Aktuelle Bewertung
Der »Prozess« hat positive Entwicklungen mit sich gebracht ...
Zübeyir Aydar, Exekutivratsmitglied der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans KCK
In den letzten zwei Monaten hat es in Syrien und der Türkei wichtige Entwicklungen gegeben, was sowohl die kurdische als auch andere politische Fragen angeht.
Der sogenannte Lösungsprozess hat sein erstes Jahr hinter sich. Er begann, als in den letzten Monaten des Jahres 2012 Gespräche mit Herrn Abdullah Öcalan geführt wurden. Anfang 2013 kam dies an die Öffentlichkeit. Dieser »Lösungsprozess«, »Imralı-Prozess« oder »Prozess für eine friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage«, wie er von kurdischer Seite bezeichnet wird, hält weiter an. Wenn wir einen Blick auf das vergangene Jahr werfen, werden wir sehen, dass in dieser Zeit viel diskutiert wurde und auch einige wichtige Schritte – wenn auch vor allem von kurdischer Seite – getätigt worden sind. Will man ein Zwischenfazit aus diesem Prozess ziehen, muss man sich fragen, wo wir nun stehen, wie weit wir gekommen sind und wohin wir noch gehen werden. Ich werde versuchen, diese Fragen aus der Sicht der kurdischen Seite zu beantworten.
Die Vorwände der AKP
Man muss direkt zu Anfang sagen, dass der Prozess nicht in gewünschter Form voranschreitet. Grund dafür ist, dass die AKP-Regierung ihre Verpflichtungen nicht einhält. Wenn sie eingehalten hätte, was sie bei den Gesprächen in Imralı zugesagt hatte, wären die Sicherheits-, Justiz- und Verfassungsfragen des Prozesses, anders gesagt die erste und zweite Stufe des Lösungsprozesses, bereits abgeschlossen worden. Aktuell wären wir in der sogenannten Normalisierungsphase und es gäbe kein Zurück mehr. Leider hat sich trotz allen Drucks, der auf die Regierung erzeugt wurde, auf rechtlicher wie auf der Verfassungsebene bisher nichts getan. Die verkündeten Lösungspakete wurden alle einseitig von der Regierung geschnürt und haben eher den Charakter, dass sie die Auswirkungen der Frage zu lindern versuchen. Die Ursachen der Frage werden darin nicht berührt. Und außerdem hat es noch kein Inhalt der Pakete als Gesetzesentwurf ins Parlament geschafft. Was wir daraus schließen können, ist, dass die AKP viel über die Probleme redet, aber nur wenig lösungsorientiert arbeitet. Und immer noch versucht sie die kurdische Seite hinzuhalten. Sie hätte 2013 alle notwendigen Schritte durchführen können. Es gab keine Hindernisse dafür, weder standen irgendwelche Wahlen an, noch gab es dagegen eine ernstzunehmende Opposition. Selbst die nationale und internationale Öffentlichkeit waren dazu bereit. Doch von der AKP kam nichts.
Die kurdische Seite hat ihre Anforderungen an den Prozess erfüllt. Sie hat die Gefangenen, die sie in ihrer Hand hatte, freigelassen. Sie hat den Waffenstillstand erklärt. Sie hat ihre Guerillakräfte vom Territorium der Türkei zurückgezogen, die in bewaffnete Auseinandersetzungen hätten geraten können. Trotz aller Provokationen, wie der Morde von Paris im Januar 2013, wie der Ermordung dreier kurdischer Demonstranten bei einem friedlichen Protest gegen den weiteren Ausbau türkischer Militärstationen in Gever (Hakkari), wie der Tatsache, dass immer noch kurdische Politiker und Politikerinnen inhaftiert sind und weitere festgenommen werden, hat die kurdische Seite weiter mit Geduld an diesem Prozess festgehalten. Wenn wir also heute noch davon reden können, dass dieser Prozess fortgeführt wird, so hat das viel mit der Haltung und den einseitigen Schritten der kurdischen Seite zu tun. Aber das bedeutet auch nicht, dass die Situation endlos lange so aufrechterhalten werden kann.
Ich möchte nicht sagen, dass dieser Prozess nichts gebracht hat oder keinerlei Bedeutung besitzt. Neben all dem oben Gesagten hat der Prozess auch positive Entwicklungen mit sich gebracht. Es ist vor allem die türkische und kurdische Gesellschaft, die durch diesen Prozess ein wenig aufatmen kann. Denn seit einem Jahr hält ein Waffenstillstand an und in dieser Zeit ist kein Mensch bei einer bewaffneten Auseinandersetzung ums Leben gekommen. Durch die Diskussionen, die in derselben Zeit geführt wurden, hat sich auch für eine breitere Öffentlichkeit herausgestellt, dass eine Lösung der kurdischen Frage nicht unmöglich ist. Dieselbe Öffentlichkeit hat auch verstanden, dass Herr Öcalan der Ansprechpartner der kurdischen Bewegung ist und dass diese Bewegung gewillt ist, ihren Beitrag für den Frieden zu leisten. Das kann ebenfalls als eine Errungenschaft des Prozesses bezeichnet werden.
Für eine Lösung bedarf es der Ernsthaftigkeit
Ich habe versucht zu beschreiben, weshalb der Prozess in seiner jetzigen Form nicht fortgeführt werden kann. Nun stehen wir vor den Kommunalwahlen. Nach dem 30. März wird die Lage nochmals neu bewertet werden. Das hat die kurdische Seite erklärt. Ob der Prozess dann weiterlaufen wird oder nicht, hängt davon ab, ob die Regierung Schritte in die richtige Richtung unternehmen wird oder eben nicht. In einer seiner letzten Erklärungen gab Herr Öcalan bekannt, dass er im April die Lage neu bewerten werde, und falls die Regierung ihre Haltung zum Prozess bis dahin nicht verändere, könne er leider keinen Beitrag mehr leisten. Die Forderung der kurdischen Seite lautet deshalb, dass die türkische Regierung mit Ernsthaftigkeit für eine Lösung zu arbeiten, die rechtliche Grundlage für die Weiterführung des Prozesses zu schaffen und darauf aufbauend durch weitreichende politische Verhandlungen der Lösung den Weg zu ebnen habe.
Außerdem hat sich gezeigt, dass der Prozess allein in zweiseitigen Gesprächen nicht förderlich geführt werden kann. Wessen es bedarf, ist eine dritte unparteiische Gruppe, die den Prozess kritisch begleitet und, wenn es sein muss, zwischen beiden Seiten vermittelt. Die kurdische Seite fordert die Einberufung einer solchen Gruppe vehement ein.
Was sich über dieses Jahr immer wieder gezeigt hat, ist, dass die kurdische Seite ernsthaft an einer friedlichen und demokratischen Lösung interessiert ist. Dies hat sie in diesem Zeitraum gleich mehrfach unter Beweis gestellt. Ihre Haltung zum Prozess lautet deshalb: Ja zu einer friedlichen und demokratischen Lösung und Nein zu Hinhaltetaktiken und fehlender Ernsthaftigkeit.
Korruptionsaffäre in der Türkei: eine AKP-Gülen-Koproduktion
Während der Lösungsprozess anhält, hat seit dem 17. Dezember ein anderes politisches Thema die Schlagzeilen der Türkei besetzt: der Machtkampf zwischen der AKP und der Gülen-Gemeinde. Eigentlich begannen die Auseinandersetzungen zwischen beiden Gruppen bereits früher. Am 17. Dezember haben sie allerdings ein höheres Niveau erreicht, als Gülen-nahe Polizisten und Staatsanwälte eine Operation wegen einer Korruptionsaffäre in regierungsnahen Kreisen initiierten. Von der Operation betroffen waren selbst Kinder von Ministern der AKP-Regierung. Zuvor waren AKP und Gülen lange Zeit Bündnispartner gewesen. Die ausgebrochenen Auseinandersetzungen zwischen ihnen tragen den Charakter eines Machtkampfes.
Das bedeutet nicht, dass es keine Korruption in der Türkei gibt. Sicherlich gibt es die und die AKP steckt da höchstwahrscheinlich auch knietief mit drin. Allerdings gab es diese Korruption auch schon vor dem 17. Dezember und die Mitglieder der Gülen-Gemeinde hatten davon auch zuvor schon Kenntnis. Damals waren sie allerdings Bündnispartner und deshalb wurde das Thema gemeinschaftlich verschwiegen. Als das Bündnis dann auseinanderbrach, kam auch die schmutzige Wäsche zum Vorschein.
Aus unserer Sicht gibt es weder auf Seiten der AKP noch auf Seiten der Gülen-Gemeinde etwas zu verteidigen. Bei den Auseinandersetzungen zwischen beiden Parteien handelt es sich nicht um einen Kampf für Demokratie oder Rechtschaffenheit. Es ist ein gnadenloser Machtkampf, der zwischen ihnen ausgebrochen ist. Keine der Parteien ist demokratisch gesinnt. Ihre Vergangenheit stellt das offen zur Schau. Wenn sie nicht dazu gezwungen werden, machen sie auch keine Schritte in Richtung Demokratie. Deswegen haben wir aus Sicht der Kurden auch keinen Drang, uns hinter eine der beiden Seiten zu stellen. Wir haben unsere eigene Tagesordnung und diese lautet: die demokratische Lösung der kurdischen Frage und die Demokratisierung der Türkei mit den Demokratiekräften des Landes. Klar, wir führen Gespräche und Verhandlungen mit der AKP. Das bedeutet aber nicht, dass wir in einem Bündnis mit ihr stehen. Nun stehen die Kommunalwahlen an und unsere größte Konkurrentin ist dabei die AKP. Unser politischer Kampf mit der AKP hält also an und das wird er auch in Zukunft.
In Rojava ist der dritte Weg erfolgreich
In dieser Phase gab es in Rojava, also in den kurdischen Siedlungsgebieten Syriens, wichtige Entwicklungen. Die Aufstände und Auseinandersetzungen in Syrien kommen in ihr drittes Jahr. Die Kurden haben in diesem Konflikt von Anfang an die Position einer dritten Partei eingenommen. Man kann zu Recht die Frage stellen, weshalb. Der Grund ist folgender: Das Baath-Regime hat die kurdische Bevölkerung seit Jahrzehnten unterdrückt, verleugnet und einer Assimilationspolitik unterworfen. Der Widerstand richtet sich deshalb gegen das Regime. Doch die Opposition hat gegenüber den Kurden auch denselben Weg der Verleugnung eingeschlagen. Aus diesem Grund war es auch offensichtlich, dass mit einer solchen Opposition keine gemeinsame Position gefunden werden konnte. Die Kurden haben sich von Anfang an an diesem Aufstand beteiligt. Ihre Politik bestand darin, ihre Siedlungsgebiete zu befreien, zu verteidigen und ihre Rechte zu erringen. Sie haben versucht, sich weitestgehend von den bewaffneten Auseinandersetzungen fernzuhalten. Dennoch kam es von Zeit zu Zeit zu Konfrontationen – mal mit den Regimekräften, mal mit den Oppositionskräften.
Zum großen Angriff auf die Kurden riefen am 16. Juli 2013 die islamistischen Al-Qaida-Gruppen in Syrien (Islamischer Staat in Irak und Levante, Al-Nusra-Front). Seither kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen diesen und weiteren islamistischen Gruppen auf der einen und den Kurden auf der anderen Seite. Es stellt sich auch hier die Frage, weshalb die Islamisten nicht gegen die Regimekräfte, sondern gegen die Kurden in den Krieg ziehen und so viele Verluste in Kauf nehmen.
Es ist bekannt, dass vor den Volksaufständen in Syrien die Beziehungen zwischen dem Baath-Regime und der Türkei äußerst eng waren. Erdoğan und Assad trafen sich gemeinsam mit ihren Familien, gingen sogar an den Stränden der Türkei gemeinsam in Urlaub. Damals bildeten beide Regime eine antikurdische Koalition. Dass das Regime in Damaskus auch damals diktatorisch war und seine eigene Bevölkerung folterte und unterdrückte, interessierte Erdoğan nicht. Als dann die Aufstände begannen, spekulierte die AKP-Regierung genauso wie viele andere Regierungen dieser Welt darauf, dass Assad bald gestürzt werden würde. »Assad wird gestürzt – seine Nachfolger sollen gute Beziehungen zu uns haben« – das war die Logik, mit der die Verantwortlichen in Ankara handelten. Und natürlich gab es da auch die Angst vor den Kurden. So bemühte sich die AKP mit allen Mitteln darum, dass für die Kurden in Syrien nicht so etwas wie im Irak entsteht. »Im Irak haben wir falsch gehandelt und die Kurden haben einen Status erlangt. Derselbe Fehler soll uns in Syrien nicht unterlaufen«, dachten sich die Verantwortlichen. Deshalb haben sie sofort die Oppositionellen aus Syrien in Istanbul zusammengetrommelt und ihnen jegliche Unterstützung zugesagt. Gleichzeitig haben sie auch die antikurdische Haltung der syrischen Opposition geformt.
Die Türkei unterstützt Al-Qaida
Natürlich sind die Dinge dann nicht so gelaufen, wie sie es sich gewünscht hatten. Das Assad-Regime hat sich halten können und die Auseinandersetzungen zogen sich in die Länge. In der Zwischenzeit fingen die Kurden an, ihre Gebiete in Rojava zu befreien, was für Panik in Ankara sorgte. Daraufhin begann die türkische Regierung damit, die bewaffnete syrische Opposition noch umfangreicher zu unterstützen – darunter auch die Al-Qaida-Anhänger. Sie hat ihre Grenzen für diese Gruppen geöffnet. Dschihadisten aus aller Welt sammelten sich in der Türkei und drangen über die Grenze nach Syrien ein. Hierfür haben sie Waffen, logistische Unterstützung und Lager von der Türkei erhalten. Im Gegenzug starteten die Gruppen dann Angriffe auf die Kurden in Syrien. Internationale Beobachter bestätigen, hinter den Angriffen der Al-Qaida-Gruppen in Rojava, die am 16. Juli begannen, steckt die Türkei. So lag beispielsweise beim Angriff auf Serê Kaniyê (Ras al-Ain) der Stützpunkt der Islamisten auf der türkischen Seite der Grenze. Die verletzten islamistischen Kämpfer wurden beispielsweise in der Türkei behandelt.
Auch wenn die offiziellen Stimmen aus der Türkei solch eine Unterstützung stets geleugnet haben, beweisen uns die anhaltenden Angriffe die Zusammenarbeit zwischen Ankara und den bewaffneten Gruppen. Die Türkei hält alle Grenzübergänge geschlossen, die auf der anderen Seite von Kurden kontrolliert werden. In Nisêbîn (Nusaybin) gegenüber von Qamişlo (Al-Qamishli) wurde gar eine Grenzmauer errichtet. Die Grenzübergänge zu den von der Al-Qaida oder anderen islamistischen Gruppen besetzten Gebieten sind hingegen offen. Die Türkei hält an dieser Haltung fest. Als vor ein paar Wochen aufgrund der Differenzen zwischen der AKP und Gülen ein mit Waffen beladener LKW auf dem Weg nach Syrien durchsucht wurde, ist der Öffentlichkeit abermals die Zusammenarbeit mit den Islamisten vor Augen geführt worden.
Als dann herauskam, dass der LKW dem türkischen Geheimdienst MIT gehörte, und das Büro des Ministerpräsidenten und der örtliche Gouverneur sich einschalteten, verließ der Staatsanwalt schleunigst den Ort des Geschehens. Es habe dort keine Garantie mehr für die Unversehrtheit seiner Person gegeben, gab er später an. Nach dem Vorfall wurde dann nicht nur der Staatsanwalt strafversetzt, sondern auch der Kommandant der Gendarmerie, der die Inspektion des LKWs durchführen ließ, sowie die Polizisten, die den Staatsanwalt vor Ort schützen sollten. Infolge dieser Meldung diskutierten die internationalen Medien auf der einen Seite die türkische Unterstützung für islamistische Gruppen in Syrien, und auf der anderen Seite bestätigten in verschiedenen Meldungen die Islamisten selbst diese Unterstützung.
Die türkische Grenze ist der Korridor der Islamisten
Die britische Tageszeitung »The Times« berichtete, dass für islamistische Kämpfer in Syrien vermeintliche Hilfsorganisationen als Vermittler fungierten. Diese Organisationen seien eigentlich Tarnorganisationen der Islamisten. In der Nachricht heißt es: »Im vergangenen Juni sind im Norden des Gebietes Azaz am Grenzübergang Bab Al-Salama mehr als zwanzig Menschen mit Westen einer bekannten lokalen Hilfsorganisation bekleidet in einem Bus über die türkische Grenze eingereist. Sie wurden vor den anderen Menschen, die warteten, von den türkischen Offiziellen über die Grenze gelassen. Sobald sie syrischen Boden unter den Füßen hatten, haben sie ihre Westen ausgezogen und ›Takbir‹1 gerufen.« Aus dem Artikel geht außerdem hervor, dass westliche Geheimdienste die Rolle von Hilfsorganisationen, die als Tarnorganisationen für Islamisten dienen, entlarvt hätten. Die Islamisten würden mit Billigfluglinien nach Adana, Antakya und Dîlok (Antep) fliegen, um von dort aus mit Hilfe der islamischen Hilfsorganisationen nach Syrien einzureisen. Der CHP-Vorsitzende der türkischen Grenzprovinz Hatay, Servet Mullaoğlu, erklärte gegenüber der Zeitung: »Die Regierung der Türkei sorgt für die finanzielle Unterstützung, die Unterkunft und den reibungslosen Grenzübertritt der Islamisten.«
Hunderte LKWs aus der Türkei in den letzten drei Jahren nach Syrien
Im Zuge der Diskussionen, die um den mit Waffen beladenen LKW losbrachen, äußerte sich der Kolumnist Abdülkadir Selvi in der regierungsnahen Tageszeitung Yeni Şafak am 22. Januar: »Weshalb deckt ein Staat seine eigenen Operationen auf? Haben sie etwas mit Genf II zu tun? Wir haben nach Antworten auf diese Fragen gesucht. Im April 2011 haben MIT, Generalstab und Außenministerium in der Syrienfrage eine gemeinsame Arbeit durchgeführt. Dabei wurde beschlossen, innerhalb Syriens gewisse Zonen einzurichten, in denen den Flüchtlingen geholfen werde. So sollten die Flüchtlingsströme in die Türkei unterbunden werden. Im Rahmen dessen sind seit April 2011 hunderte LKWs aus der Türkei nach Syrien gekommen, 200 Mio. Dollar wurden aufgewendet. Die Frage, die sich uns stellt, ist, weshalb es vor den Operationen des 17. Dezembers keine Probleme mit den LKWs gab und weshalb die Probleme jetzt auftreten. Was ich jetzt sage, ist keine Frage, sondern meine Befürchtung: Wenn die Türkei nicht ihr nah gesinnte Gruppen in Syrien weiter unterstützt und so ihre Vorkehrungen trifft, könnte es sein, dass in zwei Jahren unser Militär gezwungen sein wird, in Syrien einzumarschieren.« Wenn diese Aussagen kein Eingeständnis sind ...
Doch trotz der Angriffe, trotz aller Bedrohungen und trotz des Embargos verteidigen die Kurden erfolgreich ihre Gebiete und schaffen aus eigener Kraft ihre Selbstverwaltungsstrukturen. Eine Menge internationaler Journalisten bestätigt, dass Rojava derzeit das sicherste und ruhigste Gebiet in Syrien ist. Zuletzt hat die Bevölkerung Rojavas die autonome Verwaltung in ihren drei Kantonen ausgerufen. Und diese Verwaltung besteht nicht allein aus den dort lebenden Kurdinnen und Kurden, die örtlichen Araber, Suryoyo und Armenier nehmen da ebenfalls ihren Platz ein. Dasselbe gilt auch für die Vertreter der verschiedenen Religionsgruppen in Rojava, die Frauenorganisationen und unabhängige Persönlichkeiten. Die gesamte Vielfalt der in Rojava lebenden Gesellschaft nimmt auf der Basis des demokratischen Gesellschaftsvertrags ihren Platz in den demokratisch-autonomen Kantonen ein.
Ohne Beteiligung der Kurden und der demokratischen Opposition keine Lösung bei Genf II
Wenn wir von der Situation in Syrien sprechen, müssen wir auch einige Worte zu der unter UN-Schirmherrschaft am 22. Januar im schweizerischen Montreux begonnenen Genf-II-Konferenz sagen. An ihr nahmen eine Delegation des syrischen Regimes und einige oppositionelle Gruppen teil. Allerdings wurden aufgrund des Drucks der Türkei die Vertreter aus Rojava nicht zu den Gesprächen eingeladen. Ich wiederhole an dieser Stelle eine Feststellung, die bereits von anderer Seite zahlreich geäußert worden ist: Es fällt äußerst schwer anzunehmen, dass ohne die Einladung der Vertreter der Kurden und der Vertreter der Nationalen Koordination für einen demokratischen Wandel (Heyet El-Tensîq) irgendeine Lösung auf solch einer Konferenz gefunden werden kann.
Ziel der Genfer Konferenz war es, eine Übergangsregierung auf die Beine zu stellen. Aber die Parteien, die an den Gesprächen teilnahmen, hatten überhaupt nicht die Kraft dazu, eine solche Regierung ins Leben zu rufen. Zudem akzeptieren Teile der bewaffneten Opposition und die Islamisten überhaupt nicht die Vertreter der politischen Opposition. Deswegen hätten die bewaffneten Auseinandersetzungen vermutlich selbst dann kein Ende genommen, wenn es gar zu einer Übereinkunft in Montreux/Genf gekommen wäre. Nach dem, was uns über die Medien erreicht hat, gab es keinen wirklichen Lösungswillen auf der Konferenz. In Syrien wird ein komplexer Krieg geführt. Selbst die regionalen und internationalen Mächte haben längst die Kontrolle über diesen Krieg verloren. Deshalb haben sie mit dieser Konferenz in der Schweiz lediglich versucht, wieder die Kontrolle zu gewinnen. Allerdings scheint mit Genf II nichts Handfestes erreicht worden zu sein. Die Konferenz kann als Fiasko bewertet werden. Über die Situation der Kurden wurde kein Wort verloren. Über diejenigen Kurden hingegen, die in den Reihen der Opposition an der Konferenz teilgenommen haben, versuchte die Opposition, die Errungenschaften in Rojava für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Solange die Syrische Nationalkoalition ihre Haltung und ihre Politik gegenüber den Kurden nicht ändert, wird sie keine Bedeutung für die Kurden haben.
Was für ein Syrien?
Nun mag sich bei all diesen Entwicklungen die Frage stellen, was in nächster Zeit für Syrien angestrebt werden sollte. Ich versuche nun die kurdische Sicht zu schildern: Zunächst müssen alle bewaffneten Auseinandersetzungen gestoppt und alle politischen Gefangenen freigelassen werden. Wenn sich der Notstand beruhigt hat, müssen die Bedingungen für die Rückkehr aller Flüchtlinge geschaffen werden. Anschließend sollten aus ausnahmslos allen relevanten Teilen der Gesellschaft eine provisorische Regierung und ein Parlament einberufen werden. Diese sollten eine vorläufige Verfassung verabschieden. In Syrien müssen gemeinsam mit den Kurden alle Volksgruppen verfassungsrechtlich anerkannt werden. Ein auf Damaskus zentriertes Syrien ist von nun an nicht mehr möglich. Syrien braucht von nun an ein föderales System, das alle Volks- und Religionsgruppen berücksichtigt.
Die Vorboten eines solchen Syriens sehen wir derzeit im Norden des Landes, in Rojava. Die Forderungen nach einem demokratischen Syrien sehen wir derzeit dort umgesetzt. Es entwickelt sich ein pluralistisches und partizipatorisches System, das so ziemlich das Gegenteil des Baath-Regimes darstellt. Wenn dieses System anerkannt wird, wird das die Forderungen nach Demokratie im gesamten Syrien stärken. Und es wird einen wichtigen Beitrag zur Suche nach Frieden und Demokratie im gesamten Mittleren Osten leisten.
1 »Allahu akbar sagen« (http://de.wikipedia.org/wiki/Takb%C4%ABr)
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