstränge zusammen, einerseits die Notwendigkeit der Organisierung und andererseits das Vorhandensein einer Gesellschaftstheorie und praktischer Erfahrungen damit in den anderen Teilen Kurdi­stans. Dies führte dazu, dass die YPG nach den Paradigmen des Demokratischen Konföderalismus, also unter anderem Basisdemokratie und Geschlechterbefreiung, Anfang 2012 gegründet wurden.

Die Revolution vom 19. Juli 2012

Mittlerweile beträgt die Stärke der YPG etwa 45 000 KämpferInnen (November 2013); dies ist allerdings die Konsequenz aus jahrzehntelanger Arbeit und dem erfolgreichen Kampf um Rojava seit dem ersten offenen Auftreten der Verteidigungseinheiten. Mit der Gründung der YPG wurden die ersten Camps und eine Akademie zur Ausbildung der Einheiten aufgebaut. Die Menschen strömten zu den YPG und natürlich begannen damit auch die ersten Angriffe. Der YPG-Kommandant Sipan Hemo erklärte dazu in einem Interview: »Die YPG haben ihre eigentliche Rolle in der Revolution am 19. Juli 2012 begonnen. (...) Sie spielten ihre Rolle bei der Befreiung der kurdischen Regionen. (...) Am 19. Juli wurden Kobanê (Ain al-Arab) und darauf Efrîn (Afrin) und Dêrik (Al-Malikiya) nach kurzen Kämpfen zwischen YPG und Regimekräften befreit und damit die Revolution vom 19. Juli ausgerufen.«2 Damit waren die YPG eine regionale wie auch international bekannte Realität geworden und Angriffe, nicht nur vom Baath-Regime und islamistischen Banden, sondern vor allem von Kräften, die eine Revolution nicht wollten, nahmen zu. In Dêrik, so berichteten uns AugenzeugInnen des Tages der Befreiung, kam es zu heftigeren Auseinandersetzungen mit dem Regime, doch letztendlich zogen dessen Einheiten ab und die Selbstverwaltung und Organisierung der Region konnte beginnen.

Die YPG als Verteidigungskraft der gesamten Bevölkerung Rojavas

Ein anderer wichtiger Wendepunkt in der Geschichte der YPG waren der Widerstand und die Befreiung der strategisch besonders wichtigen Stadt Serê Kaniyê (Ras al-Ain) im Herbst 2012. Sipan Hemo erklärt die Entwicklungen dort folgendermaßen: »Eigentlich hätten die YPG den Banden3 den Zutritt nach Serê Kaniyê verwehren können. (...) Aber zu dieser Zeit war das Regime noch dort. Wenn die YPG den Banden den Zugang verweigert hätten, wären die unsinnigen Anschuldigungen, dass wir mit dem Regime zusammenarbeiten würden, noch viel lauter vorgebracht worden. Deshalb haben sie ihnen den Zugang nach Serê Kaniyê nicht verweigert. Wir dachten, das Volk von Serê Kaniyê soll sich selbst verwalten, und die militärischen Kräfte sollten sich schließlich ja auch wieder zurückziehen. Aber diese Gruppen haben das nicht akzeptiert. Sie haben keine solche Herangehensweise. Sie meinen, ›das ist jetzt unser und wir bewegen uns dort so, wie wir es für richtig halten‹. Und so haben sie sich auch verhalten. Sie haben der kurdischen Bevölkerung sehr geschadet. Sie haben die arabische Bevölkerung unterdrückt, sie haben die Häuser der AssyrerInnen, SyrianerInnen und ArmenierInnen verwüstet und zerstört. Sie haben sehr schlimme Dinge getan. Schließlich kam der Punkt, der das Fass zum Überlaufen brachte: Sie haben den Unterhändler des Volksrats von Serê Kaniyê, Abid Xelîl, bei Verhandlungen ermordet.4 Danach erklärten die YPG den Banden, die nach Serê Kaniyê kamen, den Krieg. Niemand konnte glauben, dass die YPG gegen die Banden bestehen, geschweige denn sie besiegen könnten.5 (...) Der Widerstand der YPG war jedoch ein voller Erfolg.«

Mit diesem Kampf um Serê Kaniyê hatten die YPG großen Teilen der Bevölkerung Rojavas bewiesen, dass sie in der Lage wären, sie schützen zu können. Dabei spielte eine besondere Rolle, dass sie heilige Plätze aller Religionen befreiten und es als ihre Aufgabe sehen, die Sicherheit aller ethnischen und religiösen Gruppen der Region zu garantieren. In dieser Phase begannen insbesondere auch Mitglieder der SyrianerInnen und AssyrerInnen, den Verteidigungseinheiten beizutreten. Besonders in Qamişlo und Amûdê traten viele jugendliche Gruppen, die auch vorher in Europa durch ihre Protestaktionen gegen das Assad-Regime bekannt geworden waren, den YPG bei. Tausende meldeten sich freiwillig, zum Teil zunächst nur mit Steinen und Stöcken bewaffnet.

Der erste Kongress der YPG

Da der Zustrom aus allen Bevölkerungsteilen die YPG nun zu einer Organisation von vielen tausend Kämpferinnen und Kämpfern machte, wurde es notwendig, sich einen neuen organisatorischen Rahmen zu geben. Diese Konferenz fand am Jahreswechsel 2012/13 statt, und es wurde in einer Erklärung klargestellt, dass die YPG keiner Partei, sondern einzig und allein dem, die Bevölkerung von Rojava repräsentierenden Kurdischen Hohen Rat6, unterstellt sind. Das ist besonders hervorzuheben, da zwar anfangs der Aufbau der YPG vor allem stark von der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) unterstützt wurde, ihnen mittlerweile jedoch Mitglieder vieler Parteien und gesellschaftlicher Gruppen angehören und nur eine absolute Minderheit bis jetzt nicht am Kurdischen Hohen Rat und den Verteidigungseinheiten teilnimmt. Dabei handelt es sich um in Rojava marginale, aber von der PDK Südkurdistans unterstützte Gruppen und Parteien, die darauf aus sind, Parteimilizen aufzubauen, was die kurdischen Räte aber nicht zulassen, um ein Ausweiten des Bürgerkriegs auf Rojava zu verhindern. Weiterhin wurde auf diesem Kongress die eigene Führung frei gewählt und die Befehlsstrukturen und das Kriegsrecht wurden formalisiert. Eine weitere Entscheidung war, neben den gemischten Einheiten der YPG die Yekîniyên Parastina Jinan – die Frauenverteidigungseinheiten – aufzubauen.

Die YPJ: »Die Frauenbataillone als Garantie der Revolution in Rojava«

Schon zu der Zeit, als die YPG noch im Untergrund agierten, traten ihnen viele Frauen bei. Als Frauen mit der Revolution vom 19. Juli in den Verteidigungskräften begannen, offen auf der Straße zu agieren, stellte für viele von ihnen die Teilnahme an den bewaffneten Kräften eine Möglichkeit dar, sich in den Schutz der Region und die Verteidigung und Eroberung insbesondere der Frauenrechte einzubringen. Tausende Frauen strömten in die YPG und so kam es zum Beschluss, eine eigenständige Frauenarmee, neben den gemischten Einheiten der YPG, zu bilden. Diese Frauenarmee kämpft gleichberechtigt mit den YPG und ist ihnen nicht untergeordnet.

Im Jahr 2013 etablierten sich die Fraueneinheiten so stark, dass nach Aussagen der Bataillonskommandantin der YPJ, Zozan Deniz, auf zehn Männer, die den YPG beitreten, zwanzig Frauen kommen. Für die Frauen ist der Beitritt eine persönliche und politische Entscheidung: »Die Frauen kommen häufig aus eigener Identifikation mit den Vorstellungen der YPJ. Sie sehen, dass sie in der Gesellschaft in deren Ist-Zustand nicht leben können. Insbesondere für Frauen ist die momentane Situation besonders schlimm. Denn die dschihadistischen Banden greifen besonders die Frauen an. In Tell Harran haben die Frauen das erlebt. Sie haben sie splitternackt ausgezogen und auf die Straßen geworfen. Es gab Vergewaltigungen. Die Frauen haben gesehen, was passieren wird, wenn sie sich nicht verteidigen. Sie werden ermordet, zerstückelt, vergewaltigt und ihre Körper verkauft. Das haben sie erlebt. Sie haben gesehen, dass nicht nur sie selbst in Gefahr sind, sondern die gesamte Gesellschaft. Während die Männer flohen, haben es die Frauen vorgezogen zu kämpfen. Von hier sind sehr viele Männer geflohen, aber die Frauen bleiben. Deswegen sagen wir, diejenigen, die Rojava retten werden, sind die Frauen!«7

Die Einheiten der YPJ kämpfen an allen Fronten und den entscheidendsten Positionen und in allen Waffengattungen, von leichten Waffen bis hin zu Panzerbataillonen.
Für viele Frauen stellt die Teilnahme an den YPJ nicht nur den Kampf zur Verteidigung von Rojava in den Mittelpunkt, sondern auch den Kampf gegen Feudalismus und Patriarchat in der kurdischen Gesellschaft. So lernen sie neben der militärischen Ausbildung auch Frauengeschichte und die Analyse des gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisses. Diese Ausbildung, die je nach Kriegssituation zwischen zwanzig Tagen und drei Monaten dauert, geht dann täglich in den Einheiten weiter. Sowohl in den YPG als auch in den YPJ findet jeden Abend auch unter diesem Gesichtspunkt ein Tekmil, ein Zusammenkommen statt, bei dem Kritik und Selbstkritik geübt werden.

Die Generalkommandantin der YPJ, Axin Nucan, erklärt dazu: »Den Frauen wurde keine Möglichkeit zur Bereicherung ihres Lebens gelassen. Das Grundziel dieser Schulungen ist es, dass sich die Frauen selbst kennenlernen und in jedem Bereich ihres Lebens einen eigenen Willen und Selbstvertrauen entwickeln. (...) Der Vorsitzende Apo hat erklärt, dass ›eine andere Welt möglich ist‹. Das Schicksal, das uns die Männer auferlegt haben, kann nicht unser Schicksal sein. Wir sind eine Struktur, in der sich jede Frau, die uns beitritt, selbst ausdrücken kann. Und es erregt Aufmerksamkeit, dass unsere Struktur so anders ist. Die Bevölkerung empfindet große Liebe und großen Respekt uns gegenüber. Manche, die uns sehen, weinen vor Freude.«8

Die Biografie der ersten Gefallenen der YPJ ist typisch für die Biografien vieler Frauen. Axin Nucan berichtet von ihr: »Unsere erste Märtyrerin war die Freundin Bêrîvan. Hier leidet jede Frau. Die Freundin Bêrîvan hatte ein Kind. Sie hatte von ihrem Ehemann viel Unterdrückung erlebt. Sie hatte sehr gelitten. Sie war zwangsverheiratet worden. Aber sie akzeptierte es nicht, dort zu bleiben und weiter im gleichen Schmerz zu leben. Sie suchte deswegen einen anderen Weg und sie rettete sich, indem sie sich den YPJ anschloss. (...) Sie wurde eine erfolgreiche Kämpferin der YPJ. Sie kämpfte für die Befreiung ihres Landes, ihres Volkes und der Frauen und fiel dafür als Märtyrerin. Sie schrieb damit unauslöschbar unsere Geschichte.«9

Als wir uns im Oktober 2013 bei Einheiten der YPJ aufhielten und mit den Kämpferinnen sprachen, hatten wir einen ähnlichen Eindruck von den Frauen dort gewonnen. Sie kämpfen einerseits gegen die Banden der Dschihadisten, aber andererseits analysieren sie die patriarchalen gesellschaftlichen Verhältnisse und treten auch für Revolution im Sinne der Geschlechterbefreiung ein. Die YPJ sind tausende Frauen unter Waffen, die insbesondere in einer Nachkriegsordnung das Potential bilden, die Gesellschaft weiter zu revolutionieren.

Anfang 2013 – zwischen Regime und islamistischen Gruppen

Eine weitere zentrale Entscheidung des Kongresses war, alle Regimekräfte aus Rojava zu entfernen und die Revolution vom 19. Juli fortzusetzen – das bedeutet, weitere Städte und Orte zu befreien.

Sipan Hemo erklärt hierzu: »Es war nicht unser Plan, gegen die islamistischen Banden zu kämpfen. Unser Plan war, die Region vom Regime zu befreien. Deswegen haben wir direkt nach der Konferenz beschlossen, Gir Ziro (Tall Adas) zu befreien und die Regimekräfte zu vertreiben. Als wir gerade das Regime angriffen, fingen die Islamisten sofort wieder neue Angriffe auf Serê Kaniyê an. Unsere Haltung war trotzdem klar, wir sagten: ›Koste es, was es wolle, wir wollen Gir Ziro vom Regime befreien.‹ Weiterhin waren wir entschlossen, uns gegen die Banden zu verteidigen. Das war in den ersten Tagen von 2013. (...) Wir haben das Regime aus Gir Ziro10 vertrieben. (...) Nach einem sehr langen, 15 Tage dauernden Kampf, war dann auch Serê Kaniyê erfolgreich befreit.«

Diese Erfolge bedeuteten eine weitere Anerkennung der YPG, einerseits waren die Banden in dieser Region nun weitgehend zerschlagen, andererseits wurde deutlich gemacht, dass Rojava einen entscheidenden Faktor darstellt. Dies war das erste Mal, dass die syrische Opposition Verbindungen mit den YPG aufbauen wollte. Die haben hier entschlossen abgelehnt, eine eigene Außenpolitik zu machen, und an den Kurdischen Hohen Rat verwiesen, dem sie unterstehen. Das führte zu den ersten diplomatischen Verbindungen des Kurdischen Hohen Rates und der syrischen Opposition.

Das Selbstverständnis der »legitimen Selbstverteidigung«

Der kurdischen Freiheitsbewegung in Rojava wird immer wieder aufgrund ihres vermeintlich zögerlichen Vorgehens eine Kollaboration mit dem Regime unterstellt. Dieses Vorgehen von YPG und YPJ, die ausschließlich zum Schutz der Bevölkerung agieren, muss allerdings unter einem Aspekt, der alle Teile Kurdistans betrifft, analysiert werden. Wie schon dargestellt arbeitet auch die kurdische Selbstverwaltung in Rojava nach den Prinzipien des Demokratischen Konföderalismus. Ein wichtiges Paradigma sind die Demilitarisierung und der Ausschluss militärischer Mittel von der politischen Auseinandersetzung, wo es möglich ist. Daher agieren sie, ähnlich wie die kurdische Guerilla HPG (Volksverteidigungskräfte) in Nordkurdistan (Türkei) nach dem Prinzip der legitimen Selbstverteidigung. Das bedeutet, dass allem militärischen Agieren ein reagierender Charakter zugrunde liegt – also konkret: Angriffe werden vergolten, auf gegnerische Offensiven wird mit eigenen Offensiven geantwortet, aber immer wird die Möglichkeit der politischen Auseinandersetzung vorgezogen. So haben wir uns beispielsweise gewundert, warum in der Großstadt Qamişlo in Rojava noch ein Flughafen vom Assad-Regime kontrolliert wird. Die Verantwortlichen vor Ort erklärten uns, dass es durchaus möglich wäre, das Regime zu vertreiben, dies aber zu einer Eskalation und einem Bombardement der Stadt führen würde, was inakzeptabel wäre. Als das Regime jedoch Checkpoints der YPG in der Nähe von Heseke (Hesîçe/Al-Hasaka) angriff, führten die YPG begrenzte Vergeltungsangriffe auf Stellungen des Regimes durch. Das gleiche Verhältnis haben die YPG auch, soweit möglich, zu allen anderen Parteien dieses Krieges. Ziel ist, die Situation nicht weiter zu eskalieren, sondern Frieden zu schaffen und wirkliche Demokratie in der Region aufzubauen.

Der Kampf um das Embargo und um Einfluss in Rojava

Die Erfolge der kurdischen Einheiten setzten sich fort und sie befreiten u. a. die kurdische Region Rumeylan, aus der 60 % der Ölproduktion Syriens stammen. Die Ölförderung wurde kollektiv weiterbetrieben. Damit war ein entscheidender Sieg auch in ökonomischer Hinsicht errungen worden, der die Aufmerksamkeit der regionalen und internationalen Mächte auf sich zog. Gleichzeitig verschärfte sich das Embargo gegenüber Rojava vonseiten sowohl der Kurdischen Regionalregierung in Südkurdistan (KRG) wie auch der Türkei. Die etablierte Selbstverwaltung der Region sollte so zerstört werden. Auf Treffen in Riha (Urfa) und darauf in Dîlok (Antep) im Sommer 2012 war von den Regionalmächten beschlossen worden, dass die Region Rojava mithilfe der Banden zwischen den Einflusssphären der Türkei und Südkurdistans aufgeteilt werden sollte. An diesen Treffen beteiligten sich nach Sipan Hemo einige europäische Staaten, Saudi-Arabien, der türkische Außenminister Davutoğlu und der KRG nahestehende Gruppen. Dort wurde ein strategischer Pakt geschlossen, dass die Regionen Efrîn und Kobanê dem Einflussbereich der Türkei zugeschlagen werden sollten, während die Region Cizîre unter dem Einfluss der KRG und damit direkt der USA stehen sollte.
Vor Ort konnten wir in Flüchtlingslagern in Südkurdistan in Erfahrung bringen, dass für diesen Plan mehr als 6 000 Flüchtlinge aus Rojava in Südkurdistan zu paramilitärischen Einheiten von der KRG nahestehenden Gruppen ausgebildet werden sollten. Dieser Plan scheiterte allerdings. Es fanden im Sommer koordinierte und gleichzeitige Angriffe in Efrîn, Serava und Serê Kaniyê statt und parallel dazu schloss die KRG den Grenzübergang von Semalka, aber die Angriffe scheiterten am Widerstand der YPG und YPJ.11

»Der Kampf um Geschwisterlichkeit und Einheit«

Ein bedeutender Schritt war die Eroberung des Grenzübergangs von Til Kocer (al-Yarabiya) in die irakische Stadt Mossul im Herbst 2013. Weitere Orte folgten. Von ISIS (Islamischer Staat im Irak und in Syrien) und Al-Nusra kontrollierte Orte litten heftig unter den Übergriffen dieser Banden. Etliche arabische Städte und Orte baten um die Intervention der YPG – viele schlossen sich auch den Verteidigungseinheiten an. Sipan Hemo erklärt zu dieser Phase: »Wir konnten nicht zu Grausamkeiten schweigen, die den AssyrerInnen, SyrianerInnen, TurkmenInnen und auch den sunnitischen AraberInnen angetan wurden. Deshalb setzten wir den in Serê Kaniyê, Tirbespî (al-Qahtaniya), Til Temir (Tel Tamer) und Til Kocer begonnenen Kampf fort und wir können ihn in diesem Sinne ruhig als einen Kampf der Geschwisterlichkeit bezeichnen. Es ist der Kampf um Geschwisterlichkeit und Einheit. (...) Die YPG haben diesen Kampf auf den Ruf der arabischen Bevölkerung hin begonnen und zu Ende gebracht.«

In diesem Kampf kam es auch zu schweren Verlusten aufseiten der YPG.12 Es fielen 49 KämpferInnen der Miliz und der YPG. Die schweren Verluste bei dieser Operation sind auf einen Hinterhalt zurückzuführen, der von anderen der KRG nahestehenden kurdischen Gruppen wie der Azadî- und der Yekitî-Partei in Zusammenarbeit mit ISIS und Al-Nusra gelegt worden war. Unterstützt wurden diese Gruppen, die gemeinsam mit ISIS und Al-Nusra gegen die YPG vorgingen, von der El-Partei, auch als PDK-Syrien, also als Ableger der Regierungspartei der Autonomen Region Kurdistan, der PDK, bekannt.

Eine Folge dieser multiethnischen und säkularen Haltung von YPG und YPJ ist der Beitritt des »Militärrats der AssyrerInnen« zu den YPG. Damit haben sich die Verteidigungseinheiten der assyrisch-christlichen Minderheit mit den YPG zum Kampf gegen Dschihadisten zusammengeschlossen.

YPG und YPJ als militärisch erfolgreiche Verteidigungskraft

Obwohl die islamistischen Banden von Staaten wie Saudi-Arabien und Qatar, aber auch vom NATO-Staat Türkei, zum Teil mit modernsten Waffensystemen versorgt werden, haben YPJ und YPG beträchtliche militärische Erfolge zu verbuchen. So fielen nach Angaben des Pressezentrums der YPG im Jahr 2013 bei Gefechten 379 Angehörige von YPG und YPJ, während bei Kämpfen mit diesen Einheiten 376 syrische Soldaten und 2 923 Mitglieder der Al-Qaida-Gruppen starben und 790 Soldaten und Polizisten des Regimes vorübergehend festgenommen worden waren und dann ihren Familien übergeben wurden. Von den 587 festgenommenen Mitgliedern von Al-Qaida-Banden waren nur 91 syrischer Herkunft. Die YPG konnten große Mengen Waffen erobern, darunter auch 14 Panzer und 56 weitere Fahrzeuge, und dadurch ihre Kräfte weiter ausbauen. Weiterhin befreiten sie im Jahr 2013 fünf Städte, sechs Landkreise und etwa 120 Dörfer.

Angesichts dieser Zahlen stellt sich die Frage nach den Gründen für diese Unterschiede in der Höhe der Verluste von YPG/YPJ und Al-Qaida-Banden. Bei vielen Einheiten, die wir besucht haben, erfuhren wir ein ganz ähnliches Bild von den Bandenmitgliedern, die aus aller Welt zu Tausenden meist über die türkische Grenze nach Rojava eindringen. Das, was die YPJ-Kämpferin Sana Efrin gegenüber der Nachrichtenagentur ANF berichtete, entspricht den Erfahrungen, die uns viele KämpferInnen mitgeteilt haben: »Das sind häufig keine richtigen Kämpfer. Sie bewegen sich vollkommen dumm und irren auf dem Schlachtfeld herum. Sie haben kein System und keine Struktur. Sie sind so armselig, dass sie glauben, sie könnten den Krieg mit der Kraft ihrer Arme gewinnen. Wenn man gegen jemanden von Al-Qaida kämpft, dann hat der eine Haltung, aber das sind nur Plünderer, Banden, und es tut uns eigentlich sogar leid, gegen sie zu kämpfen. (...) Sie trauen sich mit ihren riesigen Körpern und gewaltigen Bärten gegen uns zu kämpfen, aber sie wissen nicht, wie das geht. Darum haben sie noch keinen Kampf gewonnen und werden auch nie einen gewinnen. Wir machen sie nicht klein, sondern wir bekämpfen sie ernsthaft. So sieht die Realität aus.« Es gibt, wie oben auch erwähnt, ausgebildete Einheiten von Al-Qaida-Veteranen aus dem Kaukasus, Afghanistan und anderen Orten der Welt, aber die Mehrheit, die unter der Parole »Wir sind gekommen, um zu schlachten«13 nach Syrien zieht, scheint dem obigen Bild zu entsprechen, dem noch hinzufügen wäre, dass viele wirklich zu glauben scheinen, zu sterben sei für das eigene Seelenheil erstrebenswert. Andererseits ist zu dieser Bilanz weiterhin zu sagen, dass es, selbst wenn es im Interesse der YPG/YPJ läge, ihre eigenen Verluste herunterzurechnen, nicht möglich wäre, da diese Einheiten Milizen sind, die regelmäßig ihre Familien besuchen, also keine von der Gesellschaft abgeschotteten kasernierten Einheiten darstellen.

Fazit

Wir können die letzten beiden Jahre als sehr erfolgreich zusammenfassen. Rojava konnte von den YPG/YPJ in großen Teilen befreit und verteidigt werden, während in dem Frieden, der sonst in ganz Syrien nicht herrscht, ein System von Basisdemokratie, Selbstverwaltung und einer an der Gesellschaft orientierten Ökonomie eingerichtet wird.
Als Schlusswort möchte ich die YPJ-Kämpferin Viyan Soran zu Wort kommen lassen: »Wir sind eine Verteidigungskraft. Wir wurden auf der Basis der Philosophie gegründet, unser Volk, unser Land zu verteidigen, und wir verhalten uns dementsprechend. Wir sind keine Angriffskraft, wir greifen niemanden an und bringen ihn um. Da sie unsere Praxis sehen, kommen mittlerweile auch zahlreiche Angehörige anderer Volksgruppen der Region und schließen sich uns an. Wir sind nicht nur kurdische KämpferInnen. Bei uns kämpfen AraberInnen, ArmenierInnen und die anderen aus der Region. In diesem Sinne sind wir die Verteidigungskraft aller Völker der Region. Wir wissen aus der Geschichte, dass nur eine Revolution, die sich verteidigen kann, siegreich sein wird. Wir werden siegen, unsere Zukunft ist die Freiheit.«14

Unsere Aufgabe hier in Europa ist es, Druck aufzubauen, um das Embargo gegen Rojava vonseiten der Türkei und der KRG zu durchbrechen und endlich dafür zu sorgen, die Regierungen unter Druck zu setzen, dass sie aufhören, weiter Öl ins Feuer des Krieges in Syrien zu gießen, und dafür zu sorgen, dass sie die Selbstverwaltung von Rojava anerkennen und sie an den Verhandlungstisch zu holen. Nur so ist ein Frieden für Syrien möglich.

1 http://www.proasyl.de/texte/mappe/2004/89/10.pdf
2 http://www.yeniozgurpolitika.org/index.php?rupel=nuce&id=27573 ÖP 20.01.2014
3 islamistische Banden, manche Teil der »Freien Syrischen Armee« (FSA)
4 am 19.11.2012
5 Die islamistischen Banden wurden u. a. von der Türkei mit Kurzstreckenraketen unterstützt (siehe NRhZ vom 21.11.2012, http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=18449).
6 Der »Hohe Rat« ist eine Institution, welche die Spitze des Rätesystems darstellt und alle Bevölkerungsgruppen und Identitäten, auch per Quoten, repräsentieren soll.
7 ANF, 29.09.2013 (http://www.firatnews.com/news/guncel/rojava-devriminin-teminati-kadin-taburlari.htm)
8 ibd
9 ibd
10 Das Regime wurde am 20.01.2013 von den YPG aus Gir Ziro vertrieben (siehe ANF, 21.01.2013, http://firatnews.com/news/kurdistan/ypg-gir-ziro-da-denetimi-ele-gecirdi-1.htm).
11 Sipan Hemo, s. o.
12 http://rojavabilgi.blogspot.de/2014/01/kurdistan-snrnda-cok-merkezli-iki.html
13 Eine Parole, die wir immer wieder an den Wänden in den ehemals von den Dschihadisten kontrollierten Gebieten lesen konnten. ANF, 29.09.2013
14 (http://www.firatnews.com/news/guncel/rojava-devriminin-teminati-kadin-taburlari.htm)